Language: German
5.11.1925 (Thursday)
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 5.11.1925
Minutes of the Federal Council (PVCF)
Der Bundesrat genehmigt den Entwurf zu einem Bundesratsbeschluss über die Abänderung des provisorischen Zolltarifs vom 8.6.1921. Dem EVD wird die Möglichkeit eingeräumt, bei unbefriedigendem Verlauf von Vertragsverhandlungen dem Bundesrat hinsichtlich der Inkraftsetzung des Tarifes oder einzelner Positionen Antrag zu stellen.

Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
6. Deutschland
6.1. Handelsvertrag und Abkommen über Einfuhrbeschränkungen
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Printed in

Walter Hofer, Beatrix Mesmer (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 112

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Bern 1980

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dodis.ch/45129
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 5. November 19251

2244. Provisorischer Generalzolltarif

Nachdem der Bundesrat mit Botschaft vom 9. Januar 19252 den eidgenössischen Räten den Entwurf zu einem neuen schweizerischen Zolltarifgesetz (Generaltarif) unterbreitet hatte, wurde die Priorität zur Behandlung dieser Materie dem Nationalrat zugewiesen. In einer ersten Session beschäftigte sich die nationalrätliche Zolltarifkommission im Monat Mai mit dem Entwurf. Die Beratungen beschränkten sich auf Fragen grundsätzlicher Natur. Die Kommission besammelte sich zum zweiten Male vom 26. bis 28. August in Kandersteg. In einem einlässlichen Referat wurde ihr, in Ergänzung der bundesrätlichen Botschaft, Kenntnis gegeben von den zollpolitischen Massnahmen des Auslandes, die seit Jahresbeginn getroffen worden sind und die auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Schweiz eine ebenso eingreifende als gefährliche Rückwirkung zeitigen. Es wurde insbesondere hingewiesen auf die von England und Deutschland vorgenommenen starken Zollerhöhungen, sowie auf gleiche und ähnliche Massnahmen, die eine ganze Reihe von Staaten in letzter Zeit ergriffen haben. Die nationalrätliche Zolltariflkommission stellte unter dem Eindruck der gegenwärtigen handelspolitischen Situation die Beratung des Gesetzesentwurfes zurück und beschäftigte sich insbesondere mit der Frage, ob und welche Massnahmen die Schweiz zur Wahrung ihrer stark bedrohten Interessen ergreifen solle. Aus der Mitte der Kommission wurde der Antrag gestellt, man erwarte vom Bundesrat die beförderliche Ergreifung kräftiger tarifpolitischer Abwehrmassnahmen. Auf Veranlassung des Vertreters des Bundesrates, der für diesen volle Handlungsfreiheit vorbehielt, gelangte schliesslich folgender Antrag mit allen gegen 1 Stimme zur Annahme: «Angesichts der überraschenden, für die schweizerische Wirtschaft, ihre Industrien und Landwirtschaft überaus bedrohlichen tarifpolitischen Massnahmen verschiedener europäischer Staaten in allerletzter Zeit ladet die Zolltarifkommission den Bundesrat ein, zu prüfen und beförderlichen Bericht zu erstatten, welche Massnahmen zu treffen seien, um die Interessen der nationalen Produktion, der nationalen Arbeit und insbesondere auch des Exportes zu schützen.»

In der Diskussion über diesen Antrag wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass dem Bundesrat die Kompetenz zu allfälligen Abwehrmassnahmen zustehe und zwar einerseits gestützt auf die Bundesbeschlüsse vom 18. Februar 19213 und 26. April 19234 betreffend die vorläufige Abänderung des Zolltarifes, und sodann auf Grund von Art. 4 des Zollgesetzes. Eine Anwendung von Art. 4 des Zollgesetzes5 und des sogenannten Kampftarifes vom 2. Februar 19226 kann jedoch angesichts der gegenwärtigen Lage nicht in Frage kommen. Diese Gesetzesbestimmung sowohl als der erwähnte Kampftarif beziehen sich auf diejenigen Fälle, in denen die Schweiz von einem ausländischen Staate differenziell behandelt wird, d. h. nicht mehr im Genuss der Meistbegünstigung steht. Die Handhabung dieser Waffe setzt also unter allen Umständen voraus, dass entweder auf Veranlassung der Schweiz oder eines ausländischen Staates die bisher durchwegs bestehende Meistbegünstigung weggefallen wäre.

