Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 284
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#584* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 282 | |
Dossier title | Moskau, Konsularberichte aus Moskau, Jalta, Kiew, Odessa und Tiflis, Band 1 (1917–1922) |
dodis.ch/44029
Nachdem durch die Ausreise aus Russland unserer Gesandtschaft auch mein Amt als Vice-Consul in Moskau erloschen ist, beehre ich mich, Ihnen in folgendem einen kurzen ad hoc verfassten Bericht zu überreichen, der Ihnen über das Verhältnis der gegenwärtigen Regierung in Russland jetzt und später einige Hinweise übermitteln soll, wie sich dieselben mir laut eigener Beobachtung aufdrängen.
Durch den Abbruch der diplomatischen Beziehungen fast aller Kulturstaaten zur Sowjetregierung und durch die Rückziehung der diplomatischen Vertreter sah sich die Sowietregierung nach und nach von allen übrigen Staaten isoliert. Offenbar war im Programm der Maximalisten dieser Ausgang vorausgesehen, denn der Abbruch wurde jedesmal mit ziemlicher Ruhe, wenn nicht Gleichgültigkeit, wenigstens nach aussen hin, aufgenommen. Der Abbruch unserer Beziehungen fand zu allerletzt statt. Trotz der zur Schau getragenen Ruhe der Vertreter des Volkskommissariats für Auswärtiges in Moskau, Tschitscherin und Karachan, war eine gewisse Erregung doch zu merken. Karachan sagte mir wörtlich: «Die Schweizer Regierung hat uns nie voll anerkannt; wir haben uns zwar daraus nichts gemacht, da die Beziehungen nach einer anfänglichen Spannung sich beiderseits so gefestigt hatten, dass uns dieser Zustand genügen konnte. Die Ausweisung unserer Mission aus Bern kam aber derart überraschend und unmotiviert, dass wir nicht anders können, als diesen Schritt der Schweizer Regierung als eine Beleidigung gegen uns aufzufassen. Wir werden selbstverständlich daraus unsere Konsequenzen ziehen. Ihre Vertreter werden von uns gleich behandelt werden; ausserdem werden auch die in Russland sich aufhaltenden Schweizerbürger den russischen Bürgern völlig gleichgestellt; wir werden also an ihnen keine Repressalien ausüben, jedoch gehen sie aller Vorrechte, die sie bis anhin noch genossen, verlustig.»
In der Folge hatten sich die Wogen der Entrüstung wohl wieder etwas geglättet; der Schritt unserer Regierung wurde als eine Zwangsmassnahme von seiten der Entente ausgelegt; natürlich musste sich die kleine Schweiz dem Willen der Entente fügen, wurde gesagt, «wir wissen ganz genau, dass das Schweizer Volk auf unserer Seite steht und den Schritt seiner Bourgeois-Regierung nicht billigt; es wird ja auch einmal die Zeit kommen, wo das Schweizervolk die uns angetane Schmach rächen wird!» Die Stimmung gegen die Schweizer in Russland war dann eher wieder milde geworden, wie Sie aus meinen Spezialberichten aus Moskau ersehen haben. Dank einer offenen Aussprache, die unser Herr Minister Junod mit Karachan hatte, musste sich letzterer dazu bequemen, verschiedene Punkte des hasserfüllten Bolschewik-Programms einigermassen zu mildern. Die Beziehungen zu den Ententestaaten waren denn auch tatsächlich bedeutend gespanntere wie gegen uns. Die Ententestaaten waren deshalb so vorsichtig, ihre Bürger und Untertanen möglichst rechtzeitig aus Sowiet-Russland zu entfernen. Unsere Kolonie, die seit Ausbruch des Krieges weitaus die grösste war, wurde bekanntlich von uns ebenfalls aufgefordert, das Land zu verlassen; es gelang aber leider infolge der mangelnden Transportmittel und dem Mangel an Kommunikationsmitteln wie Post und Telegraph nicht, genügend rasch und energisch die Evakuation vorzunehmen, so dass trotz der Ausreise von über 1000 Schweizern aus dem Moskauer Konsulatsbezirk nach den Aufzeichnungen im Konsulat immer noch über 700 zurückgeblieben sein müssen, die auf dem Land herum zerstreut sind.
