Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 285
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#893* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 394 | |
Dossier title | Rom, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 17 (1917–1917) | |
File reference archive | 147 |
dodis.ch/43560
Seit einigen Tagen hält sich in Rom das Gerücht, dass über Neapel der Belagerungszustand verhängt sei und dass sich auch in Palermo die Unruhen wiederholt hätten, über welche ich Ihnen früher einmal berichtet habe. Heute hatte ich Gelegenheit, einen Landsmann zu sprechen, der von Neapel zurückkehrte, nachdem er einige Tage dort verbracht hatte. Er konnte mir berichten, dass tatsächlich in diesen Tagen zahlreiche Demonstrationen von Frauen und Kindern gegen die Teuerung der Lebensmittel und namentlich gegen die Einschränkung im Bezüge derselben stattgefunden hätten und dass in der Stadt Neapel regelmässig militärische Patrouillen mit aufgepflanztem Bajonett verkehren. Zu eigentlichen Zusammenstössen sei es aber noch nicht gekommen. Die Behörden und das Militär hätten ganz offenbar die Instruktion, solche Zusammenstösse unter allen Umständen zu vermeiden. So komme es, dass Behörden und Carabinieri sich vor allem bemühen, die erregten Volksmassen zu beschwichtigen, indem sie möglichst Konzessionen machen. Mein Gewährsmann hat selbst mitangesehen, wie den demonstrierenden Frauen ein Spezereiladen geöffnet und daraus Zucker unter dem offiziellen Höchstpreis verkauft worden sei. An ändern Orten seien Waren abgegeben worden, deren Verkauf für den betreffenden Tag ganz verboten gewesen sei. Überhaupt kümmere man sich in Neapel nicht gross um die zahlreichen Dekrete, welche die Lebenshaltung einschränken sollen; so bekomme man in den Hotels Butter und in den Confiserien Zuckerwaren, soviel man wolle.
Diese Nichtbeachtung der Dekrete mag ja zum Teil ihre Begründung haben, einerseits in der Gleichgültigkeit des süditalienischen Beamten bei der Erfüllung seiner Pflichten und anderseits in dem Volkscharakter, der sich nicht leicht in die Bande eines Gesetzes legen lässt. Unzweifelhaft liegt aber in diesen Vorgängen auch der Beweis dafür, dass die Regierung genötigt und gewillt ist, drohende Unruhen nicht durch Gewalt zu unterdrücken, sondern ihnen durch Konzessionen zuvorzukommen. Dieses gleiche System, welches den Minister des Inneren, Orlando, zum intellektuellen Urheber hat, ist schon vor Wochen in Sizilien mit Erfolg angewendet worden, wo selbst die Behörden mit den Sozialisten paktiert und dadurch die Ausbreitung des Aufstandes verhütet haben. Von grosser Stärke der Regierung zeugt freilich dieses Vorgehen nicht.
Hier in Rom verspürt man nicht soviel von der Unzufriedenheit der Bevölkerung, dagegen höre ich aus mehreren Quellen, für deren Zuverlässigkeit ich freilich nicht einstehen kann, dass die Stimmung im Norden sich sehr verschlimmert habe.
Mit heute tritt eine Verfügung in Kraft, welche den Verkauf von Zuckerwaren und Patisserie vollständig untersagt. Damit greift man an einen der wundesten Punkte in der Lebensweise des Römers, und es wird sich bald zeigen, ob dieser sich eine solche Einschränkung auf die Dauer gefallen lassen wird.
Aus den offiziellen Mitteilungen des Marineministeriums, welche durch di Stefani verbreitet werden, haben Sie ersehen, dass man die Zu- und Abfuhrverhältnisse für Schiffe nach und aus italienischen Häfen derart günstig schildert, dass man eigentlich zu der Überzeugung kommen müsste, der verschärfte Unterseebootkrieg habe der Schiffahrt wesentlich genützt, statt ihr zu schaden. In Tat und Wahrheit scheint es aber doch nicht so rosig zu stehen. Ich habe gestern durch einen Herrn, der dem Kommissariat für die Lebensmittelversorgung nahesteht, gehört, dass die Zufuhr an Getreide und verschiedenen notwendigen Gebrauchsartikeln, von Kohle gar nicht zu sprechen, sehr zurückgegangen sei und dass der Ausfall in den Vorräten sich schon stark fühlbar mache. Mein Gewährsmann sprach mit grosser Besorgnis von den Schwierigkeiten, welche sich unfehlbar einstellen müssten, wenn die Zufuhrverhältnisse sich nicht wesentlich verbessern.
