Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
22. Russland
22.1. Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 131
volume linkBern 1980
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001C#1000/1542#3* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(C)1000/1542 1 | |
Dossier title | Pourparlers de 1925 (1925–1925) | |
File reference archive | B.15.0 • Additional component: Russland |
dodis.ch/45148
Im Besitze Ihres persönlichen Schreibens vom 20. November 19252 bitte ich Sie um Entschuldigung, dass ich dieses nicht früher beantwortet habe. Ich fand aber erst gestern Gelegenheit, bei Herrn Stresemann das Gespräch auf die Frage zu bringen.
Sie wünschen zu wissen, ob Herr Stresemann wohl mit der Wiedergabe der Äusserung von Tschitscherin, dass Russland nicht in den Völkerbund eintreten werde, solange dieser seinen Sitz in der Schweiz habe, einen Druck auf uns habe ausüben und damit Russland einen Dienst erweisen wollen, und ferner, ob die Drohung Tschitscherins wohl ernst zu nehmen sei.
Was die erste Frage betrifft, so hatte ich schon bei dem Ihnen seinerzeit gemeldeten Gespräch den Eindruck, dass Stresemann die betreffende Äusserung ohne besondere Tendenz gemacht habe. Er schilderte, übrigens mit sehr kritischen Bemerkungen, den Massenempfang auf der Russischen Botschaft und das Benehmen Tschitscherins und da er dabei gerade mich in der kleinen Runde seiner Zuhörer anschaute, kam ihm offenbar Tschitscherins Äusserung über die Schweiz in den Sinn. Dies ist mir durch das gestrige Gespräch bestätigt worden, das mir auch die Antwort auf Ihre zweite Frage gab. In einem kleinen Kreise sprach jemand vom Empfang bei den Russen. Stresemann beteiligte sich am Gespräch und empörte sich darüber, dass siebenhundert Personen eingeladen waren, sodass man sich kaum bewegen konnte. Als er von Tschitscherin sprach und dabei zufällig zu mir hinsah, sagte er ähnlich wie das letzte Mal: «Na, die Schweiz scheint er übrigens besonders zu lieben.» Ich antwortete, um auf die von Ihnen gestellte Frage zu kommen: «Es scheint so; er möchte ja sogar den Sitz des Völkerbundes verlegt wissen.» Stresemann gab darauf in spöttischer Nachahmung von Stimme und Aussprache Tschitscherins dessen Worte über den Sitz des Völkerbundes wieder. Auf meine Frage, ob diese Drohung ernst zu nehmen sei, antwortete Stresemann lachend und kurz: «Quatsch»! d.h. Unsinn. Demnach dürfte, soweit es die Auffassung Stresemanns betrifft, ein Grund zur Beunruhigung nicht vorliegen. Dies schliesst aber m. E. nicht aus, dass die Frage unserer Beziehungen zu Russland im Auge behalten werden muss. Denn Stresemann fügte nach einiger Zeit mit Bezug auf den Völkerbund, trotz der beiliegenden Erklärung von Litwinow, bei: «Ich bin übrigens sicher, dass Russland im Jahre 1927 dem Völkerbund angehören wird3. Briand wollte mit mir sogar für 1926 wetten; dies schien mir aber etwas zu früh; an 1927 glaube ich aber.» Hiezu würde nun die Ordnung der schweizerisch-russischen Beziehungen wohl unumgängliche Voraussetzung sein, da Russland sich kaum mit der jeweiligen blossen schweizerischen Duldung einer Delegation wird begnügen wollen. Übrigens muss ich bemerken, dass in letzter Zeit die Stimmen aus schweizerischen industriellen Kreisen sich mehren, die eine Ermöglichung geordneter wirtschaftlicher Beziehungen begrüssen würden. Sowohl Herr Frick4, den Sie kennen, als auch der Vertreter in Moskau von Brown-Boveri bestätigten mir dies mit der Erklärung, dass Russland Bedarf für verschiedene schweizerische Produkte habe und dass ihrer Ansicht nach ein finanzielles Risiko für den schweizerischen Lieferanten nicht vorhanden sei. Russland zahle sicher; es dürfe sich auch seinen Auslandskredit nicht verderben. Frick fügte bei, es sei ihm kein einziger Fall eines Verlustes bekannt und sein Konzern mache mit Russland Geschäfte in Hunderten von Millionen und sei noch immer bezahlt worden. Allerdings sei die Einräumung langfristiger Kredite nötig; englische Lieferanten sollen solche bis zu 6 Jahren gewährt haben. Vorgestern sodann hatte ich den Besuch von zwei Generaldirektoren der Schweizerischen