Die Beziehungen zu den übrigen neutralen Ländern, Schweden, Dänemark, Norwegen und Holland sind, ähnlich wie zu uns, grösstenteils abwartend; dabei muss betont werden, dass es fast keine Angehörigen dieser Länder mehr in Sowiet-Russland gibt. Die meisten Chikanen muss Holland erleiden; die grösste Bevorzugung geniesst Dänemark. Gegen Norwegen hat sich die Stimmung im Kommissariat für Auswärtiges gerade vor meiner Ausreise aus Moskau ebenfalls sehr verschärft, wohl deshalb, weil Norwegen als ein Land galt, das für sozialistische Experimente immer ein gewisses Verständnis zeigte, nun aber den dortigen Bolschewik-Vertreter ohne viel Umstände entlassen hat. Man ging soweit, das Konsulatslokal zu requirieren, «da dasselbe ja jetzt nicht mehr notwendig sei». Die Beziehungen zu den Centralstaaten, namentlich Deutschland, waren abwartend, man wollte das Ergebnis der Spartakusbewegung abwarten. Irgend welche Verbindungen mit der deutschen republikanischen Regierung wurden nicht unterhalten. Bekanntlich wurde Radek nach Berlin gesandt, um dort die Räte-Republik einzuführen; durch die deutsche Regierung wurde derselbe im Gefängnis interniert, was inzwischen in den Zeitungen der Nationalisten möglichst totgeschwiegen wurde, so dass man in Moskau glauben sollte, Radek sei verschollen. Es wurde meist behauptet, dass die deutsche Regierung mit der Maximalistenpartei sympatisiere, aber noch einige Männer an der Spitze Umtauschen müsse, da die gegenwärtigen ihr Amt nicht nach dem Wunsche des Volkes ausüben.
So waren die Beziehungen ungefähr, als unsere Gesandtschaft Russland verliess: abwartend. Es wurde aber des öftern betont, dass die Maximalisten-Politik Realpolitik sei, die frei von aller Sentimentalität alles niederreissen werde, was ihr entgegengestellt werde. Falls die ausländischen Staaten nicht mittun wollen, werde die Räterepublik schon Mittel finden, die Bevölkerung überall auf ihre Seite zu bekommen. Von der Schweiz sagte Radek einmal, dass vorläufig für die Bolschewiki gar keine Notwendigkeit vorliege, sie gewaltsam zu revolutionieren; im Gegenteil, sie wünschen möglichst gute Beziehungen zu erhalten, «denn wir brauchen die Schweiz als Guckfenster zu Frankreich!»
Da nun alle Länder von Bedeutung mit den Maximalisten die diplomatischen Beziehungen abgebrochen haben, musste man wohl annehmen, dass es mit deren Herrlichkeit bald aus sein sollte. Meiner Ansicht nach ist es aber eine Täuschung, wenn man sich ihr Ende in allernächster Zeit kommen denkt. Da es relativ ein kleines Häufchen ist, das die Menge terrorisiert, war es nicht sehr schwer, genügend Vorräte für eine recht lange Campagne zu requirieren und zu «nationalisieren». Für die Rote Armee wird sich auch immer Nahrung finden, da laut Dekret alles was in Russland noch produciert wird, in erster Linie für die Rote Armee bestimmt worden ist; dem hungernden Volk wird sein Letztes fortgenommen, damit seine Peiniger nicht zu früh ihren Terror einzustellen gezwungen sind! Da die Spekulanten des Krieges grosse Mengen an Waren und sogar Lebensmitteln angehäuft haben, war es ein Leichtes, sich dieser Sachen zu bemächtigen; dabei konnte dem Volk noch erzählt werden, dass alle diese Requisitionen usw. nur im Interesse des Volkes selbst gemacht wurden, um den Spekulanten zu Leibe zu rücken, d.h. das Volk vor Ausbeutung zu schützen! Es ist wohl möglich, dass nie dagewesene Epidemien in die Rote Armee eindringen und deren Auflösung beschleunigen helfen; da muss aber wieder eingewandt werden, dass leider zuerst das ungenügend ernährte, verängstigte und übermüdete Volk zum Opfer fallen muss, da sein Organismus weniger Widerstand leistet. Die Epidemien werden daher jetzt schon als Reklame für den Bolschewismus ausgenützt. Mir sagte kurz vor meiner Abreise ein Rotgardist: «Uns Bolschewiki werden die Epidemien nichts antun können, wir verstehen uns gegen sie zu schützen. Nur unsere Gegner werden ihnen zum Opfer fallen!» Die Verlotterung des Eisenbahnwesens geht zwar mit Riesenschritten vorwärts, doch glaube ich, dass für die Sowiet-Regierung immer noch genügend Rollmaterial zur Verfügung steht, um ihre Zwecke zu befriedigen. Mir scheint es deshalb unwahrscheinlich, dass die Bolschewiki in Russland vor dem Herbste abwirtschaften können, trotz der Sperre gegen sie von Seiten aller civilisierten Staaten.
