Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 348
volume linkBern 1979
more… |La Suisse et la construction du multilatéralisme, vol. 2. Documents diplomatiques suisses sur l'histoire de la Société des Nations 1918–1946, vol. 14, doc. 7
volume linkBerne 2019
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2001B#1000/1508#20* | |
Dossier title | Militärkommission nach Paris (Oberst Favre und Oberst Vuilleumier), Februar 1919 (1919–1919) | |
File reference archive | B.56.41.01.10.2 |
dodis.ch/44093 Le Chef d’Etat-major général de l’Armée suisse, Th. von Sprecher, au Chef du Département politique, F. Calonder1
Ich beehre mich Ihnen anbei die Berichte zuzustellen, die mir Oberstlt. i. Gst.
Favre heute in seinem und Oberst Vuilleumier’s Namen übergeben hat und die ihre, im Aufträge des Politischen Departements in Paris erfüllte Mission bezügl. des Völkerbundes betreffen.2 Wenn ich auch in einigen wichtigen Punkten den
Darlegungen der beiden Offiziere zustimme, so muss ich doch, im Sinne meiner
ausführlichen Eingabe an den Bundesrat vom 12. April 19193 ganz bestimmte Vorbehalte machen, die ich mir erlaube hier kurz zu rekapitulieren:
1.) Dass die im voraus erteilte Zusage der aktiven Teilnahme an Vollstreckungen des Völkerbundes und gleicherweise die der Gestattung des Durchmarsches mit der Neutralität unvereinbar sind, bedarf keines Beweises.
2.) Der springende Punkt auf den es ankommt und auf den sich die ganze Frage zuzuspitzen scheint ist der der Teilnahme an der einseitigen Sperre (Blokus).
In der von den militärischen Delegierten dem englischen Obersten Sackville übergebenen Note vom 10. April4 heisst es unter II, ad Art. XVI. 1: (Mesures financières et économiques prises par la ligue) «C’est là une question d’ordre politique. Le Conseil fédéral Suisse estime que la neutralité étant un principe d’ordre purement militaire (Convention de La Haye 1907) (welches Abkommen?) l’admission de cette clause d’ordre économique ne saurait la compromettre.»
Ich muss diese Auffassung als absolut unhaltbar ansehen. Die Art. 7 & 8 des «Haager-Abkommens von 1907 über die Rechte und Pflichten der Neutralen» lassen allerdings den Neutralen freie Hand in Bezug auf Ausfuhr und Durchfuhr von Kriegsmaterial und Kriegsmitteln, in Bezug auf Gestattung der Benützung von Telegraphen, drahtlosen Stationen etc., aber Art. 9 desselben Abkommens fügt dann ausdrücklich hinzu: «Alle Beschränkungen oder Verbote, die von einer neutralen Macht in Ansehung der in den Art. 7 & 8 erwähnten Gegenstände angeordnet werden, sind von ihr auf die Kriegführenden gleichmässig anzuwenden.»
Damit ist ohne weiteres die einseitige Sperre als neutralitätswidrig bezeichnet. Dass die Neutralität auch nicht ein rein militärischer Begriff sei, erhellt zur Genüge aus der Neutralitäts-Verordnung des Bundesrates vom 4. Aug. 1914, deren Ziff. 1 lautet: «Es ist strenge Unparteilichkeit in den Beziehungen zu allen Kriegführenden zu beobachten und jede Begünstigung eines Kriegführenden zu unterlassen.» Die Auffassung, die in dem oberwähnten Passus von Annexe 2 hervortritt, ist besonders auffallend, wenn man im Rapport der Herren Vuilleumier und Favre S. 4 liest: «En premier lieu il lui paraît (nämlich dem englischen Obersten Sackville-West!) que l’adhésion au point 1 de l’Art. XVI (mesures économiques, etc....) pourrait constituer déjà par elle-même un casus belli dans une telle mesure que la Suisse serait de ce fait obligée aux mêmes mesures que celles qui lui seraient imposées par l’abandon complet de sa neutralité (adhésion aux points 2 & 3 de l’Art. XVI.).»
Das ist also der Eindruck der sich Oberst Sackville ohne weiteres aufgedrängt hat.