Von unsern Konsulaten habe ich den erbetenen Bericht über den Schiffsverkehr in den italienischen Häfen noch nicht erhalten.
Die Debatten in der Kammer über die wirtschaftlichen Massnahmen der Regierung nehmen den vorausgesehenen Verlauf. Die allerorts herrschende Unzufriedenheit kommt häufig genug in einzelnen Reden, Zwischenrufen und in dem Beifall zum Ausdruck, welchen oppositionelle Redner ernten, aber zu einem ernsthaften und zielbewussten Widerstand kommt es nicht. Ich habe ganz den Eindruck, dass der Journalist den Nagel auf den Kopf getroffen habe, der mir letzter Tage sagte: Die Kammer ist einig in dem Spenden des Beifalles, aber ganz uneinig in der Form, in welcher dieser einmütige Beifall gespendet wird. Dem Redner der Regierung klatscht man den Beifall in möglichst sichtbarer Weise mit erhobenen Händen, dem Redner der Opposition applaudiert man womöglich noch heftiger, aber mit den Händen unter dem Pulte, und für denjenigen Redner, der hohe vaterländische Akzente anschlägt, erhebt man sich demonstrativ von den Sitzen, um Beifall zu klatschen. Das Bild ist nicht gerade vornehm, aber es ist getreu!
Die Vorgänge in Russland werden hier, wie nicht anders zu erwarten war, als ein Triumph der Entente bezeichnet, weil durch sie die Elemente ausgeschaltet seien, die einer energischen Kriegsführung bisher hinderlich gewesen seien.
Es ist für den Fernstehenden natürlich nicht möglich, zu beurteilen, ob diese Auffassung auf richtigen Prämissen beruht. Die Tatsache, dass die Duma gemeinsame Sache gemacht zu haben scheint mit den Revolutionären, liesse darauf schliessen, dass der tiefere Grund der Revolte nicht in der Unzufriedenheit mit dem Kriege, sondern in den innerpolitischen Gegensätzen zwischen der liberalen und der reaktionären Partei zu suchen sei.
Anderseits hat man den Eindruck, dass die Arbeitermassen nicht nur durch politische Erwägungen in Bewegung gesetzt worden seien, sondern dass dabei auch der Unwille über den Krieg und seine Folgen mitgespielt haben müsse. In dem einen wie in dem ändern Falle ergibt sich aus diesen Ereignissen die bedeutungsvolle Frage, welchen Einfluss dieselben haben werden auf die Fortsetzung des Krieges. Hier ist man geneigt, anzunehmen, dass der Regierungswechsel in Russland dem Kriege einen neuen entscheidenden Impuls geben werde.
Vorstehendes hatte ich niedergeschrieben, als das zweite Telegramm aus Petrograd einlief, welches bedeutsame Winke enthält über die Ursachen und die weitere Entwicklung dieser Revolution. Bringt man den Inhalt dieses Telegrammes in Zusammenhang mit den hier verbreiteten Nachrichten aus Petrograd und den Kommentaren der hiesigen Presse, so lässt sich unschwer erkennen, dass in dieser Revolution zwei Seelen schlummern, die nur zu bald erwachen und neue scharfe Gegensätze zeitigen werden.
Ich lege hier den Leitartikel bei2, den Franz Caburi in der soeben erschienenen Nummer des Mittagsblattes II Piccolo des Giornale d’Italia publiziert hat und der die offizielle Version der Konsulta wiedergeben dürfte. Ich habe absichtlich nicht nur diesen Leitartikel, sondern auch die gleichzeitig veröffentlichten und zensurierten Telegramme3 dem Ausschnitt beigegeben, damit Sie sich von den Tendenzen überzeugen können, von welchen diese Nachrichten und deren Veröffentlichung eingegeben sind. Die Revolution soll als grosser Erfolg der Ententepolitik erscheinen und der Glaube zerstört werden, dass auch pazifistische Tendenzen bei den Revolutionären mitgewirkt hätten.