In dieser Zeit kann aber noch unendlich viel Unheil angerichtet werden und wird noch viel unschuldiges Blut fliessen. Was soll nun gemacht werden, um wenigstens die in Russland gebliebenen Ausländer, so gut es wohl geht, zu schützen? Ich meine, es muss unbedingt ein Weg gefunden werden, dieselben unter die Kontrolle einer Organisation zu stellen, die, politisch vollkommen neutral, genügend Macht besitzt, den Maximalisten Respekt einzuflössen. Als solche Organisation kann wohl nur die Institution des Roten Kreuzes in Frage kommen. Wohl wurde das Rote Kreuz ursprünglich nicht zu diesem Zwecke gegründet; sein Wirkungsfeld war die Bekämpfung der Barbarei im Kriege. Aber damals hat wohl niemand daran gedacht, dass die Barbarei nach dem Kriege, die wir jetzt erleben, unter gesitteten Völkern möglich wäre! Auch wir stehen ja mitten in einem Kriege: es ist der Kampf der Kultur gegen die Unkultur!
Unseren Landsleuten, die in Russland geblieben sind, sollten wir keine Vorwürfe machen und ihnen unsern Schutz nicht entziehen; wir werden sie einmal noch benötigen, wenn es gilt, die Beziehungen wieder anzuknüpfen! Sie werden dann unsere Pioniere sein. In der Schweiz haben wir ja bereits schon zu viel brotlose Auslandschweizer; darum müssten wir die Zurückgebliebenen nicht entmutigen, indem wir alle Bande zwischen ihnen und uns zerreissen! Da selbstverständlich die diplomatischen Beziehungen nicht mehr angeknüpft werden können und unsere politischen Behörden unter allen Umständen ausgeschaltet bleiben müssen, könnte die Organisation unseres Roten Kreuzes helfend eingreifen. Der Volkskommissar Karachan wünschte bereits, dass unsere Landsleute unter den Schutz des Dänischen Roten Kreuzes zu stellen seien; uns Schweizern konnte diese Idee natürlich nicht sympatisch sein, da wir selbst ein Rotes Kreuz besitzen, das dem Dänischen in Nichts nachsteht! Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass das Dänische Rote Kreuz von vornherein in Moskau eine gewisse Popularität besass; schon zur Zeit der alten, kaiserlichen Regierung war Dänemark durch einen sehr vorteilhaften Handels- und Niederlassungsvertrag ausgezeichnet. Bei der provisorischen Regierung Kerenskys wuchs die Popularität Dänemarks noch zusehends und wurde die dänische Flagge diejenige, die am meisten respektiert wurde und darum auch am meisten zu sehen war. Als die Bolschewiki die Herrschaft antraten, übernahm Dänemark den Schutz der Franzosen und bald darauf sämtlicher Entente- und mehrerer neutraler Staaten. Es lag deshalb nahe, auch unsern Schutz der dänischen Vertretung - die nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch das Rote Kreuz vertreten wird - zu übertragen. Da aber, soviel mir bekannt ist, unsere Regierung von keiner Seite befragt worden ist, hatten wir Russlandschweizer allen Grund, uns diesem Vorschlag gegenüber skeptisch zu verhalten, um so mehr, da auch Herr Minister Junod unsere Auffassung teilte. Bei näherem Zusehen erscheint es nämlich, dass das Dänische Rote Kreuz für unseren Schutz nicht genügend objektiv ist; der Moskauer Vertreter, Herr Dr. Martini, macht den Eindruck eines Mannes, der es versteht, die Konjunktur in einer ihm persönlich geeignet scheinenden Weise auszunutzen; namentlich, nachdem er sich vor etwa einem Jahr mit einer russischen Jüdin verheiratet hat, wird das Dänische Rote Kreuz vom Kommissariat für Auswärtiges ganz besonders protegiert. Da das Dänische Rote Kreuz mit Arbeit sowieso überladen ist, war es Dr. Martini sichtlich angenehm, als ich ihm vor meiner Abreise erklärte, dass unsere Kolonie ein Komité gewählt habe, das die Arbeit des Konsulats übernehmen und in allen internen Fragen, die Kolonie