Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 103
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.19-01#1000/1704#2* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.19-01(-)1000/1704 1 | |
Dossier title | Rapports politiques, sorties (1915–1915) | |
File reference archive | I.B |
dodis.ch/43378
Ich benutze den Anlass der Rückreise meiner Familie nach der Schweiz, um derselben einige Bemerkungen über die politische Lage in Italien mitzugeben.
Sie wissen aus meinen früheren Berichten, dass ich nicht an das Eingreifen Italiens in den Weltkrieg geglaubt habe, weil ich von allen ruhig überlegenden Kennern hiesiger Verhältnisse gehört habe, dass Italien wirtschaftlich und militärisch sich nicht genügend stark fühle, und weil ich aus eigener Beobachtung die Überzeugung gewonnen habe, dass die massgebenden politischen Instanzen den Krieg nicht wünschen. Inzwischen ist nun durch das Vorgehen der Verbündeten gegen die Dardanellen und damit gegen Konstantinopel die politische Situation allgemein verändert worden. Wenn man früher annehmen konnte, dass der Wunsch nach dem Trentino nicht gewichtig genug sein werde, um die verantwortungsvollen Instanzen Italiens zum Kriege zu treiben, so muss heute anerkannt werden, dass durch das Vorgehen der Verbündeten gegen die Türkei viel grössere Interessen Italiens aufs Spiel gesetzt sind. Es ist bekannt, dass die Politik Italiens seit langem dahin tendiert, im Orient eine massgebende Rolle zu spielen und sich in jener Richtung zu «vergrössern». Diese Politik wird durch den Angriff auf die Dardanellen in ihrem Erfolge bedroht. Man nimmt hier als sehr wahrscheinlich an - sowohl die Türken als die Deutschen machen kein Hehl aus dieser Ansicht -, dass die Dardanellen auf die Dauer dem Ansturm der vereinigten See- und Landkräfte nicht werden widerstehen können, und uian frägt sich deshalb, wie die Beute z. Zt. geteilt werden wird. Wenn Italien, so scheint man zu räsonnieren, sich an diesem Vorgehen nicht beteiligt, wird die Beute unter die Teilnehmer allein verteilt, während im entgegengesetzten Falle Italien den Preis für die so sehr gewünschte Beteiligung am Gesamtkriege zum voraus festsetzen könnte. Selbstredend gelten alle diese Erwägungen nur für den Fall des Falles der Dardanellen und des endlichen Sieges der Verbündeten über die Zentralmächte. Dass man den Fall der Dardanellen für wahrscheinlich hält, habe ich oben schon gesagt. Über den schliesslichen Ausgang des Gesamtkrieges wagt natürlich niemand ein bestimmtes Urteil, aber man neigt doch mehr und mehr zu der Ansicht, dass ein allfälliger Sieg der Zentralmächte nicht derart entscheidend sein werde, dass man auch in der Türkei den Status quo ante wiederherstellen könne, wenn einmal Konstantinopel in den Händen der Verbündeten sein werde. Die etwas pessimistische Beurteilung der Kriegslage und die Zweifel an einem entscheidenden Erfolge der Zentralmächte basieren wesentlich auf der Erwägung, dass es bisher den Deutschen noch nie gelungen sei, einen grossen Sieg im Osten wirklich auszunützen. Man hat jeweilen vergeblich auf die praktischen Folgen dieser Siege gewartet. Die Tatsache, dass jedesmal die Russen die deutsche Offensive um ihre Früchte bringen konnte, hat den Glauben an die Widerstandsfähigkeit der Russen wesentlich gestärkt. Daneben sagt man sich, dass die Deutschen nach und nach den Kampf gegen alle Seiten allein führen müssen, weil die österreich-ungarischen Truppen sich je länger je mehr als unzureichend erweisen. Man stellt jetzt schon fest, dass die Österreicher nie einen Erfolg erringen können, wenn nicht deutsche Truppen mitwirken.
Diesen ungeheuren Kampf könne aber auch das stärkste und beste Heer auf die Dauer nicht aushalten. Abgesehen davon, könne Deutschland den wirtschaftlichen Krieg nicht so lange aushalten, als es notwendig wäre, um einen entscheidenden Sieg zu erringen.
Ich wollte Ihnen durch vorstehende Ausführungen nur ein Bild von den Ansichten geben, die ich etwa im Gespräch mit Diplomaten und Privatpersonen vernehme, ohne die Meinung zu haben, Ihnen damit neue Gesichtspunkte zu eröffnen.
Von den vorstehenden Erwägungen ausgehend, beschäftigt man sich hier allgemein und intensiv mit der Frage, ob nicht jetzt der psychologische Augenblick gekommen sei, um Volk und Behörden Italiens für den Krieg zu gewinnen, und ob nicht die Regierung jetzt die Pflicht habe, sich zu entscheiden.
Die Presse, beinahe ohne Ausnahme, stösst gewaltig ins Kriegshorn, und die Regierung lässt sie gewähren, ohne auch nur offiziös zu beschwichtigen. Letztere Tatsache fällt allgemein auf. Ich könnte mir aber denken, dass diese Haltung auf den Wunsch zurückzuführen sei, einen Druck auf Österreich auszuüben, mit dem nun doch unterhandelt zu werden scheint.
