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Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 7-I, doc. 342
volume linkBern 1979
Dettagli… |▼▶Collocazione
Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E2300#1000/716#1245* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 2300(-)1000/716 521 | |
Titolo dossier | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 34 (1919–1919) |
dodis.ch/44087
Die Stadt hat in dieser Woche neuerdings nervöse Schwankungen durchgemacht, und nichts ist sonderbarer zu konstatieren, als die fast allgemeine Ahnungslosigkeit über den nächsten Tag. Der rasche Wechsel des Gerüchtes und das Fehlen eines tatsächlichen Überblickes auch bei den Leitern des Staates vermehrt die Unruhe. Jede Schwankung in der internationalen Lage wird hier in diesem Zustand der Mutlosigkeit und ermüdeten Überreizung aufs deutlichste gespürt; letzte Woche konnte ich Ihnen einige Beruhigung signalisieren; aus allen offiziellen Äusserungen ging diese deutlich hervor, nicht zum wenigsten aus der Ansprache des Staatssekretärs für Heerwesen Deutsch an die Gagisten [!]; in den letzten Tagen nun mehrten sich die Zeichen bevorstehender Gewalttätigkeiten; seit längerer Zeit schon machte ich Sie auf die Mitte des Monats April als auf einen kritischen Zeitpunkt aufmerksam; seit 24 Stunden war ich nahe bevorstehende Auseinandersetzungen gewärtig, und jetzt während ich schreibe schiesst man vor dem Parlament. Arbeitslose und Heimkehrer, von russischen und ungarischen Agenten aufgehetzt, werden für die Kommunisten vorgetrieben. Die Volkswehr wird sich nicht anschliessen, ja voraussichtlich im Sinne der Ordnung einschreiten. Das Vorgehen der Kommunisten, das allerdings auch heute und morgen gelingen kann, hätte vor drei Wochen noch mehr Aussicht auf Erfolg gehabt. Die Volkswehr stand damals stärker links; die Hoffnungslosigkeit war grösser; die frischen ungarischen Ereignisse wirkten stark. Nun, seither stellte Cunningham das sofortige Aufhören der Versorgung fest, kam die französische Mission und erweckte Aussicht auf rasch bessernde Zukunft und es erfolgte das abschrekkende Münchener Beispiel. Denn dies Beispiel wirkte abschreckend und es ist unverkennbar wie der Wiener sich schmeichelt auf höherer Kulturstufe zu stehn als der Bayer oder gar Ungar. «Der Wiener bleibt auch beim Krawallisieren ein Cavalier», sagte mir ein Fiaker.
Anregend für die kommunistischen Absichten wirkte das amerikanische Verhalten gegenüber Ungarn, Smuts Mission. Und dann, vor Allem das Geld, das aus Ungarn reichlich fliesst. Ein ungarischer Gewährsmann versicherte mir, durch die Konfiskation von Wertgegenständen, Schmuck allein, sei in Pest eine verfügbare Propagandasumme von 2Vi Milliarden vorhanden. Der frühere ungarische Minister Garami, der mich vor seiner Abreise nach der Schweiz besuchte, erzählte, die Anstrengungen zur Gewinnung Wiens seien von russisch-ungarischer Seite aufs Äusserste angespannt; von dem einmal gewonnenen Wien aus sei dann eine direkte Verbindung nach Paris vorhanden. Heute scheint es, dass Wien sich hält, wie lange, hängt von den Entschliessungen der Entente ab; bleibt sie passiv, so wird die ungarische Bestechung unfehlbar wirken; jetzt sollen schon den Gasarbeitern für den Fall eines Streiks 100 Kronen in der Stunde angeboten werden. Die Regierung in ihrer Gesamtheit steht dem ungarischen Kommunismus fern. Deutsch möchte wohl hinüber, er sieht aber die Abhängigkeit von der Entente zu deutlich um gewagtes Spiel zu spielen; Bauer, nach wie vor enigmatisch, schweigt sich aus und gewisse Details seiner Amtsführung, wie das Dulden ungarischer und russischer Missionen, das Unterstützen gewisser Budapester Wünsche - besonders Verfolgung von Aristokraten - zeigt ein Offenhalten nach neuen Möglichkeiten hin. Baron Franz, der deutschösterreichische Gesandte im Haag, der vielfach für einen sehr fähigen, ja macchiavellistischen Diplomaten gehalten wird, behauptet, Bauers Ehrgeiz erstrecke sich auf die Präsidentschaft der vereinigten sozialistischen deutschen Staaten und er rechne zu seinen eigenen Gunsten mit dem Abwirtschaften der Regierung Scheidemann.
