Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
25. Tschechoslowakei
25.1. Handelsvertragsverhandlungen
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 9, Dok. 224
volume linkBern 1980
Mehr… |▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
Signatur | CH-BAR#E1004.1#1000/9#12191* | |
Dossiertitel | Beschlussprotokoll(-e) 09.10.-09.10.1926 (1926–1926) |
dodis.ch/45241
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 9. Oktober 19261
1614. Handelsvertragsunterhandlungen mit der Tschechoslowakei
[...]
Am 24. Februar 1926 wurden die Verhandlungen in Bern wieder aufgenommen. Im Gegensatz zu den völlig ungenügenden frühem Angeboten anlässlich der Verhandlungen im Dezember 19252 enthielten die neuen Erklärungen der tschechoslowakischen Delegation allerdings eine Reihe Zugeständnisse, welche die Möglichkeit einer Annäherung an die schweizerischen Forderungen nicht von vorneherein gänzlich ausschlossen. Doch waren sie in der Mehrzahl nicht derart, dass sie den schweizerischen Unterhändlern als genügende Grundlage erschienen, um gestützt darauf die Verhandlungen in der bisherigen Weise weiterzuführen. Um endlich einmal einen Schritt vorwärts zu kommen, wurden aus der schweizerischen Liste diejenigen Begehren herausgegriffen, die als Hauptforderungen angesehen werden mussten. Sie betrafen die meisten unserer wichtigsten Exportartikel, wie Schokolade, einzelne Baumwollgarnnummern, Baumwollgewebe, Plattstich- und Kettenstichstickereien, Seidenkreppe, Ganzseidengewebe, Dampfturbinen, Spinnmaschinen, Seidenwebstühle, Dynamomaschinen, Mess- und Zählapparate, Uhren und Teerfarbstoffe. Man war sich darüber einig, dass hier seitens der Tschechoslowakei wesentlich andere Zugeständnisse gemacht werden müssten, wenn ein Vertrag überhaupt zustande kommen sollte. Gestützt auf einen entsprechenden Beschluss des Bundesrates wurde darauf den tschechoslowakischen Unterhändlern die Erklärung abgegeben, hier handle es sich um unsere Hauptforderungen; nur wenn bei diesen namhafte weitere Reduktionen zugestanden würden, sei die Schweiz bereit, auf die Anwendung ihres provisorischen Zolltarifs vom 5. November 19253 der Tschechoslowakei gegenüber zu verzichten.
Nach Übergabe dieses Ultimatums fanden zwar noch einige Sitzungen statt. Zu irgendwelchen positiven Resultaten ist man aber nicht gelangt. Auf Wunsch der Gegenpartei wurde von schweizerischer Seite bei den bezeichneten Hauptforderungen noch zahlenmässig angegeben, was man unter wesentlichen Zugeständnissen verstehe. Eine definitive Antwort war aber von der tschechoslowakischen Delegation nicht erhältlich. Sie beschränkte sich auf einige Angaben, wo ihrer Ansicht nach eventuell noch gewisse Zugeständnisse gemacht werden könnten, und erklärte, angesichts der neuen Sachlage mit ihrer Regierung Rücksprache nehmen und die Angelegenheit nochmals eingehend prüfen zu müssen. Es wurde darauf vereinbart, die Verhandlungen zu unterbrechen und in einem spätem Zeitpunkt wieder aufzunehmen.
Anfangs Mai reiste die schweizerische Handelsvertragsdelegation von Berlin aus, wo sie mit Deutschland über den Abschluss eines schweizerisch-deutschen Handelsvertrages unterhandelt hatte, nach Prag zur Entgegennahme der neuen tschechoslowakischen Erklärungen. Leider lauteten diese wiederum gänzlich unbefriedigend. Wohl wurden einige wenige neue Zugeständnisse gemacht, doch waren diese bei weitem nicht derart, dass sie als einigermassen genügendes Entgegenkommen der Schweiz gegenüber angesehen werden konnten. Gleichwohl wurde in Aussicht genommen, die Verhandlungen, die damals entsprechend den beidseitigen Dispositionen nur kurze Zeit dauerten, so bald wie möglich wieder fortzusetzen4. Infolge starker Inanspruchnahme der beiden Delegationen durch Handelsvertragsverhandlungen mit ändern Staaten kam es jedoch diesen Sommer nicht mehr dazu.