Alle die Zollerhöhungen des Auslandes, die in letzter Zeit vorgenommen worden sind, richten sich nun keineswegs gegen die Schweiz allein. Wir werden nach wie vor von allen Staaten auf dem Fusse der Meistbegünstigung behandelt, profitieren also auch ohne weiteres von allen Zollermässigungen, die sich andere Länder auf dem Wege von Handelsvertragsverhandlungen gegenseitig einräumen. Was wir angesichts der heutigen Situation nötig haben und auch nach Ansicht der nationalrätlichen Zolltarifkommission nicht entbehren können, ist ein Instrument, das zu annehmbaren Handelsverträgen führt, nicht aber ein solches, das für den Fall eines Zollkrieges vorgesehen ist. Es kann sich also - und dies ist nach erfolgter Aufklärung nun auch die einstimmige Meinung der mehrerwähnten Kommission - keineswegs um eine Anwendung von Art. 4 des Zollgesetzes oder um die Handhabung des Kampftarifes vom 2. Februar 1922 handeln.

Dagegen ist der erste der vorgezeichneten Wege in der Tat gangbar: Durch den Bundesbeschluss vom 18. Februar 1921 wird der Bundesrat ermächtigt, die Ansätze des Zolltarifes unter Beobachtung der Bestimmungen von Art. 29, Ziffer 1, a-c, der Bundesverfassung im Sinne einer vorübergehenden Massnahme der wirtschaftlichen Lage anzupassen und die neuen Ansätze in dem ihm geeignet scheinenden Zeitpunkt in Kraft zu setzen. Am 26. April 1923 hat die Bundesversammlung die Wirksamkeit des soeben erwähnten Bundesbeschlusses bis zum Inkrafttreten des revidierten Bundesgesetzes betreffend den schweizerischen Zolltarif verlängert. Der Bundesrat hat durch den Erlass des gegenwärtig geltenden Gebrauchstarifes vom 8. Juni 1921 von diesen ihm übertragenen Vollmachten einen ersten Gebrauch gemacht. Da die Ermächtigung dahingeht, die Zollansätze der wirtschaftlichen Lage anzupassen, und diese selbstverständlich jederzeit ändern kann, so kann wohl ein Zweifel darüber nicht bestehen, dass der Bundesrat einmal geänderte Ansätze jederzeit auf Grund einer Änderung der wirtschaftlichen Lage wiederum erhöhen oder ermässigen darf. Dass unter der «wirtschaftlichen Lage» nicht nur diejenige des Inlandes im engern Sinne, sondern auch Rückwirkungen ausländischer Massnahmen auf die inländische Wirtschaft verstanden sind und verstanden sein müssen, dürfte ebenfalls unbestreitbar sein. So ist denn auch bei den Beratungen der nationalrätlichen Zolltarifkommission die Kompetenz des Bundesrates zum Erlass allfälliger Abwehrmassnahmen gestützt auf die erwähnten beiden Bundesbeschlüsse von keiner Seite in Zweifel gezogen worden.

Die massgebenden Organe des Handels und der Industrie, des Gewerbes, der Landwirtschaft und der Angestellten sprechen sich mit Bestimmtheit dahin aus, dass im Interesse des Abschlusses von erträglichen Handelsverträgen ein provisorischer Generaltarif zu schaffen sei, immerhin in der Meinung, dass dadurch keine oder doch eine möglichst vorübergehende und geringe Erhöhung der Lebenshaltungskosten bewirkt werden solle und dürfe. Einzig der Schweizerische Gewerkschaftsbund nimmt eine schroff ablehnende Haltung ein, wobei er auf der einen Seite von durchaus unrichtigen Voraussetzungen ausgeht, auf der ändern Seite durch die Beschlüsse des internationalen Gewerkschaftsbundes verpflichtet zu sein erklärt, jeder Zollerhöhung in irgendeiner Form schärfste Opposition ansagen zu müssen.

