Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 169
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#13560* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2807 | |
Dossier title | Angriffsgefahren gegen die Schweiz und Kriegsbereitschaft der Armee (1914–1919) | |
File reference archive | 06.H.3.e.2 |
dodis.ch/43444
Im wesentlichen bin ich mit den Darlegungen Ihres Berichtes vom 15. Januar 19162 über die militärische Lage der Schweiz auf Anfang des Jahres 1916 einverstanden und billige daher Ihre Vorlage betreffend die Ablösungen der Truppen im Grenzwachtdienst 1916, die von mir unterschrieben beiliegend zurückfolgt. Ich will aber nicht unterlassen, Ihnen im Nachstehenden darzulegen, in welchen Punkten meine Auffassung sich nicht ganz mit der Ihrigen deckt.
Auch ich bin der Ansicht, dass bei der gegenwärtigen Lage der Kriegführenden zueinander geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass einer von ihnen den Durchmarsch durch unser Land beabsichtigt oder erzwingen will, um den Angriff gegen die Front des ändern zu vermeiden.
Wenn man nur die gegenseitige strategische Lage in Betracht zieht, so könnte eher angenommen werden, dass solches von Deutschland geplant und unternommen wird als von einem seiner Gegner. Das auf allen Kriegsschauplätzen bis dahin überlegene Deutschland bedarf eines starken siegreichen Schlages gegen Frankreich, um der im französischen Volke latent vorhandenen Sehnsucht nach dem Frieden und, damit zusammenhängend, nach der Befreiung von dem Zwang, für englische Interessen zu kämpfen, zum Durchbruch zu verhelfen. Selbstverständlich wird dieser Schlag am wirkungsvollsten sein, wenn die französische Front in ihrer nördlichen Hälfte durchbrochen wird und damit der kürzeste Weg auf Paris frei ist. Aber auch bei der grössten allseitigen Überlegenheit der Deutschen bedarf dieser Durchbruch ungeheuerer Opfer, und eine absolute Sicherheit, dass er erzwungen werden kann, ist nicht vorhanden. Das kann den Gedanken nahelegen, die französische Front zu umgehen und in das nicht geschützte Frankreich einzubrechen. Wenn dieser Weg auch nicht direkt auf Paris führt, so wird sein Einschlagen doch indirekt die Erreichung dieses Zieles fördern, indem Frankreich dem Einmarsch in sein Gebiet nicht tatenlos zuschauen kann, sondern demselben unbedingt entgegentreten muss. Und da Frankreich nicht über grosse Reserven feldtüchtiger Truppen mehr verfügt, so wird es gezwungen sein, seine besten Truppen aus der Front zur Begegnung des Flankenangriffs herauszunehmen. Dadurch ist der Frontangriff der Deutschen ohne gar zu grosse Verluste und mit grossen Chancen des Erfolges möglich geworden.
Die Ausführung dieses Planes setzt voraus, dass Deutschland noch über grosse disponible Reserven verfügt, und dies ist, nachdem die Offensive gegen Russland aufgehört hat, zweifellos der Fall. Sosehr ich nun auch der Ansicht bin, dass eine Offensive Deutschlands durch die Schweiz für dasselbe vorteilhaft wäre, bin ich überzeugt, dass Deutschland aus politischen Gründen eine solche niemals unternehmen wird, selbst wenn man seinen alten und beständig wiederholten Versicherungen der Freundschaft für unser Land keinen Glauben schenken wollte. Das Beispiel mit Belgien und neuerdings die Behandlung Griechenlands durch England-Frankreich sollten sattsam bewiesen haben, dass ein Verhalten gegen kleine Staaten, wie seitens Frankreichs und Englands jetzt gegenüber Griechenland, diesen beiden wohl von der öffentlichen Meinung Europas verziehen wird, niemals aber Deutschland. Und das ist etwas, das die Regierung von Deutschland und die Armeeleitung sehr genau wissen. Ohne durch die Not der Lage dazu förmlich gezwungen zu sein wie damals bei Belgien, wird Deutschland niemals die Rechtssphäre eines kleinen neutralen Staates verletzen.
