Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 8, doc. 146
volume linkBern 1988
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#106* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 59 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 22 (1921–1921) |
dodis.ch/44788
Der Reichskanzler Mrt/zhat mich heute zu sich gebeten, um sich mit mir über die allgemeine Lage auszusprechen. Ich leitete die Besprechung absichtlich selbst ein mit der Bemerkung, dass nach inoffiziellen Nachrichten, die ich aus der Schweiz erhalten hätte, die Atmosphäre in England und sogar in Frankreich doch wesentlich weniger schwül erscheine, als dies noch vor wenigen Wochen der Fall gewesen sei. Der Kanzler bestätigte mir, dass alle Informationen, die er in den letzten Tagen, namentlich durch Rathenau erhalten habe, diesen Eindruck durchaus bestätigen. Es sei schon als ein gutes Zeichen anzusprechen, dass die französische Presse die Lage mit einer gewissen Ruhe bespreche, wenn schon sie sich gegenüber der Tendenz, die aus England herüberkomme, noch ablehnend verhalte. In England selbst sei der Umschwung, der sich in den Kreisen der Geschäftswelt schon bei dem ersten Besuch Rathenaus sehr bestimmt geäussert habe, in der allerletzten Zeit ziemlich allgemein geworden. Die Finanzleute hätten sich ganz offen dahin ausgesprochen, dass die erste Voraussetzung für die Gesundung der allgemeinen Wirtschaftslage die Änderung der Reparationsbedingungen sei, und zwar müsse der erste Schritt in der Richtung einer möglichst völligen Ausschaltung der Geldleistungen seitens Deutschlands und einer Ersetzung durch Sachleistungen getan werden. Solange Deutschland sich so grosse Goldmittel verschaffen müsse, sei es darauf angewiesen, um jeden Preis seinen Export zu entwickeln und diese Notwendigkeit für Deutschland bedinge die Arbeitslosigkeit für England und anderwärts. Lloyd George habe sich nach Beseitigung des Konfliktes mit Irland nun ganz darauf geworfen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und da seien ihm als erstes Hindernis die Reparationsbedingungen in den Weg getreten. Wenn er heute so entschieden gegen diese Bedingungen ankämpfe, so geschehe es wohl nur deshalb, weil er deren Änderung als conditio sine qua non für die Hebung der Arbeitslosigkeit erblicke.
Die City habe Herrn Rathenau mit aller Bestimmtheit erklärt, dass sie weder ein Moratorium, noch die Beschaffung kurzfristiger Kredite als taugliche Mittel betrachte, um die deutsche Wirtschaft vor dem Untergang zu bewahren; beide Wege bedeuten nur eine Verlängerung der Agonie. Gründliche Hilfe sei nur möglich durch eine Herabsetzung der Gesamtleistungen und durch die Ersetzung der Goldleistungen durch Sachleistungen. Über die Bedingungen, unter welchen diese Änderung der Reparationsleistungen zugestanden werden könne, sei noch nicht unterhandelt worden; das soll nun in London geschehen. Rathenau sei durch den englischen Schatzkanzler Horne nach London berufen worden. Er habe keinen offiziellen Auftrag von der deutschen Regierung, aber er habe sich selbstverständlich vor seiner Abreise mit dem Kanzler sehr einlässlich besprochen, wobei sich völlige Übereinstimmung in den Ansichten über alle wesentlichen Punkte ergeben habe.
Auf meine Frage, ob wirklich Deutschland nicht in der Lage wäre, die Januarund Februarraten in Gold zu bezahlen, gab mir der Kanzler folgende Erklärung: Nach den Besprechungen, welche im letzten Herbst bei Abdeckung der Septemberrate – eine Milliarde Gold – angestellt worden seien, hätten die deutschen Sachleistungen mehr als genügt, um die Januarrate voll zu decken und es wäre in diesem Falle wohl möglich geworden, die Februarrate in Gold aufzubringen. Da sei der katastrophale Sturz der Mark nach der Oberschlesischen Entscheidung eingetreten, welcher die ganze Rechnung über den Haufen geworfen habe. Bekanntlich werden die deutschen Sachleistungen nach dem Versaillervertrag zum Inlandspreis berechnet, was zur Folge hat, dass der Gegenwert in Gold in der gleichen Proportion sinkt, in welcher der Wert der Mark zurückgeht. Diese Bestimmung – so meinte der Kanzler – sei wohl die wahnsinnigste im ganzen Versaillervertrag, sie wirke förmlich als «Marterwerkzeug», indem sie zum Unglück der Entwertung des deutschen Geldes noch dasjenige einer ungemessenen effektiven Erhöhung der Sachleistungen hinzufüge.
