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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 33
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#102* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 55 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 19 (1918–1918) | |
File reference archive | 019 |
dodis.ch/43778Le Ministre de Suisse à Berlin, Ph. Mercier, au Chef du Département politique, F. Calonder1
Freitag, 29. November 1918
Die gestrige Versammlung des Gross-Berlin er Soldatenrates im Reichstagsgebäude, zu der auch Vertreter Süddeutschlands und der Ostfront erschienen waren, brachte eine äusserst heftige Auseinandersetzung zwischen Soldatenrat und Vollzugsrat. Die Delegierten der Soldatenräte bezweckten die Auflösung des Vollzugsrats, weil dieser die Reichsleitung in ihrer Arbeit auf Schritt und Tritt hindere und sich durchaus nicht seiner Aufgabe gewachsen gezeigt habe. [...] .
Es wurde schliesslich beschlossen, aus sieben Berlin er Regimentern eine siebengliedrige Kommission zu wählen, die sofort die bisherige Tätigkeit des Vollzugsrats zu prüfen und Bericht zu erstatten hat und die sich mit der Zusammensetzung des Vollzugsrates und mit anderen Fragen beschäftigen soll. Diese Kommission soll Sonnabend den 30. November früh ihre Tätigkeit beginnen. Ferner wurde vereinbart, auf der nächsten Vollversammlung der Soldatenräte Berlins am 30. November nachmittags 3 Uhr den gestern nicht mehr zur Beratung gekommenen Antrag über die Nationalversammlung als ersten Punkt auf die Tagesordnung zu setzen.
Der Parteiausschuss der sozialdemokratischen Partei Deutschland s, welcher gestern in Berlin tagte, verlangt die schleunige Einberufung der Nationalversammlung und fordert die Genossen auf, durch rastlose Aufklärungsarbeit der Partei den Wahlsieg zu sichern. [...] .
Die sozialdemokratische Partei befindet sich in einer unangenehmen Situation. Einerseits ist sie vom rein parteipolitischen Standpunkte aus bestrebt, die Einberufung der Nationalversammlung möglichst hinauszuschieben und unterdessen die Wählerschaft sozialistisch eindrillen zu können. Andererseits sollte sie als Regierungspartei im staatlichen Interesse und zur Stärkung der Stellung der Regierung bald eine gesetzmässig oder annähernd gesetzmässig parlamentsartige Körperschaft hinter die Regierung stellen. Der Ausweg ist folgendermassen gefunden worden. Die Wahl der Nationalversammlung soll am 16. Februar 1919 stattfinden. Um aber bis zu diesem Zeitpunkte eine Art sozialistisches Reichsparlament zu besitzen, soll am 16. Dezember durch die Arbeiter- und Soldatenräte des ganzen Reiches ein Reichszentralausschuss gewählt werden. [...].
Die durch den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und durch Kautsky hervorgerufene Krisis im hiesigen Auswärtigen Amte [...]ist noch nicht beendet. Immerhin scheint der Austritt von Solf dadurch in Frage gestellt, dass die Stellung Eisners wegen der Veröffentlichung der diplomatischen Briefe des früheren hiesigen bayerischen Legationsrats von Schön über den Kriegsausbruch in Bayern sehr erschüttert ist und ferner auch dadurch, dass sich laut Politisch-Parlamentarischen Nachrichten [...]sämtliche Beamte der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes mit Solf solidarisch erklärt haben. Überdies sollen sich Scheidemann und David mit Solf solidarisch erklärt haben (auf Seite Eisners stehen die unabhängigen Regierungsmitglieder Haase, Dittmann und Barth).
Staatssekretär Solf hat sich gestern gegenüber einem Diplomaten dieser Gesandtschaft dahin geäussert, dass er auf die bayerische Note Eisners der Regierung beantragt habe, allerdings ohne Erfolg, man solle dem bayerischen Gesandten antworten, er möge sich nicht die Mühe nehmen, die Note zu überreichen, da sie nicht beantwortet werde. Nach einer anderweitigen Mitteilung soll Solf nur deshalb noch im Amte sein, weil Kautsky zur Zeit an einer schweren Grippe erkrankt sei.
Soif äusserte sich bei dem oberwähnten Anlasse über die allgemeine Lage Deutschlands noch wie folgt:
Deutschland gehe «fürchterlichen Wochen» (Hunger- und politischen Revolten etc.) entgegen. Er sei aber zuversichtlich für Deutschlands Zukunft und glaube an die Willenskraft des deutschen Volkes.
Solf meinte, dass die Spartakusleute doch noch ans Ruder kämen, und dass es ihnen gelänge, immer mehr von den unabhängigen Sozialisten in die Regierung hineinzubringen. Sie arbeiteten mit viel Geld und besässen Waffen. Aber auch diese Regierung würde nur «ein wüster Traum» sein. Die Reaktion könne nicht ausbleiben. Solf meinte, wenn Spartakusleute an die Regierung kämen, sollten sämtliche neutralen Vertreter in Berlin als Demonstration abreisen.
