Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 58
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001B#1000/1508#3* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(B)1000/1508 1 | |
Dossier title | Après - Guerre (1917–1918) | |
File reference archive | B.56.41.01.01 |
dodis.ch/43803
Übergangs- und Friedenswirtschaft
Auf Grund eines Antrags des Politischen Departements und des bezüglichen
Mitberichts des Volkswirtschaftsdepartements hat der Bundesrat seiner Zeit3 die
Departemente eingeladen, diejenigen in ihr Tätigkeitsgebiet fallenden Fragen zu bezeichnen, die im Hinblick auf die Friedensverhandlungen sowie auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Schweiz zu den ändern Staaten von hervorragender Bedeutung sind oder die mit Rücksicht auf die Übergangs- und
Friedenswirtschaft eines besondern Studiums bedürfen.
Wie das Volkswirtschaftsdepartement schon im erwähnten Mitbericht angedeutet hat, umfasst das wirtschaftliche Programm hauptsächlich die Regelung des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft und die Ordnung unserer
künftigen Handelsbeziehungen durch den Abschluss neuer Handelsverträge nach vorausgegangener Zolltarifrevision. Andere Aufgaben werden u. a. in der Abwehr der sogenannten wirtschaftlichen Überfremdung und im Ausbau unseres Konsularsystems zu suchen sein.
Des Nähern bemerken wir zu diesen einzelnen Punkten folgendes:
1. Der Übergang zur Friedenswirtschaft. Derselbe wird sich auf Seiten Deutschlands wahrscheinlich rasch vollziehen. Bereits sind in Folge der jüngsten Ereignisse einige der grössten Verkehrshemmnisse sozusagen von heute auf morgen dahingefallen, nämlich die Unterseeblockade und damit auch die Formalität der Geleitscheine, ferner die der SSS nachgebildete deutsche Kontrolle in der Schweiz (S.T.S.). In Deutschland selbst hat ein weiterer Abbau der Kriegswirtschaft durch völlige Aufhebung der schwarzen Listen und einer Anzahl von Ausfuhrverboten, sowie durch eine mildere Handhabung der noch verbleibenden Verbote begonnen. Unsere nächste Aufgabe ist es, im Verein mit den nordischen Staaten auf eine völlige Beseitigung der künstlichen Hemmnisse, insbesondere auch der Durchfuhrverbote hinzuwirken.
In Österreich-Ungarn ist in Folge der Auflösung des Reiches und der Unfertigkeit der Zustände in den Teilstaaten, welche sich gebildet haben, zur Aufhebung der Verkehrsverbote noch nichts geschehen. Ebenso ist auf der Ententeseite noch keine Spur von Abrüstung zu verzeichnen. Es scheint, dass die Beschlüsse der Pariser Wirtschaftskonferenz von 1916 im Sinne einer Verlängerung des Blocus gegen Deutschland voll und ganz zur Ausführung gebracht werden sollen. Die Kontingentierung unseres Landes und der übrigen Neutralen wird daher fortgesetzt. Die SSS wird unter diesen Umständen wohl noch längere Zeit fortbestehen müssen. Aus dem gleichen Grunde können auch unsere Ausfuhrverbote noch nicht aufgehoben werden. Auch die Einfuhrverbote der Ententeländer sind noch unvermindert in Kraft und es müssen immer wieder neue Abmachungen versucht werden, um die nötigsten Kontingente für unsere Exportindustrien zu erhalten. Da wir keine grossen finanziellen Opfer in Form von Vorschüssen mehr bringen können, ist dies schwierig geworden. Bezügliche Unterhandlungen, die mit England schon im Sommer angeknüpft worden sind, haben noch nicht zum Ziele geführt, obschon der Kurs sich dem normalen Stande bedeutend genähert hat. Der Export von Seidenwaren und Stickereien nach diesem Hauptabsatzgebiete stockt deshalb seit Monaten. Was das Finanz- und Handelsabkommen mit Frankreich, das kürzlich um zwei Monate verlängert worden ist, betrifft, so geht dasselbe mit Neujahr zu Ende. Es werden daher auch mit diesem Lande wieder Unterhandlungen erforderlich sein, um bis zum Friedensschluss einen neuen Modus vivendi herbeizuführen. Wir dürften erwarten, dass die Grenzen der kriegführenden Länder sich nach dem Frieden für die Einfuhr wieder öffnen werden. Jedoch ist es zweifelhaft, ob sich diese Erwartung erfüllen werde, sofern die Kurse bis dahin nicht ihren normalen Stand erreicht haben werden. Auch hat die englische Regierung uns diesen Sommer mitgeteilt, dass sie sich gezwungen sehen werde, ihre Alliierten nach dem Kriege trotz der Meistbegünstigungsklausel des Handelsvertrags noch eine Zeit lang zu begünstigen. Ohne Zweifel wird Frankreich und vielleicht auch Italien einen ähnlichen Standpunkt einnehmen, obschon uns in dieser Hinsicht noch nichts notifiziert worden ist. Wir nehmen dieser Eventualität gegenüber einstweilen eine abwartende Haltung ein, werden uns aber über die definitive Stellungnahme zu einer solchen Nichtachtung der Verträge noch schlüssig zu machen haben.
