Language: German
14.4.1927 (Thursday)
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 14.4.1927
Minutes of the Federal Council (PVCF)
Das EVD erstattet Bericht über das vorläufig unbe friedigende Ergebnis der Verhandlungen mit Italien. Das Departement wird ermächtigt, die Verhandlungen über die Auslegung und Anwendung des schweizerisch-italienischen Handelsvertrages weiterzuführen.

Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
12. Italien
12.5. Handelsbeziehungen
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Printed in

Walter Hofer, Beatrix Mesmer (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 297

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Bern 1980

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dodis.ch/45314
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 14. April 19271

633. Handelsvertrag mit Italien

I.

Am 12. März. 1927 erstattete das Volkswirtschaftsdepartement Bericht2 über das vorläufige Ergebnis der Besprechungen, die im Februar/März die Herren Direktor Stucki, Chef der Handelsabteilung des Volkswirtschaftsdepartementes, und der Oberzolldirektor Gassmann in Rom mit Vertretern der italienischen Regierung hatten.

Der Zweck dieser Besprechungen war vor allem, einerseits, fur eine grössere Anzahl Anstände und Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung und Anwendung des schweizerisch-italienischen Handelsvertrages und des italienischen Zolltarifs eine befriedigende Lösung zu finden, anderseits, zu sondieren, ob und unter welchen Bedingungen Italien geneigt wäre, auf einige schweizerische Wünsche um Entlassung aus der vertraglichen Bindung gewisser schweizerischer Zölle ohne Kündigung einzugehen.

In bezug auf die Anstände und Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung des Handelsvertrages und des italienischen Tarifs wurde für eine Reihe von Einzelfällen eine Verständigung erzielt, die allerdings erst im Rahmen der Erledigung aller hängigen Fragen wirksam werden wird. Einige wichtige Streitpunkte harren allerdings noch der Erledigung. Immerhin konnte seit der Besprechung ein nicht unwesentlicher Fortschritt verwirklicht werden, indem unter Mitwirkung italienischer und schweizerischer Zollorgane sowie von Vertretern der Spediteure die zugestandene Untersuchung der Verhältnisse im Zollamt Chiasso vorgenommen wurde, die ohne Zweifel gute Früchte zeitigen wird.

Was die Wünsche um Entlassung aus den handelsvertraglichen Bindungen der schweizerischen Zölle für Automobile, Gemüsekonserven und Erbsen, Kunstseide und Butter betrifft, so hat Italien eine Diskussion über die Automobilzölle, im Zusammenhang mit einer italienischen Gegenforderung um Freigabe der Zölle für die Automobilmotoren, als möglich bezeichnet. Dagegen wurde italienischerseits strikte erklärt, dass auf Gesuche für die ändern genannten Erzeugnisse nicht eingegangen werden könne.

II.

Für die Weiterführung der Verhandlungen bestehen folgende drei Möglichkeiten:

a) Die Schweiz kündigt den Handelsvertrag. In diesem Falle müssten sofort Verhandlungen über einen neuen Vertrag auf breitester Grundlage aufgenommen werden;

b) die Abänderung des Vertrages wird auf eine kleine Anzahl gegenseitiger Tarifbegehren beschränkt;

c) der Vertrag bleibt bestehen mit Ausnahme der Änderung der Position Automobile auf schweizerischer Seite und der Position Automobilmotoren auf italienischer Seite, wobei allerdings eine bedeutendere Erhöhung der schweizerischen Automobilzölle kaum in Frage käme.

Das Volkswirtschaftsdepartement hat die Sachlage, auch im Schosse der Handelsvertragsdelegation eingehend geprüft und ist dabei, in völligem Einvernehmen mit dieser Delegation, zu folgenden Schlüssen gelangt:

a) An eine Kündigung des Handelsvertrages mit Italien ist gegenwärtig, mit Rücksicht auf die bevorstehenden Verhandlungen zwischen der Schweiz und Frankreich, nicht zu denken.

b) Ebenso muss die Frage einer Teilrevision des Vertrages zurzeit ausgeschlossen werden, da auch in diesem Falle eigentliche Unterhandlungen über ein Zusatzabkommen aufgenommen werden müssten, was wegen der Verhandlungen mit Frankreich kaum tunlich wäre. Zudem könnte die Opportunität einer Teilrevision nicht ohne weiteres bejaht werden, da sie angesichts der jetzigen Tendenzen der italienischen Volkswirtschaft sehr leicht weiter führen könnte, als dem Volkswirtschaftsdepartement selbst angenehm wäre.

c) Bleibt die dritte Möglichkeit: Beschränkung der Revision auf die Position Automobile auf schweizerischer und die Position Automobilmotoren auf italienischer Seite. Mit der Handelsvertragsdelegation ist das Volkswirtschaftsdepartement der Ansicht, dass nur dieser Weg zurzeit gangbar sei. Er bietet überdies die grössten Erfolgsaussichten, weil, wie gesagt, die italienische Regierung sich zur Diskussion bereit erklärt hat.

