Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
22. Russland
22.1. Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 138
volume linkBern 1980
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#297* |
Old classification | CH-BAR E 1004.1(-)1000/9 297 |
Dossier title | Beschlussprotokolle des Bundesrates Oktober - Dezember 1925 (1925–1925) |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1005#1000/16#12* | |
Dossier title | Protokolle des Bundesrates, Geheimprotokolle (Minuten und Originale) 1925 (1925–1925) | |
File reference archive | 4.5 |
dodis.ch/45155
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 30. Dezember 19251
Beziehungen zu Russland
Bei Besprechung des Schreibens betr. die Haltung der Schweiz gegenüber der Beteiligung russischer Vertreter an der nach Genf einberufenen Vorkonferenz für eine neue Abrüstungskonferenz2 wird auch die Frage der Beziehungen der Schweiz zu Russland im Allgemeinen zur Beratung gestellt.
Die Sachlage ist gegenwärtig folgende:
Wie sich aus den vorliegenden Nachrichten, insbesondere auch aus einem Bericht eines Vertreters der schweizerischen Bankwelt, der neulich in Berlin mit Vertretern der Sovietregierung in Berührung kam3, ergibt, ist es müssig, auf den Umsturz des gegenwärtigen Regierungssystems in Russland zu hoffen. Wohl sind Anzeichen für eine gewisse Umwandlung dieses Systems vorhanden, wie zum Beispiel die Tatsache, dass mit Russland Geschäfte auch ohne vorherige Deckung der Kredite abgewickelt werden können; aber diese Umwandlung vollzieht sich, wenn sie überhaupt anhält, sehr langsam, ihr kommt nicht die Bedeutung eines grundsätzlichen Umschwungs zu und vor allem ist keine Ersetzung der gegenwärtigen Machthaber durch neue Leute von anderer politischer Überzeugung abzusehen. Dass die Schweizer Industrie den Ausfall des russischen Absatzgebietes schwer empfindet, ist klar4. Sie hat denn auch, namentlich durch deutsche Vermittlung, Geschäfte mit Russland aufgenommen, wenn auch in sehr bescheidenem Umfang; allein das hat den Nachteil, dass erstens die Vermittlung bezahlt werden muss, und dass zweitens die schweizer. Industrie nicht unmittelbar auf dem russischen Markt erscheint, der ihr infolgedessen als solcher mit der Zeit doch völlig verloren gehen könnte.
Aber auch auf Seiten Russlands ist der Wunsch vorhanden, mit der Schweiz wieder in rechtliche Beziehungen zu treten. Der Vorsteher des politischen Departementes berichtet hierüber folgendes:
Ein Deutscher, Herr Hegershausen, und ein Russe, Dr. Schönfeld, der schon schweizerische Warenlieferungen nach Russland vermittelt hat, kamen vor einiger Zeit zu Prof.Töndury in Genf und sprachen ihm zu, einmal mit der russischen Sovietbotschaft in Berlin Fühlung zu nehmen. Prof.Töndury hat sich dann auch nach Berlin begeben und dort laut seinem mündlichen und schriftlichen Bericht in aller Heimlichkeit mit dem russischen Botschafter eine Unterredung gehabt, wobei Prof.Töndury betonte, dass er ohne irgendwelchen amtlichen Auftrag, rein persönlich handle5. Die Unterredung ergab, dass beide Teile das Bedürfnis nach Wiederaufnahme der schweizerisch-russischen Beziehungen anerkennen. Russland wäre nun geneigt, auf den früher von ihm geforderten Ausdruck des Bedauerns der schweizerischen Regierung wegen der Angelegenheit Worowski zu verzichten, wenn die Schweiz als Ersatz dafür die sofortige Anerkennung de iure der Sovietrepublik zugestände. Prof.Töndury erklärte, das werde nur schwer zu erreichen sein und jedenfalls nur, wenn Russland sich bereit erkläre, einen Teil des Schadens, der schweizerischen Staatsangehörigen durch den Umsturz in Russland erwachsen sei, zu ersetzen, und die Vorkriegsschulden gegenüber den schweizerischen Gläubigern anerkenne.
Zu diesem Vorschlag führt der Vorsteher des politischen Departementes aus, bis jetzt habe der Bundesrat den Standpunkt eingenommen, Russland müsse zunächst den über die Schweiz verhängten Boykott aufheben, dann würde eine Zwischenzeit eintreten, während welcher tatsächliche Beziehungen angeknüpft würden, und schliesslich würde dieser Zustand abgelöst durch die Aufnahme rechtlicher Beziehungen zur russischen Regierung. Es scheine nun doch sehr schwierig, sich jetzt plötzlich über die Frage des Boykotts hinwegzusetzen und die Anerkennung de iure auszusprechen. Die öffentliche Meinung würde eine solch’ überraschende Änderung der Stellungnahme des Bundesrates kaum verstehen und billigen. Sie wäre auch angesichts der Beleidigungen, mit denen die russische Regierung den Bundesrat anlässlich der Worowski-Angelegenheit überhäuft hat, mit der Würde des Bundesrates nicht wohl vereinbar. Ein Ausweg aus der gegenwärtigen unbefriedigenden Lage müsse allerdings gesucht werden. Es sei aber nicht leicht, ihn zu finden. Auch dürfe nicht ausser Acht gelassen werden, dass die de iure Anerkennung der russischen Regierung unmittelbar die Zulassung einer diplomatischen Vertretung Russlands in der Schweiz zur Folge haben werde, mit allen Unannehmlichkeiten, die hieraus entstehen können und in der Schweiz, mit ihren freiheitlichen Einrichtungen noch weit stärker in Erscheinung treten werden, als in ändern Ländern.