Hinsichtlich der Kontingentierung unseres Landes, der Tonnagebedingungen und der Ausfuhrbeschränkungen unter SSS-Kontrolle werden unsere Bemühungen um eine allmählige Abrüstung nun einsetzen müssen. Mit Bezug auf die Ausfuhr ist bereits ein Anfang gemacht worden, indem wir bei der Commission interalliée in Bern vorderhand den Antrag gestellt haben, die im Reglement der SSS
figurierende, nach und nach stark reduzierte Liste derjenigen spezifisch schweizerischen Artikel, welche nach den Zentralländern ausgeführt werden können, wieder auf ihren ursprünglichen Inbegriff auszudehnen.
2. Die Zolltarif revision und die Handelsverträge. Zum Zwecke der bevorstehenden Erneuerung unserer sogenannten Tarifverträge, die erstmals auf Ende
1917 gekündet werden konnten, sowie auch zur etwelchen Verbesserung unserer
Finanzen hatte der Bundesrat schon im Sommer 1913 eine Revision des Zolltarifs und eine bezügliche Enquête beschlossen, dabei aber den Grundsatz aufgestellt, dass die Tarifänderungen auf das Notwendige zu beschränken seien. Die
Enquête und die statistischen Vorarbeiten waren schon ziemlich weit gediehen,
als der Krieg ausbrach und den Abschluss derselben verhinderte. Vor längerer
Zeit sind die Arbeiten wieder aufgenommen worden. Dieselben gehen nun der
Vollendung entgegen, sodass in Bälde zur Durchberatung der vielen Eingaben und zur Aufstellung eines Tarifentwurfes geschritten werden kann. Die grosse
Zahl der geäusserten Wünsche lässt nicht im Zweifel darüber, dass eine umfassende Tarifrevision notwendig oder wenigstens sehr wünschenswert ist. Manche
Branchen haben bis jetzt mit der Formulierung ihrer Forderungen noch zurückgehalten, weil die künftigen internationalen Konkurrenz- und Preisverhältnisse noch nicht klar vorausgesehen werden können. Es gibt übrigens Autoritäten, welche der Ansicht sind, dass der jetzige Generaltarif im Notfälle als Grundlage für die
Handelsvertragsunterhandlungen mit Ausnahme einiger Positionen genügen würde. Viele Zollerhöhungen werden indessen nicht zum Zwecke der Unterhandlung,
sondern in der Meinung verlangt, dass damit ein dauernder Schutz der Industrie bewirkt werden soll.
Was die Erneuerung der Handelsverträge betrifft, so handelt es sich um die
Tarifverträge mit unseren Nachbarstaaten, sowie mit Spanien und Serbien. An
Stelle des Vertrags mit Österreich-Ungarn werden voraussichtlich Verträge mit den einzelnen Staaten, in welche das Reich zerfallen ist, oder mit verschiedenen
Gruppen dieser Staaten, die sich allenfalls zur Aufstellung einer gemeinsamen
Zollinie vereinigen werden, zu treten haben. Auch mit den neuen russischen Staatengebilden werden anstatt des Meistbegünstigungsvertrags mit dem Zarenreiche
Einzelverträge abzuschliessen sein, sobald sich die noch im Flusse befindlichen
Machtverhältnisse gefestigt haben werden.