Es ist nicht möglich, jetzt schon und aus der Ferne darüber zu urteilen, ob diese Bewegung in ihrem Enderfolg der Sache des Friedens förderlich oder schädlich sein wird. Ich habe den Eindruck, dass das Feuer des internationalen Sozialismus, welches in Petrograd angefacht worden ist, nicht so leicht erlöschen werde und dass diese Richtung nicht zur Ruhe kommen werde, bevor die Bahn für sie freier gemacht wird durch die Beendigung des Krieges. Zunächst ist es die Politik der Progressionisten, welche über die Reaktion Herr geworden ist - wie lange aber wird es gehen, bis auch sie unterliegt gegenüber der Anarchie? Die Überzeugung, dass die Ereignisse in Russland im Flusse bleiben werden, lässt mich erwarten, dass die kriegerische Tätigkeit dieses Landes lahmgelegt sein wird, und daraus schöpfe ich die Hoffnung, dass diese Revolution doch einen Schritt in der Richtung des Kriegsendes bedeute.
Herr v. Sonnenberg berichtet mir soeben von einem Gespräch, das er mit Angehörigen der belgischen und rumänischen Gesandtschaft gehabt hat. Nach diesen Herren sei der Entente schon seit längerer Zeit bekannt, dass eine Revolution im Gange sei, die von der Duma in enger Fühlung mit den Alliierten vorbereitet wurde. Der hiesige russische Botschafter de Giers zeige sich sehr erfreut über die eingetretene Wendung und sehe der weiteren Entwicklung der Bewegung mit voller Zuversicht entgegen. Auch auf der englischen und französischen Botschaft sei man sehr befriedigt. Die Armee, d.h. wohl deren Führer, hätten dem Umsturz unter der Bedingung zugestimmt, dass der Person des Kaisers nichts zuleide getan werde. Man nehme an, dass der zurückgetretene Kaiser entweder in die Krim oder, was wahrscheinlicher sei, nach England gehen werde. Wenn sich diese Annahme bestätigt, würde sich eine recht interessante Parallele ergeben zwischen den Herrschern des kleinsten und des grössten Reiches unter den Alliierten: Der König von Montenegro in Frankreich und der Kaiser von Russland in England interniert!
Der neue Regent soll womöglich noch unbedeutender sein als sein zurückgetretener Bruder, ein willenloses Werkzeug in der Hand der Duma.
Im Anschluss an den heute eingegangenen Bericht des Herrn Minister Haab reproduziere ich nachstehend eine Stelle aus einem Briefe, den mir ein Freund dieser Tage geschrieben hat, der in den letzten Tagen aus Deutschland zurückgekehrt ist, nachdem er dort Gelegenheit gehabt hat, mit hochgestellten politischen und militärischen Persönlichkeiten Rücksprache zu nehmen:
«Als Unterstaatssekretär war Zimmermann am Platze, als Staatssekretär wird er’s kaum sein. Er hat gute Eigenschaften, aber nicht diejenigen eines leitenden Staatsmannes. Dieser Mangel dürfte sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge insofern ausgleichen, als stärkere Persönlichkeiten das Schicksal des Reiches in die Hand nehmen werden. Zur Zeit macht Bethmann die Politik, die das Trio Hindenburg, Ludendorff, Zimmermamm bestimmt, macht sie, weinend‘, wie man in Berlin sagt. Zimmermann ist Werkzeug in der Hand von Ludendorff, der alle seine Partner überragt, vom genialen Heerführer aber erst in die Rolle des Staatsmannes hineinwächst, das Herz zu einem Lenker der Nation besitzt und Fehler zu vermeiden lernen wird. Soviel man hört, sind die drei Hauptmacher darin einig, dass Bülow als Bevollmächtigter der Reichsregierung die künftigen Friedensverhandlungen leiten soll. Er ist als Kanzler nicht erwünscht, aber der Erfahrenste und Geschickteste, der sich für diese Spezialaufgabe finden lässt.
«Man erwartet in Deutschland für den Spätsommer oder Herbst bestimmt das Ende des Krieges oder genauer gesagt der kriegerischen Operationen, man zählt aber dann noch eine Reihe von Monaten bis zum Friedensschluss. Die Verhandlungen werden langwierig sein, und für Deutschland wird alles darauf ankommen, ob unsere Unterhändler die Fähigkeit prompter Entschlüsse, rechtzeitigen Verzichtes und zweckmässigen Zugreifens besitzen.»
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