Während in München Wahnsinnige drei Tage lang die höchste Gewalt ausüben und in den Strassen ziellos gemordet wird, vollzieht sich in Pest der kommunistische Prozess mit ruhiger destruktiver Präzision; wer gestern noch ein grosser Herr war ist heute bettelarm, die Führer der Industrie arbeiten als Angestellte des Staates und regiert wird von diesem modernen Typus des Halbgebildeten: Kaffeehaustheoretiker, alles Juden, die jahrelang in unproduktiven Theorien unbefriedigtem Machttrieb huldigten, kommen heute anstrengungslos zu dem Einfluss eines antiken Imperators. Treue und aufbauende Arbeit ist verpönt, heute gilt die Schaumschlägerei populärer Überredungskunst, Reklame, Bestechung, das Aufpeitschen der niedrigsten Instinkte und alles mündet in die diktatorische Anwendung einer dürren und armseligen Theorie, unter der das Leben in seinen tausend Formen und Möglichkeiten erstickt. Umwertung aller Werte, Verlust aller ethischen Anschauungen. Bolgar, der ungarische Bevollmächtigte für Wien, triumphiert in schwülstiger Prosa: endlich brächen die kraftvollen Urinstinkte aus dem Volk hervor: Hass und Lüge, wunderbare Kräfte. Bolgar, dem ich seinen Besuch privat zurückgab, hat die Physionomie eines pathologischen Verbrechers. In einem Kommuniqué der Pester Regierung stand: Heute gilt nicht mehr Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern beide Augen um Eines, alle Zähne um Einen.
Während nun Wien auf dem Spiel steht, Russland sich von seiner eigenen unerschöpflichen Zersetzung erhält und seine unter Terror und Not hart gewordene Armee bald den ungarischen Extremisten zu Hilfe führen wird, während Deutschland in schwersten innern Kämpfen die Überlastung der Versailler Postulate tragen muss, scheint sich, von hier aus gesehen, das westliche Europa in folgender Weise zu den Wandlungen der besiegten Staaten zu verhalten:
An ein militärisches energisches Eingreifen wagt man sich ungern heran. Der Erschöpfung der eigenen Linksparteien wegen und entschieden auch in Anbetracht gewisser Unstimmigkeiten innerhalb des Verbandes. Allizé, mit dem ich freundschaftliche Beziehungen unterhalte, ist für die Besetzung Wiens. Er erzählte mir, jemand habe den Amerikanern ein Memorandum die Besetzungsfrage betreffend übergeben. In Abwesenheit Coolidges sei ein junger Stellvertreter mit dem Dokument direkt zu Renner gegangen, um ihn zu fragen, was er darüber denke. Renner, obschon im Grunde damit einverstanden, habe den Entrüsteten spielen müssen und habe dann das amtliche Kommuniqué erlassen, in welchem er den Veranlasser fremder Intervention als Hochverräter bezeichnete und die fremden Befürworter der Besetzung als lästige Ausländer mit Ausweisung bedrohte. Allizé ist auch der Ansicht, dass die Amerikaner einer Besetzung entgegenwirken, auch spiele italienische Eifersucht mit, wie denn ein Artikel des Corriere über Allizés Wiener Mission deutliche Verstimmung über das Interesse bekundet, das Frankreich der deutschösterreichischen Frage entgegenbringt. Allizé wies vor allem hin auf das mutmassliche Erstaunen der Amerikaner bei einer Einmischung europäischer Grossmächte in interne amerikanische Angelegenheiten. Ihm erscheint Amerikas Ingerenz in die Angelegenheiten der frühem Monarchie höchst unangebracht. Über Italien sprechen die Herren der französischen Mission mit unverhohlener Geringschätzung. Für ausgeschlossen hält Allizé den Entschluss zur Besetzung französischerseits nicht, den Engländern liege die Frage noch immer ziemlich fern, doch hätten sie immerhin einige Interessen dabei.