Italien, Frankreich und Spanien haben bekanntlich bereits gekündet. Deutschland hatte bis jetzt die Gepflogenheit, Handelsverträge nicht zu künden, sondern eine freiwillige Revision derselben herbeizuführen, um eine Kündung zu vermeiden. Bis vor kurzem war zu erwarten, dass die Reichsregierung diesen Weg auch diesmal wieder beschreiten werde. Wie sich nun die Verhältnisse in Folge der eingetretenen politischen Umwälzung gestalten werden, und ob allenfalls die Initiative für Unterhandlungen über einen neuen Vertrag oder für die Kündung von uns selbst ergriffen werden muss, ist ungewiss, wie ja auch der Fortbestand des Reiches noch nicht völlig sicher ist. Einstweilen läuft der Vertrag, dessen feste Dauer Ende 1917 zu Ende ging, stillschweigend fort, bis eine Kündung oder eine freiwillige Änderung erfolgt.
Wenn allenfalls aus den Friedensverhandlungen der projektierte Völkerbund hervorgehen sollte, so entstünde für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Nationen eine grosse Erleichterung und Vereinfachung. Im Programm des Präsidenten der Vereinigten Staaten sind die wichtigsten Vertragsgrundsätze, die bis jetzt von Staat zu Staat und von Vertrag zu Vertrag erhandelt werden mussten, universell zusammengefasst. Paragraph 3 des genannten Programms fordert die «möglichst weitgehende Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken und Feststellung von Bedingungen für den Handel, die für alle, den Frieden bestimmenden und zu seiner Aufrechterhaltung sich vereinigenden Nationen gleich sein sollen.» In der Rede, die der Präsident am 28. September. 1918 gehalten hat, ist dieses Programm in einer Weise ergänzt worden, die den Resolutionen des Pariser Wirtschaftskongresses vom Juni 1916 diametral entgegensteht. Von den darin proklamierten fünf Punkten lautet der vierte nämlich wie folgt: «Noch weniger (als politische Sonderabkommen und Bündnisse) dürfte im Rahmen der Liga eine Verbindung Platz finden, die wirtschaftlichen Sonderinteressen dienen soll. Man wird keine Klausel des wirtschaftlichen Boykotts ins Auge fassen können, ausgenommen in der Form einer wirtschaftlichen Strafbestimmung oder des Ausschlusses von den Weltmärkten, welchen die Liga der Nationen als Disziplinarstrafe zu dekretieren berechtigt sein wird.» Dieses Programm bedeutet gleichsam einen künftigen Normal- oder Welthandelsvertrag, der alle allgemeinen Grundsätze für den Völkerverkehr umschliesst und den Spezialverträgen nur noch die Regelung besonderer Verhältnisse, namentlich der Zölle, vorbehält. Dass sich die angeführte «möglichst weitgehende Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken» auch auf die Zölle bezieht, ist kaum anzunehmen, wie es auch zweifelhaft ist, ob Westeuropa und ob Amerika selbst auf die verlockende Perspektive des Programms eingehen werden.
Jedenfalls stehen uns in den nächsten Jahren lange und schwierige Unterhandlungen bevor.
Eine besondere Vertragsangelegenheit bildet die Zonenfrage. Dieselbe zerfällt in einen politischen und einen wirtschaftlichen Teil. Die mit der Neutralität zusammenhängenden Verhältnisse sind Sache des politischen Departements. Die Vereinbarungen über die Zollverhältnisse, sowie die bezüglichen Anstände und Beschwerden wurden hingegen bis jetzt jeweilen von der Handeslabteilung behandelt, die sich namentlich auch mit den einschlägigen Verhandlungen in den Jahren 1895 und 1908 beschäftigte.