Volksbank, die sich unter anderem über die Möglichkeit des Wirtschaftsverkehrs mit Russland, den sie für die schweizerische Industrie begrüssen würden, erkundigten und die gerade gegenwärtig mit Angehörigen der russischen Handelsdelegation in Verbindung stehen. Der tschechoslovakische Gesandte sodann erklärte mir letzter Tage, dass die Anerkennung von Russland durch seine Regierung bevorstehe, da sein Land grosse Lieferungen dorthin zu machen habe. Nun scheint allerdings bei der gegenwärtigen Stimmung Tschitscherins gegenüber der Schweiz eine für uns annehmbare Annäherung nicht leicht zu sein. Ich bin deshalb gespannt, ob die durch Herrn Minister Dunant signalisierte Möglichkeit einer Verständigung mit Rakowski sich ausreifen wird5. Es ist ja auch möglich, dass die Verstimmung Tschitscherins nur eine vorübergehende ist, hervorgerufen vielleicht durch meine, Ihrer Weisung gemäss erfolgte, ihm möglicherweise bekannt gewordene Ablehnung, mit ihm an einem dritten Orte zusammenzukommen. Allerdings wird mir auch von anderer Seite eine unfreundliche Stimmung in Moskau gemeldet. So erzählte mir der dortige Vertreter von Brown-Boveri, dass er von sich aus bei Krassin Fühlung genommen habe, aber kurz auf die bekannten russischen Bedingungen verwiesen worden sei. Ein anderer Volkskommissar sodann habe sich in direkt grober Weise über die freche kleine Schweiz geäussert, an deren Beziehungen Russland überhaupt nichts gelegen sei. Anders Frick, der zu wissen glaubt, dass Russland eine Verständigung wünsche, namentlich des Völkerbundes wegen, und der auch die Absicht hat, Rakowski in Paris zu sehen. Die Schweizerische Volksbank sodann hat in Moskau Fühler ausgestreckt und will dabei erfahren haben, dass Russland wenigstens gern einen Handelsdelegierten in der Schweiz haben möchte. Solche privaten Annäherungsversuche sind natürlich nicht geeignet, Ihnen die Politik zu erleichtern, da sie doch bei der russischen Regierung das Gefühl stärken müssen, dass in erster Linie der Schweiz an einer Lösung des Konfliktes gelegen ist.
Was nun das weitere Verhalten der schweizerischen Regierung gegenüber Russland betrifft, so weiss ich, dass Sie, Herr Bundesrat, stets Gewicht darauf legten, zu erklären, dass die Schweiz aus Rücksicht auf den Völkerbund der Einreise russischer Delegierter bezw. Beobachter an denselben keine Schwierigkeiten bereiten werde. Abgesehen davon, dass dieses Entgegenkommen Russland kaum befriedigen kann, da die russische Regierung in der unangenehmen Lage ist, jeweils um eine Ausnahme vom Boykott zu bitten bezw. durch das Völkerbundssekretariat bitten zu lassen, darf ich die Prüfung der Frage anheim stellen, ob wir nicht eher zu einer Verständigung gelangen, wenn wir der Intransigenz Russlands unsere eigene in dem Sinne gegenüberstellen, dass wir ein Visum zum Besuch des Völkerbundes solange verweigern, als nicht der gegenseitige Boykott aufgehoben ist. Die Beantwortung dieser Frage wird unter anderem davon abhängen, einmal, ob uns das schweizerische Verhalten nicht eine wirkliche Gefahr hinsichtlich des Völkerbundssitzes heraufbeschwören wird und sodann, ob der Völkerbund die schweizerische Haltung nicht als eine unfreundliche ihm gegenüber betrachten würde. Was den ersten Punkt betrifft, so erscheint es mir doch im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass Russland, das ja zurzeit noch gar nicht in den Völkerbund eintreten will, und diesem in seiner gegenwärtigen Form sogar die Fähigkeit zur Führung seiner Aufgabe abspricht, eine Sitzverlegung sollte durchsetzen können. Über die Auffassung des Völkerbundes sodann sind Sie ja selbst am besten orientiert. Immerhin möchte ich nicht unterlassen, Ihnen von einer Äusserung des Herrn Frick Kenntnis zu geben, der mir erklärte zu wissen, dass das Völkerbundssekretariat die schweizerische Renitenz begrüssen würde, da es selbst bis jetzt russische Anfragen immer auf den Weg der Verständigung mit der Schweiz verwiesen habe, eine Haltung, deren Wirkung entkräftet werde, wenn die Schweiz vor Aufhebung des russischen Boykotts grossmütig die Einreise russischer Delegierter gestatte.
Tags