Auf meine weitere Frage, ob denn nicht die Devisen der Industrie zur Beschaffung von Goldmitteln herangezogen werden können, antwortete der Kanzler, dass dies schon in reichem Masse geschehe indem die Industrie tatsächlich gegen 40% ihrer Devisen abliefere. Diese Zahlungsmittel seien aber für den eigenen Bedarf Deutschlands ganz unerlässlich, nämlich für die Rückzahlung der kurzfristigen sogen. Mendelssohnkredite und für die Beschaffung der Ernährungs- und Futtermittel, die vom Ausland bezogen werden müssen, wenn nicht das deutsche Volk dem Hunger preisgegeben werden wolle. Wirth fügte bei: Wenn man auf diese Devisen von Seite der Reparationskommission die Hand legen wollte, würde das ohne weiteres den völligen Zusammenbruch bedeuten; dann müsste die Entente auch für die Volksernährung in Deutschland sorgen.
Das Gleiche gelte für die Forderung der Entente auf Einführung einer Finanzkontrolle. Gegen die Kontrolle an sich habe die deutsche Regierung nichts, sie habe im Gegenteil der Reparationskommission anlässlich des letzten Besuches volle Einsicht in alle Akten, sogar in die Devisenportefeuilles, gewährt. Wenn aber die Kontrolle dazu dienen sollte, der deutschen Regierung verbindliche Weisungen zu erteilen über die zulässigen Ausgaben u.s. w., dann würde dies zur Katastrophe führen. Die Forderung der völligen Einstellung der Notenpresse sei vorderhand unerfüllbar, weil zur Zeit die Einnahmen des Reiches bei weitem nicht ausreichen, um die unerlässlichen Ausgaben zu decken. Das lasse sich nur ganz allmählich erreichen. Die Ausgaben können nicht unvermittelt herabgesetzt werden, namentlich sei es unmöglich, plötzlich eine Menge von Angestellten zu entlassen, denn die deutsche Privatwirtschaft habe lange nicht genügend Aufnahmefähigkeit für diese Leute. Überhaupt übersehe man zu sehr, dass die wirtschaftliche Lage Deutschlands, d.h. die sogen. Prosperität der Industrie, ihren Höhepunkt überschritten habe und dass die Lage überaus ernst werden müsse, sobald die leider nicht abwendbare Tatsache einer wesentlichen Verringerung des Ausfuhrhandels eintrete.
Und wenn man Deutschland untersagen wollte, weiterhin Zuschüsse für die Verbilligung der Lebenshaltung zu gewähren, so würde dies zu einer Mehrbelastung des Volkes führen, die einfach nicht zu tragen sei. Der Kanzler erblickt die immer noch bestehenden grossen Gefahren nicht mehr darin, dass die bestehenden Reparationsleistungen aufrecht erhalten werden, sondern in den Schwierigkeiten, die sich aus den Bedingungen ergeben werden, unter welchen eine Modifikation gewährt werden wird. Darüber sei die deutsche Regierung noch ganz ohne offizielle Nachricht.
Innerpolitisch liege der Schwerpunkt zur Zeit bei den Beratungen über die Steuervorlagen. Herr Wirth sagte mir mit aller Bestimmtheit, dass er entschlossen sei, mit diesen Vorlagen zu stehen und zu fallen. Er werde beim Zusammentritt des Reichstages im Januar sofort die Vertrauensfrage stellen und zwar nicht nur hinsichtlich des wesentlichen Inhaltes der Regierungsvorlagen, sondern auch für deren unverzügliche Verabschiedung. Er verhehlt sich nicht, dass noch sehr grosse Widerstände zu überwinden sein werden, glaubt aber, dass es gelingen werde, mit wechselnder Zusammensetzung der Mehrheiten sämtliche Vorlagen durchzubringen – wenn die Londoner Verhandlungen zu einem halbwegs erträglichen Ergebnis führen. Von einer Erfassung der Sachwerte, die bekanntlich die Sozialdemokratie mit Nachdruck fordert, will der Kanzler nichts wissen. Er hält dieses System für praktisch undurchführbar und für eine Schädigung der Volkswirtschaft, die nicht zu ertragen sei. Zudem ist er überzeugt, dass man durch ein solches Verfahren die Sachwerte, die ja in das Eigentum des Staates übergehen müssten, den Alliierten in die Hand spielen würde ohne selbst etwas davon zu haben.