Auch für Frankreich wäre, wenn es zur Offensive übergeht, so, wie Sie es in Ihrem Memorial dargelegt haben, die Umfassung des linken deutschen Flügels durch die Schweiz sehr verlockend, ganz besonders, wenn ein Kooperieren mit Italien, das ebenfalls durch die Schweiz einbricht, in Aussicht genommen werden kann. Beides erachte ich als gänzlich ausgeschlossen. Frankreich besitzt nicht die dafür erforderlichen Reserven. Alle seine im Lande disponiblen Truppen braucht es zum Halten der eigenen Front, da nach meinem Dafürhalten kein verständiger französischer Truppenführer damit rechnen darf, dass englische Hilfskräfte ihm das Halten der Front abnehmen werden. Wenn auch, was ich einstweilen noch bezweifeln möchte, das neue englische Rektrutierungsgesetz die erhoffte grosse Zahl von Rekruten liefert, so fehlt diesen doch das, was überhaupt und ganz besonders für dieses Rekrutenheer, um es kriegszuverlässig zu machen, unerlässlich notwendig ist: das genügende Kader. Was Frankreich für ein solches Durchbruchsunternehmen durch die Schweiz an Kräften disponibel machen könnte, wird niemals so zahlreich sein, dass davon ein wirkungsvolles, geschweige denn ein entscheidendes Eingreifen in den Gang der Ereignisse erwartet werden kann.
Eine Beihilfe durch eine in das Tessin und in Graubünden einmarschierende italienische Armee erachte ich für gänzlich ausgeschlossen, nachdem Italien nicht zu bewegen gewesen ist, in den gegenwärtigen Balkankrieg, der seine vitalsten Interessen berührte, wirkungsvoll einzugreifen. Die ganze gegenwärtige Kriegführung Italiens trägt das Gepräge der Angst vor einer österreichischen Offensive. Wohl hatte Italien zu Beginn seines Krieges den Wunsch, offensiv gegen Österreich zu handeln und sich das Gebiet zu erobern, auf das es behauptete ein natürliches Anrecht zu besitzen. Ich glaube auch, dass dabei der Gedanke herrschte, nach Eroberung dieses Gebietes die Offensive fortzusetzen. Nachdem sich aber seit der letzten grossen Isonzoschlacht die Unmöglichkeit, die österreichische Front zu durchbrechen, herausgestellt hat, ist alles, was Italien unternimmt, um den Anschein hervorzurufen, als habe es nach wie vor seine offensiven Absichten, gar nichts anderes als die Maskierung der Furcht vor der österreichischen Offensive. Diese Furcht ist auch die Ursache, weswegen Italien dem Bitten und Drängen, den Serben und Montenegrinern zu Hilfe zu kommen, nicht nachgegeben hat. Die italienische Regierung hat das volle Recht, die Folgen einer siegreichen österreichischen Offensive grimmig zu fürchten. Wenn Österreich in Italien einmarschiert und gegen die Poebene vordringt, so wird mit einem Schlage die gewaltsam niedergehaltene Meinung des Volkes, dass man neutral hätte bleiben sollen, hervorbrechen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass gleichzeitig mit der jetzigen Regierung auch das Königshaus vertrieben wird, oder dann wenigstens, dass der König und seine jetzige Regierung von der öffentlichen Meinung gezwungen werden, Frieden unter allen Bedingungen zu schliessen. Ebensowenig wie Italien sich bewegen liess, seine Front Österreich gegenüber zu schwächen, um auf der Balkanhalbinsel einzugreifen, wird sich Italien durch irgendwelche Vorstellungen Frankreichs veranlassen lassen, ein Heer auch nur von 100000 Mann aus der Isonzofront wegzunehmen, um durch die Schweiz mit Frankreich zu kooperieren.
Wenn wir für unsere Südfront fürchten, so wäre das viel eher gegenüber Österreich am Platze, das, nachdem auf der Balkanhalbinsel aufgeräumt worden ist, Kräfte freibekommt, um mit ihnen durch die Schweiz um den linken italienischen Flügel herumzuoperieren. Aber aus denselben Gründen, weswegen eine Missachtung unserer Neutralität durch Deutschland nicht gefürchtet zu werden braucht, ist meines Erachtens solches auch von seiten Österreichs nicht zu befürchten.
Wenn sich die Dinge nicht ganz anders entwickeln, als wie nach der gegenwärtigen Lage angenommen werden darf, haben wir keinen Grund anzunehmen, dass irgendeiner unserer kriegführenden Nachbaren den Gedanken fasst und zur Ausführung bringt, gewaltsam in unser Land einzubrechen und durch dasselbe gegen seinen Gegner vorzugehen.