Wie das Volkswirtschaftsdepartement schon mehrfach auszuführen Gelegenheit hatte, bietet der gegenwärtige schweizerische Gebrauchstarif, der seiner Natur nach von vornherein zur sofortigen praktischen Anwendung und nicht zum Instrument für Handelsvertragsverhandlungen bestimmt war, keine Möglichkeit, die ausserordentlich hohen Zollansätze des Auslandes für unsere Exportprodukte durch Verträge herabzudrücken. Unsere Unterhändler können auf ihm keine oder doch nur ganz bedeutungslose Zugeständnisse machen und erhalten. Aus diesen Gründen ist das Departement mit den kompetenten Wirtschaftskreisen und mit der Zolltarifkommission des Nationalrates zur Überzeugung gelangt, dass die sofortige Schaffung eines provisorischen Generaltarifes im Sinne eines Verhandlungstarifes ausserordentlich dringlich und unvermeidbar geworden ist, will man nicht zum vorneherein darauf verzichten, durch Handelsverträge mit dem Ausland unserm schwer bedrückten Export Erleichterungen zu verschaffen.

Um die ganze Angelegenheit möglichst zu fördern, hat das Volkswirtschaftsdepartement schon vor einigen Wochen die aus den Herren Direktor Stucki, Prof. Laur, Dr. Wetter und Oberzolldirektor Gassmann bestehende schweizerische Unterhändlerkommission beauftragt, einen derartigen Entwurf zu einem provisorischen Generaltarif vorzubereiten. Als Resultat der von dieser Kommission nach bestimmten Grundsätzen durchgeführten Arbeit liegt nun ein Entwurf7 vor, der für 240 des total 1164 Positionen umfassenden heutigen Gebrauchstarifes eine gewisse Erhöhung vorsieht. Von diesen 240 Positionen sind schon heute durch die Verträge mit Italien und Spanien 45, worunter insbesondere fast sämtliche Lebensmittelpositionen, gebunden. Im vorgesehenen Handelsvertrag mit Österreich würden weitere ca. 32 Positionen zur Bindung vorgesehen. Auch der modus vivendi mit Deutschland dürfte ca. 60 Bindungen unseres heutigen Gebrauchstarifes bringen. Was demnach noch übrig bleibt und bei einer Inkraftsetzung des Tarifes praktisch wirksam würde, sind Erhöhungen für industrielle und gewerbliche Fabrikate, die unsere Wirtschaft, namentlich vorübergehend, ohne Gefahr tragen könnte und die anderseits für verschiedene unserer Vertragsstaaten empfindlich sind und ihnen deshalb Anreiz geben dürften, sie gegen entsprechende Konzessionen ebenfalls auf das heutige Mass herunterzuhandeln.

Der durch die schweizerische Unterhändlerkommission ausgearbeitete erste Entwurf wurde kürzlich noch der bundesrätlichen Expertenkommission, die die Vorarbeiten für den Gebrauchstarif sowohl als auch für den Entwurf zum neuen Zolltarifgesetz durchgeführt hat, unterbreitet. Nach sehr einlässlicher Beratung hat sich diese Kommission einstimmig, mit Einschluss der Konsumentenvertreter, für den Erlass des provisorischen Generaltarifes erklärt und sogar, ebenfalls einstimmig, gegenüber dem ersten Entwurf noch vereinzelte Erhöhungen vorgenommen. Sie hat dann auch jede einzelne Position einlässlich diskutiert und war bei der überwiegenden Mehrzahl aller Ansätze einstimmig.