Soweit der Reichskanzler. Von anderer Seite höre ich, dass die Unabhängigen gegen das Mantelgesetz der Steuervorlagen stimmen werden. Wenn diese Annahme zutrifft, ist die Gesamtvorlage ernstlich gefährdet, denn gegen die Stimmen der beiden Rechtsparteien, der bayerischen Volkspartei und der Unabhängigen mit den Kommunisten, ist eine genügende Mehrheit nicht zu finden. Ich glaube aber nicht, dass die Volkspartei geschlossen gegen die Vorlage stimmen wird, wenn die Voraussetzung des Kanzlers, die erträgliche Lösung nach den Londoner Verhandlungen, sich erfüllt.
Von einem mir näher bekannten Journalisten, dessen sich Lord D’Abernon gerne als Sprachrohr für die Öffentlichkeit bedient, erfahre ich soeben, dass der englische Botschafterais Optimist nach London gegangen und vorgestern als Pessimist von dort zurückgekehrt sei. Er sprach meinem Gewährsmann heute davon, dass die zu überwindenden Schwierigkeiten viel grösser seien als er erwartet habe und dass von der Gewährung eines langfristigen Kredites unbedingt nicht die Rede sein könne, solange nicht eine Finanzkontrolle eingeführt, die Notenpresse in Deutschland ganz eingestellt und das Defizit des Etats mit Einschluß der Staatsbetriebe beseitigt sein werde. Ich weiss nicht, ob dieses Pessimismus nur darauf zurückzuführen ist, dass Lord D’Abernon mit seinen persönlichen Ansichten in London nicht durchgedrungen zu sein scheint, oder ob wirklich seine Eindrücke die Lage allgemein als kritisch erscheinen lassen.
Aus einer Besprechung, die ich heute mit dem Leiter des Staatskommissariates für die öffentliche Ordnung hatte, entnehme ich, dass dort keine ernstlichen Befürchtungen bestehen wegen eines kommunistischen Putsches. Die Linksradikalen seien unter sich entzweit, hätten weder Geld noch Waffen und verlören immer mehr an Anhang. Eine wirkliche Gefahr würde nur dann bestehen, wenn die Ernährungsschwierigkeiten sich noch vermehren. In dieser Hinsicht bestehen allerdings Besorgnisse, weil sich mehr und mehr das Fehlen der starken Zuschüsse aus den verlorenen Gebieten, namentlich im Osten, geltend mache und weil die deutsche Regierung nicht mehr im Stande sei, die Mittel aufzubringen, um sich die unentbehrlichen Nahrungsmittel vom Ausland zu beschaffen. Diese Befürchtung findet ihre Bestätigung in einer amtlichen Erklärung über die Indexziffer für Gross-Berlin, die folgenden Wortlaut hat:
«Die Teuerungsindexziffer iür Gross-Berlin ist nach den amtlichen Feststellungen des Statistischen Reichsamtes von 1099 im Oktober auf 1367 im November des Jahres gestiegen. Das bedeutet gegenüber der Mai-Indexziffer eine Steigerung um 62 Prozent.»
Wir besprachen auch die Frage der Verlängerung der Arbeitszeit, die ja mit Rücksicht auf die Motion Abt auch für Sie von besonderem Interesse sein dürfte. Der Staatskommissär sagte mir, dass eine Einigung mit dem Personal der Staatsbetriebe (Post und Eisenbahnen) in sicherer Aussicht stehe. Man werde zwar den achtstündigen Arbeitstag nicht abschaffen, aber alle Arbeiten von der Berechnung ausschliessen, die nicht als volle Beanspruchung des Arbeitenden betrachtet werden müssen. Bei den Landarbeitern sei der Achtstundentag schon so gut wie aufgehoben. Schwierig sei die Lage noch bei den Industriearbeitern, aber auch dort zeige sich allmählich eine Tendenz, die notwendige Erhöhung des Einkommens durch sogen. Überschichten zu erreichen. Dass eine Erhöhung des Einkommens dieser Arbeiter nötig sei und je länger je nötiger werde, sei nicht zu bestreiten. Dieses Ziel lasse sich aber ohne ernstlichen Schaden für die Arbeitnehmer herbeiführen, wenn die Arbeitsleistungen entsprechend vermehrt werden. Es werde zwar noch lange gehen bis dieses Ziel erreicht sei, aber man sei doch auf gutem Wege.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Berlin 22.↩
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