Er sagte ferner, «es ist nicht ausgeschlossen, dass die Tommies ihren Plumpudding im Hotel Adlon verspeisen.» Wenn eine Besatzung nach Berlin kommen sollte, erklärte Solf, wünsche er Deutschland jede nur keine französische.
Gefährlicher als Liebknecht, welchen Solf für einen Phantast hält, sei Rosa Luxemburg, die als die «Seele» der Spartakusleute gelte und eine sehr kluge und gescheite Frau sei.
Die schweren Waffenstillstandsbedingungen deutet Solf aus dem Umstande, dass die Entente bis vor ganz wenigen Tagen noch die tatsächliche Macht Deutschlands überschätzte. Sie glaubte, Deutschland sei noch fähig den Krieg wieder aufzunehmen. Erst in den letzten Tagen merke man, dass man drüben die hiesige Lage zu begreifen anfange.
Solf sagte auch, wir könnten ruhig nach Bern berichten, welch vorzüglichen Eindruck hier die «prächtige Kraftprobe» des Schweizervolks im Generalstreik machte. Er meinte aber, in der Asylrechtsfrage würden wir wohl bald schärfer vorgehen müssen.[...] Montag, 2. Dezember 1918LJ
Über den moralischen Zustand der von der Front zurückmarschierenden geschlossenen Heereseinheiten lauten die Ansichten und Gerüchte immer noch sehr verschieden. Gestern hörte ich von meist gut orientierter Seite, einzig die Armee von der Marwitz sei punkto Disciplin und Gesinnung noch ganz intakt. Diese Armee sei noch vollständig in der Hand ihres Führers. Ob die Regierung es wagen wird, dieses Instrument zur Festigung ihrer Stellung zu verwerten, wird die Zukunft lehren. Ohne einen gewaltigen Sturm bei den Spartakusleuten, der möglicherweise bewaffnetes Auftreten derselben auslösen könnte, würde dies jedenfalls nicht geschehen können.
Auf einen eigentümlichen Widerspruch ist Legationsrat Egger gestossen. Anlässlich seines Zusammenseins mit Staatssekretär Solf sagte dieser, alle radiotelegraphischen Stationen befänden sich in den Händen der unabhängigen Sozialisten (Spartakus). Die Regierung hätte keinen Einfluss auf den Betrieb dieser Stationen mehr. Diese Äusserung stimmt mit einer Warnung von Seiten der Regierungspresse überein. Zwei Tage darauf sagte jedoch der über diesen Punkt interpellierte frühere Reichstagsabgeordnete und jetzige Unterstaatssekretär im Reichsjustizamt Cohn «leider» sei dies nicht der Fall.
Nachdem was ich von verschiedenen anderen Seiten gehört habe, dürfte die von Solf vertretene Ansicht stimmen. Ich hebe dies deshalb ausdrücklich hervor, da es für die Schweiz jedenfalls geraten erscheint, alle von deutschen Funkenstationen ausgegebenen Meldungen mit äusserstem Misstrauen aufzufassen. Verständigung der Nachrichtensektion des Armeestabes und von Oberstleutnant Hilfiker scheint mir angezeigt. [...]
Der baldige Abgang des Kuriers nötigt mich abzuschliessen. Doch möchte ich dies nicht tun, ohne noch ganz besonders darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass gegenwärtig in ganz Deutschland eine Menge von Schweizern ihre Stellung verlieren, indem sie den aus dem Felde zurückkehrenden frühem Inhabern derselben ungesäumt Platz machen müssen. Vielerorts, wo der Arbeitgeber selber nicht künden würde, wird er durch die Arbeiter- und Soldatenräte hiezu gezwungen. Dies wird in der nächsten Zeit einen grossen Rückfluss von Schweizern nach der Schweiz mit sich bringen. Viele dieser Schweizer geben der Hoffnung Raum, man werde zu Hause Gegenrecht üben und die in der Schweiz angestellten Deutschen an die Luft setzen, um ihnen Platz zu machen.
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- Rapport politique: E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 19/2. Calonder a placé en tête du texte les remarques manuscrites suivantes: An Minister Lardy: mit mir reden.: Mitteilungen. C.; et: Mercier: Albertini hat die wirtschaft[!] c/ie/ Lage Deutschlands als sehr beunruhigend dargestellt - Schulthess schliesst daraus, dass unsere Schwf eizerj iInj Dleutschland] einer gewissen Gefahr ausgesetzt seien - wir glauben nicht Massregeln zu treffen. - Bitte aussprechen.↩
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