Bereits Anfangs Juli ds. Js., also noch vor Abschluss der schweizerisch-deutschen Handelsvertragsverhandlungen, setzte das Volkswirtschaftsdepartement die tschechoslowakische Regierung durch die hiesige tschechoslowakische Gesandtschaft davon in Kenntnis, dass man schweizerischerseits die Verhandlungen ungefähr um den 20. September herum wieder aufnehmen möchte. Da eine Antwort von tschechoslowakischer Seite ausblieb, wurde der Wunsch in der Folge mehrmals wiederholt. Unsere Bemühungen blieben jedoch erfolglos. In einer Note vom 21. September5 teilte die tschechoslowakische Gesandtschaft dem Volkswirtschaftsdepartement die ablehnende Antwort des tschechoslowakischen Aussenministeriums mit. Es wurde darin erklärt, dass es der Tschechoslowakei mit Rücksicht auf die gegenwärtig gepflegten Handelsvertragsverhandlungen mit Ungarn und die demnächst beginnenden Verhandlungen mit Deutschland nicht möglich sei, zu dem von der Schweiz bezeichneten Termin in den tschechoslowakisch-schweizerischen Verhandlungen fortzufahren. Sobald die weitere Entwicklung der Verhandlungen mit Ungarn und die allgemeine Situation es zuliessen, werde man aber einen Vorschlag betreffend Fortsetzung des genauen Zeitpunkts für die Verhandlungen mit der Schweiz unterbreiten.
Das Volkswirtschaftsdepartement hat diese Antwort den schweizerischen Unterhändlern mitgeteilt und darauf die ganze Angelegenheit im Schosse der Delegation zur Sprache gebracht. Man war sich darüber einig, dass von tschechoslowakischer Seite neuerdings eine Verschleppung der Verhandlungen versucht werde. Nachdem schon im Juli der tschechoslowakischen Regierung mitgeteilt worden war, dass man in der zweiten Hälfte September die Verhandlungen wieder aufzunehmen wünsche, hatte man in Prag zweifellos genügend Zeit, um sich entsprechend einzurichten. Eine kleine Verzögerung wäre schliesslich noch zu verstehen und zu ertragen gewesen. Eine Hinausschiebung auf unbestimmte Zeit kann sich die Schweiz dagegen nicht mehr gefallen lassen. Die Entwicklung unseres Handelsverkehrs mit der Tschechoslowakei zeigt auch weiterhin ein ungünstiges Bild, wie aus nachstehenden Zahlen hervorgeht:
[...]6
Eine Weiterdauer dieses Missverhältnisses ist für die Schweiz nicht mehr länger tragbar. Nachdem nun schon vor bald I1/2 Jahren die ersten Schritte zu einer Neuregelung der gegenseitigen Handelsbeziehungen unternommen worden sind, kann sich die Schweiz mit einer weitern Verschleppung und damit einer Fortdauer des gegenwärtigen für sie unbefriedigenden Zustandes nicht mehr abfinden.