In der Handelspolitik der europäischen Staaten ist gegenüber den Verhältnissen vor dem Kriege insofern eine wesentliche Änderung eingetreten, als kein einziges Land seine neuen Generaltarife lediglich erlassen, aber noch nicht sofort in Kraft gesetzt hat. Früher bestand die Bedeutung eines solchen Generaltarifes darin, dass er gewissermassen als Drohmittel den ändern Vertragsstaaten zur Kenntnis gebracht, aber nicht in Kraft gesetzt wurde, die Inkraftsetzung vielmehr erst mit den durch die verschiedenen Handelsvertragsresultate modifizierten Ansätzen in Form eines Gebrauchstarifes erfolgte. Wie alle ändern Staaten hat nun auch Deutschland diesen Weg verlassen und seinen neuen Generaltarif sofort in Kraft gesetzt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass dadurch die handelspolitische Stellung dieser Länder in den Vertragsverhandlungen bedeutend gestärkt wird. Der Nachteil dieses Vorgehens liegt darin, dass die inländische Wirtschaft, wenigstens vorübergehend, auch diejenigen Zollerhöhungen zu tragen hat, die infolge ihres Verhandlungscharakters nicht zur dauernden praktischen Anwendung bestimmt sind. Trotzdem hat man sich in Deutschland, wie früher in Italien, Österreich, der Tschechoslovakei, Jugoslavien, Polen etc., mit diesen Nachteilen abgefunden. Es würde nun nahe liegen, dass die Schweiz den neuen Generaltarif, der ja verhältnismässig wenige Erhöhungen vorsieht, von denen mehr als die Hälfte infolge von Bindungen mit ändern Staaten nicht praktisch würden, ebenfalls sofort in Kraft setzt. Mit Rücksicht auf die bei uns besonders empfindliche öffentliche Meinung möchte aber das Volkswirtschaftsdepartement davon Umgang nehmen, diesen Weg ebenfalls zu beschreiten, so sehr er die Stellung unserer Unterhändler gefestigt hätte. Es hat deshalb vorgesehen, dass der Tarif vom Bundesrat vorläufig erlassen, aber nicht gleichzeitig in Kraft gesetzt würde. Die schweizerischen Unterhändler hätten dann gestützt auf diesen Tarif die Verhandlungen mit ändern Staaten aufzunehmen und wenn möglich zu beendigen. Sie könnten darauf aufmerksam machen, dass bei ungenügendem Entgegenkommen des Vertragsgegners der Bundesrat die erhöhten Ansätze von einem Tage zum ändern ganz oder teilweise in Kraft zu setzen in der Lage sei. Nur wenn auf diesem Wege der Abschluss befriedigender Verträge unmöglich wäre, würde das Departement dem Bundesrate hinsichtlich der Inkraftsetzung des Tarifes oder einzelner seiner Positionen Antrag stellen. Der Entwurf8 ist übrigens bewusst so eingerichtet worden, dass er ohne allzu grosse Bedenken vorübergehend in Kraft gesetzt werden kann, wenn dies die handelspolitischen Verhältnisse unbedingt erforderlich machen sollten. Dabei würde das Volkswirtschaftsdepartement selbstverständlich in dieser Frage im engen Einvernehmen mit den Wirtschaftskreisen, insbesondere denjenigen der Exportindustrie, bleiben und deren Vorschläge weitgehend berücksichtigen.

Antragsgemäss wird beschlossen:

Der vorgelegte Entwurf zu einem Bundesratsbeschluss über die Abänderung des provisorischen Zolltarifs vom 8. Juni 1921 wird genehmigt9.

1
E 1004 1/297. Abwesend: Scheurer.
2
BBl 1925,1, S. 109ff. - Die Vorlage betreffend das neue Zolltarifgesetz gelangte in der Folge nicht zur parlamentarischen Verabschiedung.
3
AS 1921, NF 37, S.129f.
4
AS 1923, NF 39, S. 113f.
5
Art.4 des Bundesgesetzes über das Zollwesen vom 28.6.1893 lautet: In ausserordentlichen Fällen, wie z.B. bei verheerenden Elementarereignissen u.s.w., ist der Bundesrat ermächtigt, ausnahmsweise diejenigen vorübergehenden Zollerleichterungen eintreten zu lassen, welche er als den Verhältnissen angemessen erachtet (AS 1892-1893, NF 13, S. 696).
6
Bundesratsbeschluss betreffend die Erhöhung der Ansätze des schweizerischen Zolltarifs (Generaltarifs) vom 10. Oktober 1902, vom 2.2.1922, in: AS 1922, NF 38, S.21ff.
7
Nicht ermittelt.
8
Vgl. AS, 1925, NF 41, S.688ff.
9
Der Bundesratsbeschluss ist abgedruckt in: AS 1925, NF 41, S. 687 ff. Vgl. dazu den Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Bundesratsbeschluss vom 5. November 1925 über die Abänderung des provisorischen Zolltarifs, vom 21.12.1925, BBl 1925, III, S. 652 ff. Der Bundesrat verzichtete in der Folge darauf, die Bestimmungen dieses Beschlusses in Kraft zu setzen.