Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 158
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001A#1000/45#744* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(A)1000/45 94 | |
Dossier title | Nr. 721. Depeschen und Berichte der schweizerischen Gesandtschaft in Wien, v.a. über den allgemeinen Gang der Kriegsereignisse und die Beziehungen zur Schweiz (1914–1917) | |
File reference archive | B.272.14 |
dodis.ch/43433
Heute hatte ich Gelegenheit zu einem längern Gespräch mit Herrn vonTschirschky über die Tagesfragen. Vom deutschen Kaiser und seinem Besuche in Wien sagte er allerdings nur soviel, dass Seine Majestät ruhig, fest und zuversichtlich sei, auch gesundheitlich befinde er sich sehr wohl; über den Zweck der Reise sprach er sich nicht aus, doch glaube ich, wie schon früher berichtet, dass es sich möglicherweise und in der Hauptsache nur um einen Höflichkeits- und Freundschaftsbesuch beim greisen Verbündeten gehandelt haben mag. Was andererseits die militärischen Absichten für die nächste Zukunft anbetrifft, behauptete der deutsche Botschafter, nicht unterrichtet zu sein, und als ich von einer bevorstehenden Offensive im Westen sprach, sagte er, es sei wohl möglich, dass eine solche geplant sei, er wisse es aber nicht.
Die Umbildung des österreichischen Ministeriums begrüsste Herr vonTschirschky entschieden. Man habe schon seit längerer Zeit daran gedacht, und es sei auch von einem Wechsel im Präsidium die Rede gewesen, doch habe man schliesslich den Grafen Stürgkh beibehalten, weil, wie Graf Tisza meinte, es nicht wohl angehe, mitten im Kriege den Ministerpräsidenten zu wechseln, wenn es nicht absolut sein müsse, immerhin sei der Rücktritt Stürgkhs in absehbarer Zeit nicht ganz ausgeschlossen. Von den neuen Ministern erwartet mein Gewährsmann viel Gutes; Prinz Konrad Hohenlohe sei ein durchaus unabhängiger Mann, der im Ministerium des Innern mit fester Hand regieren und nur das tun werde, was er für recht halte; sein Vorgänger, Heinold, sei ein guter Mensch gewesen, der aber nur an eines dachte, nämlich schwierigen Fragen aus dem Wege zu gehen. Leth, der neue Finanzminister, habe sich bei der Direktion der Postsparkasse sehr gut bewährt, habe aber namentlich bei den Anleiheoperationen eine Hauptrolle gespielt; er sei es gewesen, der die Unterhandlungen in Berlin geführt habe; über dessen Vorgänger, Baron Engel, denkt er nicht vorteilhafter als ich (siehe meinen letzten Bericht); seine Ernennung sei seinerzeit eine Verlegenheitswahl gewesen, weil man keinen Bessern hatte. Spitzmüller sei ein sehr tüchtiger Mann aus der Finanzpraxis, der einen vortrefflichen Finanzminister abgegeben hätte; im Handelsministerium könne er aber auch ganz gut seinen Mann stellen. Der freundliche und gutmütige Herr von Schuster, den er ersetze, habe sich als Minister nie wohl gefühlt und kehre nun mit Vergnügen zu seiner lieben Postsparkasse unter gleichzeitigem Avancement zum Baron zurück.
Wir kamen dann darauf zu sprechen, wie schwierig es hier sei, zuverlässige politische Informationen zu erhalten, und Herr vonTschirschky bestätigte mir, was ich Ihnen auch schon schrieb, dass nämlich die ganze grosse Politik von zwei, höchstens drei Menschen gemacht wird, nämlich Graf Tisza, ungarischer Premier (er nannte ihn zuerst), Baron Burian, Minister des Äussern und Präsident des gemeinsamen Ministeriums, und der österreichische Ministerpräsident Graf Stürgkh - doch schien mir der deutsche Botschafter den Einfluss des letzteren weniger hoch einzuschätzen und als «der starke Mann» trat Graf Tisza hervor. «Was andere Leute zu wissen behaupten, ist meistens falsch, man muss sich vor sogennannten gutinformierten Persönlichkeiten in Wien ganz besonders hüten, denn der Klatsch ist hier grenzenlos. Die halbe Zeit wissen nicht einmal die ändern Minister, was vor sich geht. Der Kaiser hat wohl auch ein Wort zu sagen, doch nimmt er meistens an, was ihm serviert wird.» Hiezu muss ich doch bemerken, dass der Kaiser in gewissen Fragen auch seinen entschiedenen Willen hat und eventuell durchsetzt, so z. B. in der Politik gegen Italien.
Die Rede kam dann noch auf die wirtschaftlichen Probleme der Zukunft, und ich sagte Herrn vonTschirschky, wie in der Schweiz nicht ohne ein gewisses Bangen in diese Zukunft geblickt werde; man sehe nicht ohne Sorgen die Bildung zweier grosser wirtschaftlicher Gruppen voraus, zwischen welchen die Schweiz einen sehr schweren Stand hat, von denen sie sogar ökonomisch erdrückt werden möchte.