Das Volkswirtschaftsdepartement und die schweizerischen Unterhändler sind daher der Meinung, dass nun der Augenblick gekommen sein dürfte, um die schon mehrmals angedrohten handelspolitischen Mittel zur Anwendung zu bringen, die der Schweiz zur Verfügung stehen. Sie halten dafür, dass der bestehende Meistbegünstigungsvertrag mit der Tschechoslowakei auf Ende des Jahres gekündet und gleichzeitig der provisorische Zolltarif vom 5. November in Kraft gesetzt werden sollen. Da dies praktisch zur Folge hätte, dass vom 1. Januar 1927 an für tschechoslowakische Waren, vor allem für Zucker, Malz, Hopfen, Bier und Glas, bei der Einfuhr in die Schweiz eine differentielle Behandlung zur Anwendung gelangen würde, so wird die genannte Massnahme ihren Eindruck auf die tschechoslowakische Regierung kaum verfehlen. Angesichts der überaus starken tschechoslowakischen Ausfuhr nach der Schweiz - unser Land nimmt unter den Absatzländern der Tschechoslowakei den 8. Rang ein - hat die tschechoslowakische Regierung wohl alles Interesse daran, es nicht zu einer solchen Differenzierung kommen zu lassen. Es ist daher anzunehmen, dass sie einer baldigen Wiederaufnahme der Verhandlungen keine Hindernisse mehr entgegensetzen und auch hinsichtlich der Konzessionen an die Schweiz grösseres Entgegenkommen als bisher zeigen wird.
Das Volkswirtschaftsdepartement und die schweizerischen Unterhändler sind überzeugt, dass man nur auf diesem Wege vorwärts kommen wird. Ohne die erwähnte Massnahme wird es nach den bisherigen Erfahrungen wohl kaum gelingen, mit der tschechoslowakischen Regierung eine baldige und auch für die Schweiz befriedigende Neuregelung zu Stande zu bringen. Wenn aber die Gegenseite einmal sieht, dass die wiederholten schweizerischen Erklärungen über den Zweck und die Bedeutung des provisorischen Zolltarifs nicht bloss leere Drohungen waren, sondern dass die Schweiz bereits die nötigen Schritte unternommen hat, um die betreffenden Massnahmen auch zur Anwendung zu bringen, so dürften die nötigen Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Vertrages eher geschaffen sein.
Nachteilige Folgen für die Schweiz wird die Kündigung des Vertrages mit der Tschechoslowakei kaum haben. Allerdings würden mit dem Ausserkrafttreten des Vertrages für die schweizerischen Waren bei ihrer Einfuhr in die Tschechoslowakei dann alle Vergünstigungen, die sie gegenwärtig auf Grund des Meistbegünstigungsrechts gemessen, in Wegfall kommen und an deren Stelle die autonomen tschechoslowakischen Zölle zur Anwendung gelangen. Da aber der schweizerische Export nach der Tschechoslowakei, wie bereits ausgeführt, ganz erheblich geringer ist als die tschechoslowakische Einfuhr in die Schweiz, so würde letztere eben ungleich härter betroffen als die schweizerische Ausfuhr. Angesichts der schweren Wirtschaftskrisis in der Tschechoslowakei wird man es dort kaum darauf ankommen lassen wollen, auch noch den schweizerischen Absatzmarkt zu verlieren. Denn eine differentielle Behandlung der tschechoslowakischen Waren durch die Schweiz müsste praktisch wohl dazu führen, dass die wichtigsten tschechoslowakischen Exportartikel, wie Zucker, Malz, Hopfen, Bier und Glas, dann überhaupt nicht mehr nach der Schweiz verkauft werden könnten, da diese Produkte infolge des höhern Zolles eben von anderswo eingeführt würden. Die Schweiz ist keineswegs gezwungen, diese Waren aus der Tschechoslowakei zu beziehen, sondern kann sie auch aus ändern Ländern importieren. Nicht gleich verhält es sich dagegen mit der schweizerischen Ausfuhr nach der Tschechoslowakei. Einmal beträgt dieselbe nur einen kleinen Bruchteil der schweizerischen Gesamtausfuhr. Im Jahre 1925 machte sie nur 1,9% aus. Ein allfalliger Rückgang wäre daher kaum besonders empfindlich. Dazu kommt, dass nach der Tschechoslowakei hauptsächlich die typischen schweizerischen Exportartikel, wie Schweizer Käse, Schweizer Schokolade, Seide, Spezialmaschinen und Uhren, Instrumente und Apparate, geliefert werden. Da diese Waren schon bisher, wohl ausschliesslich ihrer besondern Eigenschaften wegen, trotz der hohen tschechoslowakischen Zölle in die Tschechoslowakei Eingang fanden, so würden wahrscheinlich auch die noch höhern autonomen tschechoslowakischen Zölle die Einfuhr hier kaum wesentlich beeinflussen.