Im Rapport der Herren Vuilleumier und Favre an den Chef des Politischen Departements steht sodann zu lesen: «M. Rappard estime que la rupture des relations économiques et autres (Art. XVI, 1) acceptée par la Suisse constitue déjà en fait un abandon de la neutralité, (même si elle peut se justifier au point de vue juridique) et par conséquent un casus belli. Les points 2 & 3 de l’Art. XVI (Coopération et droit de passage) perdent par là de leur importance, cependant au point de vue du peuple Suisse ils en garderont certainement et pourront influencer sa décision au moment du vote sur l’entrée dans la L.d.N. Il y a pourtant là une ambiguïté sur laquelle il faudra certainement s’expliquer une fois ou l’autre.»
Meines Erachtens sind die militärischen Vertreter des Polit. Departements in Bezug auf diesen Punkt in Paris zu wenig deutlich gewesen und haben zu sehr im Sinne der Eingangs erwähnten Auffassung des Bundesrates gesprochen, entgegen meiner Auffassung und sogar entgegen der Ansicht der Herren Rappard und Sackville-West. - Aus dem Schlüsse ihres Rapportes ergibt sich beinah, dass sie es für wichtiger hielten, Genf den Sitz des Völkerbundes zu erhalten als unsere Neutralität zu sichern.
Gegenüber der Auffassung der beiden vom Polit. Departemente beauftragten und instruierten Offiziere aber muss ich noch einen ganz bestimmten Vorbehalt machen: Sie gehen überall von der Annahme aus, jede Verletzung unserer Grenzen Seitens eines Kriegführenden ziehe unmittelbar den Einmarsch des Gegners zu unserm Schutze bzw. zur Abwehr nach sich. «Cette intervention immédiate est en fait déjà admise», wird gesagt. Das ist durchaus nicht so. Während des Weltkrieges hat auch die Armeeleitung, in voller Übereinstimmung mit dem Bundesrat (B. R. Hoffmann & B.R. Decoppet) bei vertraulichen Besprechungen mit militärischen Vertretern des Auslandes stets und entschieden den Standpunkt vertreten, dass die militärische Hülfe des Gegners des Invasor’s in jedem Falle nur auf ausdrückliches Begehren unserer Regierung eingreifen dürfe und dass es in erster Linie unsere eigene Sache sei, eine Grenzverletzung zurückzuweisen. Das ist nicht nur leicht begreiflich, sondern auch absolut notwendig und einer der wichtigsten Grundsätze unserer bewaffneten Neutralität. Von den fremden Militärs wurde der Satz auch stets willig und ohne Vorbehalt anerkannt. In meinem Berichte an den Bundesrat über diese Besprechungen ist dies klar festgelegt. - Das Zugeständnis der «intervention immédiate» des Gegners des Invasors würde uns bei jeder geringsten, aus Irrtum und unabsichtlich vorgekommenen Grenzverletzung in den Krieg verwickeln. Unser ganzer Grenzschutz-Aufwand wäre damit quasi wertlos gemacht.
Sollte unser Eintritt in den Völkerbund aber unter dem moralischen oder wirtschaftlichen Druck eines oder mehrerer Staaten erfolgen, so wäre damit unsere Unabhärtgigkeit und Selbständigkeit ipso facto dahin und der Satz der Wiener Akte von 1815, dass die Schweiz «libre de toute influence étrangère» sein solle, wäre aufgehoben. - Geradezu unfassbar aber erscheint die Befürchtung, unser Nichtbeitritt könnte als eine Allianz mit Deutschland angesehen werden. Eben weil wir keine Allianz wollen, es sei denn im Fall der tatsächlich eingetretenen Bedrohung unserer Existenz, bleiben wir ausserhalb des Völkerbundes, wie jeder vorausbestimmten Allianz. Was schliesslich die Aufhebung der in der Wiener Kongressakte ausgesprochenen Anerkennung unserer Neutralität anlangt, so hängt diese Neutralität nicht an diesem Anker, sondern an dem in unserem Volkswillen und in der Verfassung ruhenden und wird bestehen bleiben auch wenn die Kongressakte als ganz oder teilweise dahingefallen erklärt wird.
Es gibt sicherlich in der ganzen Sache nur ein Entweder - Oder: Beitritt zum Völkerbunde und Aufgeben unserer Neutralität oder Festhalten an unserer Neutralität und Fernbleiben vom Völkerbund.
Ein Beitritt unter Vorbehalten und Erklärungen schafft nur Zweideutigkeit und wird uns schliesslich immer wieder in dasselbe Dilemma bringen.
Relations to other documents
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Neutrality policy Questions concerning the Accession to International Organizations