III.

Anlässlich der Besprechungen in Rom wurde versucht, die völlige Entlassung aus der vertraglichen Bindung der Automobilzölle zu erwirken. Italienischerseits lehnte man jedoch ein solches Begehren kategorisch ab, unter Hinweis darauf, dass die Automobilausfuhr einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste, Posten des industriellen Exportes Italiens sei und dass daher seit Jahren keine Tarifverträge mehr abgeschlossen würden, die nicht Sicherungen hinsichtlich der Automobilzölle enthielten. Wenn schon keine neuen Verträge ohne Bindungen eingegangen würden, so könne umsoweniger davon die Rede sein, auf bestehende Bindungen zu verzichten. Die schweizerische Delegation konnte sich dieser Argumentation nicht verschliessen. Sie suchte daher festzustellen, wie sich die italienische Regierung zur Festsetzung eines Einheitszolles von 200 Franken per q für Automobile und Chassis (d.h. die ganze jetzige Position 914) stellen würde. Aber auch mit der Stipulierung eines Einheitsansatzes konnte man sich auf italienischer Seite nicht befreunden. Anhand von Zahlen über die verschiedenen Wagentypen der Fiat, die mehr als 80% der Gesamtausfuhr von AutomobÜen bestreitet, wurde dargelegt, dass durch die Ansetzung eines einheitlichen Zolles die billigeren Automobile prozentual viel stärker belastet würden als die Luxuswagen. [...]

Nach eingehender Prüfung der Verhältnisse mit der Handelsvertragsdelegation und mit Fachleuten kam man allgemein zur Überzeugung, dass prinzipiell der italienische Vorschlag der Staffelung nicht von der Hand gewiesen werden sollte und dass er sich auch ganz wohl mit den Erfordernissen der schweizerischen Zollpraxis vereinbaren lasse, wenn die Unterschiede zwischen den einzelnen Stufen so gehalten werden, dass die Anregung zum Versuch der Zollhinterziehung durch künstliche Verminderung des Gewichts der zur Einfuhrverzollung vorgewiesenen Wagen fehlt. [...]

Der Hauptzweck einer Erhöhung der Automobilzölle, die bessere Erfassung dieser Finanzquelle, würde damit erreicht, dass nach den angestellten Berechnungen, auf der Grundlage der Einfuhr von 1926, die vorstehend angeführten Zölle gegenüber den jetzigen für den Fiskus einen jährlichen Mehrertrag von rund 6 Millionen Franken ergeben dürften. Wenn daneben auch die bestehende schweizerische Automobilindustrie eine kleine Verstärkung des Schutzes gegen die ausländische Konkurrenz erzielen würde und zudem der Wunsch der Bundesbahnen - wie überhaupt der schweizerischen Talbahnen - nach einer Erschwerung der Automobilkonkurrenz in einem allerdings bescheidenen Masse in Erfüllung gehen könnte, so wären dies Begleiterscheinungen der Zollerhöhung, die vom Gesichtspunkte der schweizerischen Gesamtinteressen aus gewiss nicht als unerfreulich bezeichnet werden könnten.

Dabei würde die Heraufsetzung der Zölle in einem durchaus erträglichen Rahmen bleiben. Wenn auch eine genaue Berechnung deshalb ausgeschlossen ist, weil die eingehende Staffelung nach dem Gewicht bis jetzt nicht bestand, so kann doch eine mittlere Belastung von rund 20%, die für viele Automobile zweifelsohne unterschritten würde, als nicht zu weit von der Wirklichkeit abweichend betrachtet werden. Der beste Beweis dafür, dass die Erhöhung nicht als übertrieben bezeichnet werden könnte, liegt übrigens darin, dass trotz der gegenwärtigen Bindung der Zölle italienischerseits als Grundlage für eine weitere Diskussion bereits Ansätze genannt wurden, die hinter den von uns in Aussicht genommenen nicht allzusehr zurück stehen.