In der Beratung wird die Auffassung, dass eine sofortige de iure Anerkennung der Sovietregierung nicht möglich sei, allgemein geteilt. Dagegen wird auch stark betont, es sollte etwas geschehen, um aus dem gegenwärtigen sehr unbefriedigenden Zustand herauszukommen. Wenn es zu diesem Behufe nötig wäre zu erklären, der Bundesrat bedaure die auf Schweizerboden an Worowski begangene Mordtat und sei auch mit der Freisprechung des Mörders Conradi nicht einverstanden, die er aber angesichts der Unabhängigkeit der richterlichen von der vollziehenden Gewalt nicht habe verhindern können, so stände dem nichts entgegen, und es scheine doch nicht ausgeschlossen, dass die russische Regierung sich dann auch herbeiliesse, ihre Verleumdungen zurückzunehmen und den Boykott fallen zu lassen. Ob die russische Regierung sich zu einer Zusicherung wegen des den Schweizern in Russland durch den Umsturz verursachten Schadens und zu einer Anerkennung der Vorkriegsschulden herbeilassen werde, sei sehr fraglich. Dagegen könne als sicher angenommen werden, dass Russland keine derartigen Leistungen machen werde; denn es habe ausländisches Kapital nötig und niemand werde ihm solches zur Bezahlung derartiger Forderungen vorstrecken. Hierauf sei also kein grosses Gewicht zu legen. Wichtig sei aber, dass die Anbahnung von Beziehungen zu Russland heute noch vom Bundesrat aus freien Stücken eingeleitet werden könne. Tue er dies, so werde sich die öffentliche Meinung, wenn sie vorsichtig darauf vorbereitet werde, damit abfinden, während sie es kaum ertragen könnte, wenn der Bundesrat durch einen Druck von Aussen, z.B. vom Völkerbundsrat, dazu veranlasst würde. In Deutschland und zwar offenbar auch in dortigen russischen Kreisen, werde die Nichtwiederwahl des Verteidigers Conradis6 in den Nationalrat als Umschwung der öffentlichen Meinung in der Schweiz gedeutet. Das werde eine Verständigung über die Aufhebung des Boykotts erleichtern. Der Augenblick, eine solche anzubahnen, sei günstig, und das politische Departement sollte auf Mittel und Wege sinnen, um ihn auszunützen. Es Hesse sich doch allenfalls denken, dass einer unserer Vertreter im Ausland beauftragt würde, offiziös mit einem Vertreter Russlands in Verbindung zu treten und Verhandlungen einzuleiten. Es wäre auch vielleicht nicht ausgeschlossen, dass hiezu die Regierung eines Staates, der Russland anerkannt hat, hülfreiche Hand böte. Gegen die allerdings nicht zu unterschätzenden Gefahren der Zulassung einer Sovietmission müssten, wenn möglich, seinerzeit gewisse sichernde Zugeständnisse erwirkt werden.
Unter Zustimmung des Rats fasst der Vorsteher des politischen Departementes das Ergebnis der Beratung wie folgt zusammen:
Die sofortige Anerkennung Russlands de iure kommt nicht in Betracht. Die Gegenwart einer Sovietmission in der Schweiz wird als gefährlich eingeschätzt. Dagegen besteht unzweifelhaft ein wirtschaftliches Bedürfnis nach der Wiederaufnahme von Beziehungen zu Russland. Um diese anzubahnen, soll die Schweiz ihre Zurückhaltung aufgeben und das politische Departement ist beauftragt, Verhandlungen einzuleiten, um mit Russland zu einer Verständigung über die Aufhebung des Boykotts zu gelangen, wenn nötig auch unter Zusicherung von Erklärungen über die Angelegenheit Worowski in dem in der Beratung erwähnten Sinne.
- 1
- E 1005 2/3.↩
- 2
- Vgl. Nr. 137.↩
- 3
- In einem Schreiben der Schweizerischen Volksbank an das Politische Departement und das Volkswirtschaftsdepartement vom 28.12.1925 wird auf eine Informationsreise von zwei Mitgliedern der Generaldirektion nach Deutschland hingewiesen, anlässlich der speziell auch die Frage geprüft wurde, ob gewisse Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Russland nicht gefördert werden könnten. Das Schreiben schliesst mit der Feststellung: Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass ein weitgehendes Bedürfnis zu einer Verständigung zwischen den beiden Ländern in die Erscheinung trat. Der lebhafte Wunsch nach dieser Richtung hin wurde uns gegenüber wenigstens ausgedrückt. In welchem Ausmasse die massgebenden politischen Instanzen in Moskau diese Anschauung teilen, liegt nicht im Bereiche unserer Urteilsfähigkeit. Aber wir sprechen die Überzeugung aus, dass in ernstlicher Weise der Versuch zu einer Verständigung erwogen werden sollte, wir sind überzeugt, dass weite Kreise der schweizerischen Wirtschaft diese Bestrebungen zu unterstützen sehr gerne bereit sind (E 2001 (B) 7/9).↩
- 4
- Diesbezügliche Eingaben von Privatfirmen an das Politische Departement in: E 2015/4.↩
- 5
- Vgl. Nr. 134.↩
- 6
- S. Schöpfer.↩
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