Das darf aber niemals hindern, alle zum kraftvollen Grenzschutz erforderlichen Massregeln zu ergreifen und mit unserem Heere bereitzustehen, jeder Offensive durch unser Land mit aller Kraft entgegenzutreten, denn in der Vernachlässigung dieser Pflicht würde ein grosser Anreiz liegen, etwas Derartiges zu unternehmen. Wenn wir unseren Grenzschutz vernachlässigen, so bringt das nicht bloss auf den Gedanken, durch unser Land durchzumarschieren, sondern es kann auch während der taktischen Unternehmungen gegeneinander dazu veranlassen, dass Umfassungen der Front durch unser Gebiet versucht werden, und dann bekommen wir den Krieg in unser Land, ganz gleich, wie wenn einer der Kriegführenden eine Operation durch die Schweiz unternommen hätte.
Die Gefahr vor dem einen wie vor dem ändern ist an den verschiedenen Fronten nicht gleich gross. Bei der jetzigen Lage erachte ich sie an der Südfront für am geringsten, und am grössten an unserer Nordwestfront. Nach meinem Dafürhalten sollten daher an unserer ganzen Südfront unsere vier Gebirgs-Brigaden mit zwei Landwehrbrigaden in Reserve vollständig genügen. Da aber die in Graubünden zurückbehaltene 6. Division ebenso rasch an die Nord westfront gebracht werden kann wie die Truppen der ändern Divisionen, die erst aufgeboten und mobilisiert werden müssten, so steht meine Anschauung der Dinge dem aufgestellten Plane der Truppen Verteilung nicht im Wege. Diesem Plane, mit dem ich ganz einverstanden bin, liegt eigentlich das Gefühl grosser Sicherheit vor einer feindlichen Absicht gegen unser Land zugrunde. Denn wenn eine solche Absicht bei einem unserer Nachbaren existiert, so wird sich derselbe ohne allen Zweifel zu Nutzen machen wollen, dass wir nur mit geringen Kräften den Grenzschutz besorgen, und dass es einiger Zeit bedarf, bis die Divisionen, die nur mit der Hälfte ihrer Bestände an der Grenze stehen, ihre volle Stärke haben. Zweifellos wird da sehr rasch und möglichst überraschend uns gegenüber gehandelt werden, um mit überlegenen Kräften unsere Divisionen geworfen zu haben, bevor deren Ergänzung zur vollen Kriegsstärke zur Stelle ist. Wir dürfen uns nicht verhehlen und dürfen dem Bundesrat nicht verhehlen, dass unser Plan für den Ablösungsdienst ganz alleine nur durch Rücksicht auf die Staatsfinanzen und auf die wirtschaftlichen Interessen unserer Bürger veranlasst worden ist, und dass wir nur deswegen glauben, diese Art des Grenzschutzes verantworten zu können, weil wir von keinem unserer Nachbarn feindliche Absichten uns gegenüber annehmen und daher unser Grenzschutz nur den Charakter der Polizeiwache trägt.
Was nun die Konklusionen aus unserer Beurteilung der Kriegslage anbetrifft, so bin ich ganz damit einverstanden, dass die Vermehrung der Kriegstüchtigkeit und Schlagfertigkeit der Armee durch Vermehrung und Verbesserung der Ausbildung die Hauptsache ist. Demgegenüber muss alles andere zurücktreten, und auf diesem Gebiete kann noch sehr viel geschehen. Es fehlt nicht so sehr an der handwerksmässigen Ausbildung, an der Ausbildung im Verfahren seitens der höheren und der niederen Führung und seitens des einzelnen Mannes im Gefecht; woran es fehlt, ist vielmehr die Entwicklung zu kraftvollem, männlichem Handeln, und das fehlt bei der Führung in viel höherem Masse noch als bei dem Wehrmann. Nur wo der Trieb zu kraftvollem männlichem Handeln in reichem Masse vorhanden ist, findet man kluges und überlegtes Handeln in gefahrvollen Momenten. Das Ausbildungsverfahren, verbunden mit der Auffassung des Offiziers und mit der Behandlung des Offiziers, kann diesen Trieb ebensosehr entwickeln wie unterdrücken.
Mit der Notwendigkeit, unser Kriegsmaterial und ganz besonders unseren Bestand an schweren Geschützen und an Munition möglichst zu vermehren, bin ich ganz einverstanden, und wir dürfen nicht ruhen, das Mögliche zu erhalten. Aber eines dürfen wir nicht aus den Augen lassen: jedes, was wir gleich bekommen können, ist uns viel mehr wert als das Allerbeste und auch Allernotwendigste, das wir erst nach vielen Monaten, vielleicht erst nach Schluss des Krieges erhalten werden, und auf das wir warten.
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