Jedenfalls bildet die Möglichkeit eines allfälligen Rückganges der schweizerischen Ausfuhr nach der Tschechoslowakei keinen genügenden Grund, um von der in Aussicht genommenen Massnahme Abstand zu nehmen. Das Risiko, das, wie ohne weiteres zugegeben werden soll, nach dieser Richtung hin bis zu einem gewissen Grade besteht, wird nach der Auffassung des Departements wie auch der Unterhändler reichlich aufgewogen durch die grossen Vorteile, die eine Kündigung des bisherigen Vertrages im gegenwärtigen Moment verspricht. Das Volkswirtschaftsdepartement ist daher mit den schweizerischen Unterhändlern von der Zweckmässigkeit eines solchen Vorgehens überzeugt.
Antragsgemäss wird beschlossen:
1. Von vorstehenden Ausführungen wird in zustimmendem Sinne Kenntnis genommen.
2. Das Volkswirtschaftsdepartement wird ermächtigt, den heute noch zu Recht bestehenden Handelsvertrag mit der Tschechoslowakei auf den 31. Dezember 1926 zu kündigen7.
- 2
- Vgl. Nr. 135.↩
- 3
- Vgl. dazu Nr. 112.↩
- 4
- Im Verlaufe der Verhandlungen schlug die tschechoslowakische Delegation unter anderem die Aufnahme von Bestimmungen über die Niederlassung in den Text des Handelsvertrages vor. Die schweizerische Delegation lehnte dies unter dem Hinweis, diese gehörten in einen Spezialvertrag, ab, wie aus einem Schreiben der Handelsabteilung an die Abteilung für Auswärtiges vom 10.11.1926 hervorgeht (E 2001 (C) 3/18). Das Justiz- und Polizeidepartement äusserte sich in diesem Zusammenhang in seiner Stellungnahme zuhanden des Volkswirtschaftsdepartementes vom 18.11.1926 wie folgt: [...]bWir wären entschieden nicht dafür, dass die Sache nun an diesem handelsvertraglichen Ende [...] angefasst würde. Normalerweise sollten Handelsvertrag und Niederlassungsvertrag reinlich getrennte Typen sein und bleiben und wenn auch bei gewissen abgelegenen Staaten (so neuerdings Siam) ein Zusammenschweissen in Frage kommen kann, so gehört doch die Tschechoslowakei sicher nicht zu diesen Staaten [...] (E 7110 1/118). Der Abschluss eines speziellen Niederlassungsvertrages war von tschechoslowakischer Seite bereits in den Jahren 1924 und 1925 wiederholt angeregt worden. Das Justiz- und Polizeidepartement vertrat hierzu folgenden Standpunkt (Schreiben an das Politische Departement vom 22.10.1925): [...] Neue Niederlassungsverträge zu schliessen, sind wir heute nicht in der Lage. Am 25.ds. kommt der neue Verfassungsartikel 69ter zur Volksabstimmung. Wird er angenommen, dann muss ein Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer folgen. Bis dieses unter Dach ist, kann über neue Niederlassungsverträge kaum verhandelt werden [...] (E 2001 (C) 4/25).↩
- 5
- Nicht ermittelt.↩
- 6
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/45241. Pour le tableau, cf. dodis.ch/45241. For the table, cf. dodis.ch/45241. Per la tabella, cf. dodis.ch/45241.↩
- 7
- Vgl. dazu Nr. 229.↩
Tags