betreffend, selbständig arbeiten werde. Bloss in verwickelteren, allgemeinen Fragen internationalen Charakters werde sich das Komité an ihn wenden. Karachan war mit diesem Arrangement bis auf weiteres einverstanden, erklärte aber, dass dieser Zustand auf die Dauer nicht beibehalten werden könne und in kürzester Zeit definitiver geregelt werden müsse, da das Komité der Schweizer Kolonie nicht als officielle Organisation anerkannt werden könne. Ich schlug darauf vor, solange das Provisorium anzuerkennen, bis in der Schweiz eine befriedigende Lösung gefunden sei. Er willigte ein unter der Bedingung, dass die Angelegenheit sofort nach meiner Ankunft in Bern geregelt werden müsse; er betonte ausdrücklich, dass er die Vertretung anerkennen werde, sobald sie officiel vom Roten Kreuz in der Schweiz beglaubigt und genehmigt sei. Ich bitte Sie daher, unserer Kolonie in Russland beizustehen in ihrer Not; eine Verschleppung eines positiven Entschlusses kann für die Zurückgebliebenen katastrophale Folgen haben, da bekanntlich die Maximalisten vor nichts mehr zurückschrecken! Die praktische Lösung meines Vorschlages wäre meiner Ansicht nach am einfachsten folgende: Das Schweizerische Rote Kreuz ernennt zwei Delegierte, die sich nach Russland begeben müssten, um die Verhältnisse in Bezug auf die dort befindlichen Schweizer zu untersuchen. Diese Herren müssten sich in Verbindung mit den Komités in Petersburg und Moskau setzen und darnach trachten, mit dem Komité des Schweizerischen Roten Kreuzes durch Kuriere in Verbindung zu bleiben. Selbstredend müsste jede politische Betätigung des Komités in Moskau und Petrograd wie der beiden Rot-Kreuz-Vertreter unterbleiben und nur der eigentliche persönliche Schutz unserer Landsleute geübt werden. Das würde den Kurierdienst sicherstellen, der ja im Princip schon auf Zusehen hin bewilligt worden ist. Da unsere Komités bereits durch die gegenwärtigen Verhältnisse mit der Tätigkeit, die ihnen zugewiesen wird, vertraut sind, könnte jemand von ihnen als Vertreter des Roten Kreuzes ernannt werden; es hätte diese Lösung den Vorteil der Billigkeit. Da unsere Kolonien dringend Nahrungsmittel und Medikamente bedürfen, Hessen sich durch den Schutz des Roten Kreuzes diese Produkte leichter einführen als bisher, da bei Gewalttätigkeiten der Protest des Roten Kreuzes beim russischen Volk wirksamer ist als von Regierungsvertretern, die schon längst das Zutrauen verloren haben (infolge der masslosen bolschewistischen Hetze); auch die Bolschewiki selbst rechnen noch mit den Protesten des Roten Kreuzes mehr wie mit den Protesten der Regierungen! Unsere Konsulate in Moskau und Petrograd müssten dann in Agenturen des Schweizerischen Roten Kreuzes umgenannt werden, während an einem Orte der Schweiz ein Centralkanzler zur Sichtung und Verarbeitung des Materials für die Zukunft eingerichtet werden müsste, wie dies z. B. für das Schwedische Generalkonsulat aus Moskau in Stockholm gemacht wurde, wo sämtliche Dossiers verarbeitet werden, die in Moskau nicht liquidiert werden konnten.
Es würde mich sehr freuen, wenn meine Anregungen von Ihnen sympathisch aufgenommen werden könnten und unsere in Russland zurückgebliebenen Landsleute - die nicht die schlechtesten Schweizer sind und mehr Fürsorge bedürfen als die, die von dort nach Hause gefahren sind und hier nichts recht finden und überall bloss nörgeln - wieder officiellen Schutz erhalten könnten. Für jede weitere Auskunftserteilung stehe ich Ihnen stets gerne zur Disposition und danke Ihnen im Namen der Kolonie für alles, was Sie bisher für dieselbe getan haben.
- 1
- Rapport: E 2300 Moskau, Archiv-Nr. 1.↩
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