Ich gestatte mir nun, Ihre ganz besondere Aufmerksamkeit auf die Entgegnung des Botschafters zu lenken; sie ist nicht dazu angetan, den Ausblick in die kommenden Zeiten zu erheitern. Herr vonTschirschky sagte:
«Gewiss wird die Schweiz zwischen Hammer und Amboss geraten, wenn sie glaubt, nach dem Krieg weiterkutschieren zu können wie bisher. Ist sie in diesem Glauben befangen, dann begeht sie einen schweren Fehler. Ich sage Ihnen, eine neue Zeit hebt an, wir treten in eine neue Weltepoche, und die jetzigen Neutralen, ebenso gut wie die Kriegführenden, werden im Völkerleben ganz andere Wege einschlagen müssen als die, welche sie nicht nur seit Jahren, sondern vielleicht seit Jahrhunderten befolgten», und er wiederholte nachdrücklich: «Eine neue Zeit hebt an.»
Ich gestattete mir, einzuwenden, mein Gewährsmann wolle wohl andeuten, dass die Schweiz ihre ökonomische Rettung nur in einem Anschluss an einen der im Entstehen begriffenen Wirtschaftsverbände, speziell an den deutsch-österreichischen, finden könne; es sei aber schwer einzusehen, wie dabei die Unabhängigkeit der Schweiz bestehen solle, habe doch kürzlich ein Deutscher das Wort geprägt: «Eine Zollgrenze, ein Schützengraben». - «Sie haben ganz recht», antwortete der Botschafter, «die Unabhängigkeit würde aufhören, die Souveränität aber würde doch bleiben; souverän sollen alle Teilnehmer am Verbände sein, unabhängig ist jetzt schon niemand mehr und wird nach dem Kriege erste recht niemand mehr sein. Sind wir Deutschen unabhängig? Keineswegs, wir hängen vonÖsterreich, vonUngarn, von der Türkei und vonBulgarien ab. Oder ist etwa Frankreich oder Italien unabhängig vonEngland und Russland und vice versa oder werden sie es nach dem Kriege sein? Mitnichten, und so sind auch Schweden, Holland, die Schweiz nicht unabhängig; sehen Sie doch, wie man Sie mit dem Trust in Abhängigkeit gebracht hat; und Sie werden nach dem Kriege auch nicht unabhängig bleiben können. Glauben Sie mir, die alten Richtlinien verschwinden, mit der geschickten Balance zwischen den verschiedenen Grossmächten ist es aus und eine, splendid isolation* wäre Ihr Verderben.» Ich erwiderte, es falle mir natürlich schwer auf solche Aussichten einzugehen, wenn ich es der Theorie zuliebe doch tun wolle, so müsse ich ihn doch darauf aufmerksam machen, dass die verschiedenen in der Schweiz nun einmal vorhandenen Sympathien, von denen wir schon vorher gesprochen hatten, es für uns unmöglich erscheinen lassen, einen engeren Anschluss an die eine oder die andere Gruppe zu suchen; er kenne ja die Schweiz (er war anfangs der 90er Jahre Erster Sekretär in Bern) und müsse wissen, wie schwer es halten würde, z.B. die welschen Kantone zum Anschluss an die Staatenverbindung der Zentralmächte zu bewegen. Dies versuchen, würde heissen, den Fortbestand der Eidgenossenschaft aufs Spiel zu setzen. «Letzteres mag zutreffen», gab Herr vonTschirschky zu, «aber», fuhr er fort, «es wird vielleicht doch so kommen müssen, es sind auch schon manche Staatengebilde von altherkömmlichem Bestände auseinandergefallen und die Welt steht noch. Ich sage Ihnen nochmals, eine neue Zeit bricht an, und wer dies nicht anerkennen will, läuft Gefahr, seinem Verderben zuzusteuern. Dies sollte sich Ihre Regierung auch jetzt schon überlegen.»
Ich musste nach diesem Gespräche unwillkürlich an den Ausspruch eines Genfer Bankiers denken, der kürzlich hier war und mir sagte: «Wir halten zur Entente, weil im Falle ihres Sieges die Schweiz ungefähr in der gleichen Lage sein wird wie vor dem Kriege, während es beim endgültigen Siege Deutschlands mit der Unabhängigkeit der Schweiz dahin wäre.» Dieser Genfer Herr hat aber meines Erachtens nur sehr bedingt recht, nur für den Fall nämlich, dass ein siegreiches Frankreich (samt England, Russland und Italien) sich annähernd mit einer Wiederherstellung des Status quo ante bellum begnügt. Wer garantiert uns aber eine solche Bescheidenheit und wer dächte dabei nicht an die Zeiten der französischen Hegemonie? Wie stimmt das zu den Zwangsmassregeln des Trusts? Trübe Aussichten!
Zum Schlüsse muss ich noch bemerken, dass sich dieses Gespräch ganz natürlich und ohne Absicht bei einem ganz gewöhnlichen Nachbarschaftsbesuch, den ich dem mir gegenüber wohnenden deutschen Botschafter machte, ergab.
- 1
- Rapport politique: E 2001, Archiv-Nr. 721.↩
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