Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 70
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#102* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 55 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 19 (1918–1918) | |
File reference archive | 019 |
dodis.ch/43815
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Im allgemeinen ist die Situation immer sehr unerfreulich. Der Hauptübelstand ist wohl die Schwäche der Regierung, die, da sie sich zur Hälfte aus Mehrheitssozialisten und zur Hälfte aus unabhängigen Sozialisten zusammensetzt, in ihren Entschliessungen wie ein schwaches Rohr hin und her schwankt. Während ich diese Zeilen schreibe, tagen Zentralrat und Volksbeauftragte und wohl auch noch andere Zuzüger, um die latente Kabinettskrisis aus der Welt zu schaffen. Es lohnt sich nicht, sich über die Chancen der Lösung der Krise heute schon auszusprechen, da man die widersprechendsten Meinungen hierüber zu hören bekommt. Überhaupt ist das Charakteristische der gegenwärtigen Zeit, dass niemand - ob hoch oder niedrig, Amtsperson oder Privatperson - irgend etwas Bestimmtes weiss. Überall stösst man nur auf Gerüchte, Vermutungen und widersprechende Ansichten.
Klar zutage tritt nur die auch für die Schweiz ausserordentlich betrübende und gefährliche Tatsache, dass die Unordnung und die bolschewistische Demoralisation immer mehr an Umfang gewinnt.
Über die bösen Zustände in Berlin sind Sie zur Genüge orientiert. In Bremen hat der Arbeiter- und Soldatenrat beschlossen, alle über 24 Jahre alten Proletarier zu bewaffnen, «um die Errungenschaften der Revolution zu sichern». Im Ruhrgebiet streiken Tausende von Bergleuten. Auf dem Schacht Königsberg der «Guten Hoffnungshütte» kam es sogar zu einem regelrechten Gefecht mit den Soldaten des den Schacht bewachenden Generalsoldatenrates von Münster. Viele Verwundete und wahrscheinlich auch eine Anzahl Tote.
Die öffentliche Unsicherheit, Raub, Diebstahl etc. nimmt beständig zu. Ebenso die Unordnung und Disciplinlosigkeit in den öffentlichen Betrieben. Sehr deutlich macht sich das z. B. beim Telephon in Berlin bemerkbar, das heute kaum mehr ein Drittel so leistungsfähig ist als vor der Revolution.
Angestellte der verschiedensten Berufsarten werden oft sogar durch ihnen unbekannte Personen, durch anonyme Flugblätter oder durch irgendwelche «Räte» zu unvernünftigen Begehren betreffend Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhung oder zu Streiks gezwungen.
Auffallend ist die Apathie, mit der sich alle Leute solchen terroristischen Anordnungen fügen.
Schweizer, Russen und Deutsche, welche die Revolutionen in Russland mitgemacht haben und welche Gelegenheit hatten, die hiesige Entwicklung der Dinge zu verfolgen, sprechen sich einmütig dahin aus, dass Deutschland verurteilt sei, der gleichen bolschewistischen Verseuchung anheimzufallen wie Russland. Bisher hätte sich hier alles genau gleich abgespielt wie dort. Angesichts der Schwäche der Regierung erscheint als einziges Mittel, der bolschewistischen Verseuchung von Deutschland und damit auch der Schweiz und wahrscheinlich ganz Europas entgegenzutreten, jedermann die schleunige Besetzung der bolschewistischen Zentren Deutschlands durch die Entente. Ich teile diese Ansicht selber durchaus, um so mehr als sich die, wie sachkundige Leute behaupten, ausserordentlich gut disciplinierte bolschewistische Armee mit raschen Schritten der deutschen Grenze nähert und als es nicht an russischen Versuchen aller Art fehlt, Einfluss auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland zu gewinnen.
In diesem Zusammenhange ist es ausserordentlich bedauerlich, dass die Ententestaaten anscheinend glauben, die Bolschewikisierung Deutschlands gehe sie nichts an, sondern sie sei eine Sache, der sie als unbeteiligte Zuschauer oder vielleicht sogar als lachende Dritte zusehen könnten und dürften. Meines Erachtens wird die bolschewistische Welle weder am Rhein noch am Bodensee Halt machen, wenn sie einmal so weit gelangt sein wird. Rasches Handeln läge daher im europäischen Interesse.
Resümierend scheint mir für Europa als auch für die Schweiz die Bekämpfung und womöglich Ausrottung des Bolschewismus von allen politischen Problemen das wichtigste und dringendste zu sein.
- 1
- E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 19/2. Remarque marginale manuscrite de F. Calonder en tête du document: In Zirkulation/. - Telegrlaphischel Mitteilung an die Gesandten Rom, Paris, London zur Orientierung.↩
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