Die Konvention vom 14. Juni 1881 über die Zollzone von Hochsavoyen, deren ursprüngliche 30jährige Gültigkeitsperiode am 31. Dezember 1911 abgelaufen ist, kann seither jederzeit auf 12 Monate gekündet werden. Frankreich kann, auch ohne Verständigung mit der Schweiz, die gänzliche Aufhebung der Zollzone beschliessen oder territoriale Verschiebungen derselben vornehmen, muss aber die Schweiz 12 Monate vorher davon in Kenntnis setzen. Diese kann sodann beim Eintritt der Änderungen von der Konvention zurücktreten.
Die Frage der Aufhebung der zollfreien Zone und der dadurch bedingten Erhebung französischer Zölle an den Grenzen des Kantons Genf bildet im Zonengebiete bekanntlich seit Jahren den Gegenstand lebhafter Kämpfe der Parteien. Eine Änderung wurde daher auf schweizerischer Seite schon längst befürchtet und es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine solche in nicht allzuferner Zeit beschlossen wird, namentlich dann, wenn die französische Regierung allenfalls Anträge zur Aufhebung der Neutralitätszone für die Friedensverhandlungen in peto haben sollte.
Was die, das zollfreie Pays de Gexbetreffenden Vereinbarungen betrifft, so bilden dieselben einen Annex zum Handelsvertrag mit Frankreich und werden von diesem Lande vielleicht anlässlich der Unterhandlungen über einen neuen Handelsvertrag zur Sprache gebracht werden.
3. Die wirtschaftliche Überfremdung. Verschiedene Massnahmen gegen die Gefahr einer gewissen wirtschaftlichen Invasion sind in letzter Zeit bereits getroffen worden, andere noch im Studium begriffen.
Man hat angenommen, dass der Ausschluss deutscher Fabrikate von den Ententemärkten noch Jahre dauern könne, deutsche Exporteure daher versucht sein werden, ihre Erzeugnisse dort mit falschen Ursprungsnachweisen unter schweizerischer Flagge abzusetzen. Diesen Urkunden werde daher in Zukunft erhöhte Bedeutung zukommen. Durch scharfe Kontroll- und Strafbestimmungen müsse eine grössere Zuverlässigkeit derselben erreicht werden. Durch den Bundesratsbeschluss vom 30. August über die Ursprungsausweise ist dieses Postulat bereits verwirklicht worden.
Einen ähnlichen Zweck verfolgt die aus Frankreich importierte Idee einer nationalen Fabrikmarke. Dieselbe wurde im Schosse des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins erörtert, aus technischen und ändern Gründen aber abgelehnt. Hingegen ist die an sich beachtenswerte Idee seither durch eine Privatorganisation («Spes») in fakultativer Form verwirklicht worden.
Als ein weiteres Mittel gegen die wirtschaftliche Überfremdung ist vom genannten Verein mit Hülfe einer Expertenkommission eine Reform der Handelsreg/stervorschriften an die Hand genommen worden.
4. Die Reorganisation des Konsulatswesens. Eine solche wird seit einiger Zeit als notwendige Einführung in die neue wirtschaftliche Aera häufig in der Privatpresse erörtert. Es ist nicht zu leugnen, dass in dieser Hinsicht manches vorzukehren ist, wenn auch ein Ausbau unseres Konsularnetzes, so wünschbar er auch ist, nicht auf einmal, sondern nur allmählich vor sich gehen kann. Einige ältere Projekte werden in nächster Zeit jedenfalls wieder an die Hand zu nehmen sein. Wir meinen ganz besonders die Errichtung von Konsulaten in der Türkei und in Ägypten, sowie einer diplomatischen Vertretung in Konstantinopel, ferner eine ähnliche Ergänzung unserer Vertretung in China. Das politische und das Volkswirtschaftsdepartement werden sich zu diesem Zwecke miteinander in Verbindung setzen müssen.
Zu dem vorstehend entwickelten Programm werden sich ohne Zweifel noch andere Punkte hinzugesellen. Verschiedene Projekte, wie z.B. die von der «Schweizerischen Handelsbörse» in Bern angeregte Errichtung von Freihäfen in Basel, Genf und Locarno etc., unterziehen wir vorderhand keiner besondern Erörterung.