In der Annahme und Rechnung mit staatlichen Organismen unserer bisherigen historischen Anschauungen, ohne die Voraussetzung des alle organischen Gebilde zu einer amorphen Masse verschmelzenden Bolschewismus, ist ein Hauptprogrammpunkt der franz. Mission: Die Verhinderung des Anschlusses.
Allizé hat bestimmten Auftrag dagegen zu arbeiten. Er hat auch bestimmte Propositionen, von denen er mich ermächtigt Gebrauch zu machen. Auch Österreich gegenüber; er bittet mich sogar darum.
Frankreich im Einverständnis mit England schlägt vor: Erstens Neutralisierung Deutschösterreichs. Zweitens durch Abkommen, die international garantiert werden könnten, wird die wirtschaftliche Existenz Deutschösterreichs gesichert, so namentlich Einfuhr von Rohstoffen, Zugang zu den Seehäfen (Italien und Zcecho-Slowakien sind einverstanden). Drittens: sieht Deutschösterreich vom Anschluss ab, so wird ihm auch finanziell geholfen, etwa durch mässige Forderungen für Kriegsschäden und namentlich durch Gewährung von Anleihen. Viertens: von einer Donauföderation als solcher wird aus Rücksicht gegen Italien abgesehn, anzustreben wäre nur eine rein wirtschaftliche Verständigung mit den übrigen Nationalstaaten. Fünftens: die Frage von Deutschsüdtirol; vielleicht könnte es, eventuell das ganze Tirol, noch strenger neutralisiert werden als Deutschösterreich, d.h. es würde, wie es für das linke Rheinufer geplant ist, ein Verbot der militärischen Besetzung und der Befestigung erlassen. Ob die Italiener auf einen solchen Plan eingehen werden, weiss indessen Allizé vorderhand nicht. Sechstens: wenn Deutschösterreich unabhängig bleibt, so scheint Allizé anzunehmen, dass Vorarlberg nicht abgetrennt würde. Kommt dagegen der Anschluss, so müsste Vorarlberg unbedingt, eventuell sogar ganz Tirol, zu der Schweiz kommen. Coolidge, der amerikanische politische Kommissär für die Donauländer, sagte mir, in Vorarlberg sei fast die Gesamtheit der Bevölkerung für den Anschluss an die Schweiz, dagegen seien nur die Industrien, die von schweizerischen Unternehmern geleitet werden und die Zollvorzüge nicht aufgeben wollen.
Unbeschadet der sozialen Umwälzungen besitzen die nationalen Einzelinteressen immer noch eine grosse Wichtigkeit. Landeshauptmann Dr. Lodgmann, bei dem ich letzthin dinierte, stellte mir die Verhältnisse seiner deutschböhmischen Heimat in folgender Weise dar: Die Deutschböhmen sind für den Anschluss an Deutschösterreich und an Deutschland, weil sie einmal ihren namentlich tschechischen Nachbarn nicht trauen und dann weil sie auf die Versprechungen der Entente (Franzosen) nicht viel geben - offenbar sind ihnen auch noch keine direkten Eröffnungen gemacht worden. Was mich in den Konversationen am meisten frappierte und was ausdrücklich hervorgehoben wurde, ist, dass es keinen deutschösterreichischen Patriotismus gibt. Für Deutschösterreich begeistert sich niemand; der Wiener liebt Wien, der Tiroler Tirol und die Länder wollen alle nicht von Wien aus regiert werden. Die Deutschböhmen fühlen vielmehr deutsch wie österreichisch. Der Wiener ist den Ländern zu unpolitisch; der gewesene Staatssekretär für Heerwesen sagte mir letzthin, in Wien sei das wirkliche Bedürfnis der Bevölkerung nur, «seine Ruhe haben» und das Essen. Wenn das Essen komme dürfe auch die Rote Garde keinen Putsch mehr wagen.
In allernächster Zeit steht eine reaktionäre Bewegung in Budapest bevor, die Wahlen sind bei allzugrossem Druck der Kommunisten entstanden, kein Wähler konnte die Stimmzettel selbst in die Urne tun, er musste sie einem roten Gardisten übergeben. In Böhmen erwartet man Streiks. All diese Ereignisse werden auf das gespannte Wien wirken wie auf einen Seismographen.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Wien, Archiv-Nr. 34. Ce rapport est signé du Ministre Bourcart, mais il porte des corrections manuscrites de C.J. Burckhardt.↩
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La questione del Vorarlberg (1919)