Durch eine Vereinbarung mit Italien im vorgesehenen Sinne würde die endgültige Stellungnahme des Bundesrates abgesehen von der Maximalhöhe der neuen Ansätze in keiner Weise präjudiziert. Die Abmachungen mit Italien würden der Schweiz lediglich das Recht verleihen, mit einer Erhöhung bis zu den vereinbarten Zöllen zu gehen. Es bliebe somit durchaus dem Bundesrat Vorbehalten, zu bestimmen, ob diese Höchstansätze in den Gebrauchstarif hinübergenommen werden oder ob Zölle, die zwischen diesen Maxima und den jetzigen Ansätzen liegen, zur Anwendung gelangen sollten.

IV.

Was die italienische Gegenforderung anbetrifft, so dürfte ihr, falls hinsichtlich der schweizerischen Automobilzölle eine befriedigende Zusage erhältlich ist, ohne viel Bedenken entsprochen werden können. Italien verlangt die Entlassung aus der Zollbindung für die Automobilmotoren, die im Vertrage nicht namentlich aufgeführt sind, aber unter die gebundene Position der Verbrennungsmotoren im allgemeinen (italienische Tarifnummer 396a 2) fallen. Allenfalls könnte sich Italien auch mit einer Aufhebung der Bindung nur für die Tourenwagenmotoren begnügen. Da ein wesentliches schweizerisches Fabrikationsinteresse für diese Motoren nicht besteht, wird es möglich sein, Italien in diesem Punkte zu entsprechen, falls es zu einer Verständigung über die schweizerischen Automobilzölle kommt.

V.

Sollte die Delegation ermächtigt werden, auf der vorliegend skizzierten Grundlage mit Italien weiter zu unterhandeln, so würde sie natürlich dem letzten italienischen Angebot Forderungen gegenüber stellen, die 20 Franken über dem liegen, was sie endgültig zu erreichen wünscht.

Wird das Programm der Verhandlungen mit Italien dahin beschränkt, dass einerseits die Freigabe der Bindung der Automobilmotorenzölle mit der italienischen Zustimmung zu einer Erhöhung der schweizerischen Automobilzölle kompensiert werden soll und anderseits die in frühem Berichten ausführlich erwähnten Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten betreffend die Anwendung des Handelsvertrages und des italienischen Zolltarifs in bestmöglicher Weise beseitigt werden sollen, so dürfte es genügen, die Besprechungen einstweilen durch unsere Gesandtschaft in Rom weiterführen zu lassen.

Gemäss dem Wunsche der Italienischen Regierung, und auch im Interesse der Verhandlungen selbst, sind Mitteilungen an die Öffentlichkeit über die in Frage stehenden Besprechungen auch weiterhin noch zu unterlassen3.

Antragsgemäss wird beschlossen:

1. Vom vorstehenden Bericht wird in zustimmendem Sinne Kenntnis genommen.

2. Das Volkswirtschaftsdepartement wird ermächtigt, die Unterhandlungen mit der italienischen Regierung über die Einzelfälle von Schwierigkeiten im Handelsverkehr zwischen der Schweiz und Italien im allgemeinen und in der Auslegung und Anwendung des schweizerisch-italienischen Handelsvertrages im besondern, weiterzuführen4.

[...]

1
E 1004 1/303. Abwesend: Häberlin.
2
E 2001 (C) 3/15.
3
Am 4.2.1927 hatte der Direktor der Handelsabteilung, Stucki, dem Vorort mitgeteilt, Italien wünsche nicht andere Staaten, wie z.B. Deutschland, über die Besprechungen mit der Schweiz zu unterrichten (E 7110 1/80).
4
Am 24.9.1927 wurde ein Verhandlungsprotokoll unterzeichnet. In: AS 1927, NF 43, S. 479 ff. – Vgl. auch Nr. 353. In seiner Sitzung vom 10.6.1929 genehmigte der Bundesrat das Zusatzprotokoll vom 31.5.1929 zum Handelsvertrag mit Italien, worin die italienische Regierung auf die Bindung des schweizerischen Zolls für frische Butter verzichtet (E 1004 1/316, Nr. 1073). Text des Protokolls in: AS 1929, NF 45, S. 286. Vgl. dazu Nr. 483.