In Kreisen der Abgeordneten und der Geschäftsleute scheint man noch immer sehr geteilter Ansicht. Ich hatte gestern Gelegenheit, mit dem bisherigen Gesandten Italiens in Brüssel, Graf Bottaro-Costa, zu sprechen, der sehr zuversichtlich auf die Erhaltung der Neutralität zu rechnen schien und nicht anerkennen wollte, dass die Ereignisse im Orient eine Intervention nötig machen. In gleichem Sinne sprach sich auch die künftige Frau des Direktors des Ministeriums des Auswärtigen aus, mit welcher ich gestern anlässlich einer Einladung beim französischen Botschaftsrat sprach, und die das Gespräch aus eigener Initiative auf die Frage der Neutralität lenkte.
Ich habe aus alledem den Eindruck erhalten, dass man sich in Italien doch fürchtet vor den Schrecken des Krieges und vor der Ungewissheit des Erfolges.
Trotz dieser Eindrücke bin ich sehr zweifelnd geworden über die schliessliche Haltung Italiens, weil man offenbar auf der deutschen Botschaft die Situation recht pessimistisch ansieht. Sie wissen aus meinen früheren Berichten, dass Fürst Bülow sich nie recht zuversichtlich aussprechen wollte. Nun hat Herr Lardy in einer jüngsten Besprechung mit dem Botschaftsrat von Hindenburg, dem er persönlich nahesteht, den Eindruck erhalten, dass in jenen Kreisen die Lage recht pessimistisch beurteilt werde. Herr Lardy berichtet mir über diese Besprechung folgendes:
«Herr v. H. hält dafür, dass der kritische Augenblick für Italien nun eingetreten sei. Es sei sehr fraglich, ob die Regierung dem Drucke widerstehen könne, welchen die Mächte der Entente ausüben. Auf meine Bemerkung hin, ich habe zwei Sitzungen der Kammer beigewohnt und die Abgeordneten recht schlapp, lau, indifferent gefunden, antwortete er: Ja, aber im Lande! Man erzieht das Land zum Krieg, man versucht die Bevölkerung vorzubereiten. Er fügte hinzu, die künftige Haltung Italiens mache ihm grosse Sorge, die Haltung Salandras sei schwankend, die Lage sei überhaupt sehr ernst. Der Versuch gegen die Dardanellen sei gemacht worden, um Italien zu zwingen mitzumachen. Es hänge natürlich vieles von der Widerstandskraft der Türken ab.» Hier schalte ich ein, dass nach Mitteilungen, die der deutsche Marineattaché Herrn von Sonnenberg gemacht hat, man die Widerstandsfähigkeit der Türken nicht sehr hoch einschätzt.
Herr Lardy fährt in seinem Bericht fort:
«Hindenburg sagte endlich, dass Rumänien gegenwärtig ruhiger geworden sei, Italien mache den Deutschen jetzt viel mehr Sorge. Rumänien habe bekanntlich mit Bulgarien ein Abkommen getroffen, nach welchem täglich ungefähr 30 Wagen Güter aller Art transitieren können. Ausserdem habe Rumänien wieder angefangen, Korn nach Deutschland zu schicken.
Hindenburg frug mich, was die Schweiz im Falle eines Eingreifens Italiens tun würde. Ich antwortete:, Keine Ahnung4.»
Mündlich teilte mir Herr Lardy noch mit, dass man in Deutschland das Eingreifen Italiens weniger aus Erwägungen militärischer Natur befürchten würde, als wegen der Folgen für die wirtschaftlichen Verhältnisse. Italien liefert dermalen grosse Mengen dringender Bedarfsartikel an Deutschland im Austausch namentlich gegen Kohle. Wenn diese Lieferungen ganz aufhören müssten, würde sich die Lage Deutschlands sehr schwierig gestalten.
Diese Mitteilungen von deutscher Seite haben mich trotz den gegenteiligen Eindrücken im Gespräch mit Italienern schwankend gemacht in meiner Zuversicht und deshalb möchte ich mir erlauben, für alle Fälle nachstehenden Gedanken zu Ihrer Kenntnis zu bringen. Ich habe aus vielfachen Äusserungen im Gespräch mit Ministern und Journalisten den Eindruck erhalten, dass die sofortige Besetzung der Grenze gegen Italien anlässlich des Kriegsausbruches als unfreundlicher Akt gegen Italien empfunden worden ist, und dass man aus dieser an sich gewiss selbstverständlichen Massnahme den Schluss gezogen hat, dass die Schweiz aggressive Absichten gegen Italien habe und jedenfalls Italien nicht traue. Angesichts der Empfindlichkeit der Italiener bitte ich gegebenenfalls zu erwägen, ob im Falle eines Eingreifens Italiens in den Krieg die militärischen Massnahmen zum Schutze unserer Grenze nicht in einer Weise getroffen werden können, die die Annahme ausschliesst, dass es sich dabei um eine Massnahme gegen Italien handle. Ich masse mir natürlich kein Urteil an über die militärische Seite dieser heiklen Frage, aber ich halte es für meine Pflicht, Sie auf die politische Bedeutung der Sache aufmerksam zu machen und beizufügen, dass eventuell in diesen Tagen der ersten Erregung die grössten Gefahren für eine Störung in unsern freundnachbarlichen Beziehungen entstehen könnten. Es gilt deshalb von unserer Seite der Situation mit grösster Vorsicht zu begegnen.
P.S. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Herrn Oberst von Sprecher Kenntnis geben wollten von diesem Berichte. Er hat mir in den letzten Tagen geschrieben, um meine Ansicht zu hören, und ich finde leider keine Zeit mehr, ihm noch besonders zu schreiben.
- 1
- Rapport politique (Copie): E 2200 Rom 4,1.B.↩
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