Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
10. Italien
10.1. Allgemeine Beziehungen
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 346
volume linkBern 1983
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Archive | Publication |
Archival classification | Pub Der Bund Nr. 572, S. 2 |
(5.12.1912–5.12.1912) |
dodis.ch/43201
Das Verhältnis zwischen der Schweiz und Italien wird seit einiger Zeit in einem Teil unserer Presse in einer Weise besprochen, dass der Bundesrat gerne die Gelegenheit der Erörterungen des Voranschlages des politischen Departementes ergreift, um sich darüber zu äussern2. Die Beziehungen zwischen den beiden Regierungen sind auch heute ausnahmslos sehr gut. Es kommen zwar auch mit Italien wie mit den ändern Staaten, besonders den Nachbarstaaten, Anstände und Zwischenfälle vor. Diese sind jedoch bis jetzt stets in freundschaftlicher und zufriedenstellender Weise erledigt worden. Wenn zwischen Italien und der Schweiz, mehr als zwischen ändern Ländern und der Schweiz, Grenzzwischenfälle vorzukommen pflegen, so rührt das eben her von der eigentümlichen Gestaltung der Grenze, welche es oft schwierig macht, dass jedermann den Grenzzug, der durch nichts ausgezeichnet ist, kenne und wisse. Der wirtschaftliche Verkehr zwischen der Schweiz und Italien ist ein bedeutender und der Bevölkerungsaustausch zwischen diesen beiden Ländern bekanntlich ein sehr grosser. Jährlich kommen vielmal 10,000 von Italienern in die Schweiz, um hier zu arbeiten und zu erwerben, und stets finden Schweizer in Italien eine günstige Gelegenheit, um sich auf dem Gebiete der Arbeit im allgemeinen, auf dem Gebiete der Industrie im besonderen zu betätigen und wohlhabend zu werden.
Meine Herren, nun ist es allerdings wahr, dass besonders in der letzten Zeit einige italienische Pressorgane gegen die Schweiz einen ungebührlichen und frechen Ton angeschlagen haben, so auch das im übrigen als bedeutend bekannte Pressorgan Stampa. Meine Herren, wir haben nicht ermangelt, die italienische Regierung auf die Äusserungen dieses letztgenannten Organs aufmerksam zu machen. Die Antwort lautete, in Rom habe man keine Kenntnis vom Artikel gehabt, der unqualifizierbar sei und über den die italienische Regierung ihr Bedauern äussere. Eine andere Antwort war nicht zu erwarten, da beide Länder sich der Pressfreiheit erfreuen. Solche Pressäusserungen bilden eben den Medaille-Revers zur Pressfreiheit.
Es ist im weitern auch wahr, dass im Verlag von italienischen Firmen Landkarten und Bücher erschienen sind, welche nicht gerade unser Wohlgefallen erregen können, auch nicht dazu bestimmt waren. Ich habe Karten zu Gesicht bekommen, in denen Teile der Schweiz zu Italien geschlagen sind. Ich habe Geographiebücher zu Gesichte bekommen, in denen zu lesen war, dass dieses und jenes Stück des italienischen Sprachgebietes noch nicht zu Italien gehöre. Diese Erzeugnisse sind privater Natur und die italienische Regierung steht damit in keiner Beziehung. Es geht nicht an, die italienische Regierung für solche Auswüchse der Pressfreiheit verantwortlich zu machen.
Ich gehe zu einem zweiten Punkte über: Nämlich zum Bestände einer Partei in Italien, die den Namen «Irredenta» angenommen hat, und welche von der Ansicht ausgeht, dass es noch italienische Gebiete gebe, die noch nicht erlöst seien und daher sich bestreben, diese Erlösung herbeizuführen. Diese «Irredenta» steht mit unserm Staatsgedanken, welcher seine Existenz auf anderer Grundlage aufbaut, als der der Nationalität, nämlich auf seine Geschichte und die demokratischen Grundsätze, im Widerspruch. Aber meine Herren, der Einfluss einer solchen Partei auf unserem Gebiete könnte nur dann erheblich und von Bedeutung sein, wenn unsere Zustände im Gegensatz zu den italienischen schlecht wären, was, wie Sie wissen, nicht der Fall ist, und nur dann gefährlich, wenn ein erheblicher Teil unserer italienisch sprechenden Bevölkerung mit jener «Irredenta» sympathisieren würde. Auch das ist nicht der Fall. Wer schon in Chiasso oder irgendwo an der Grenze einer Volksfestlichkeit beigewohnt hat, weiss, oder hat gesehen, dass über allen Gebäuden nur eine Flagge wehte, die von der Bevölkerung gehisste Schweizerflagge. Nach der Ansicht des Bundesrates besteht irgend eine Gefahr eines zu weitgehenden Einflusses der genannten Partei in der Schweiz nicht. Im übrigen kann ich mitteilen, dass wir auf der Hut sind. Jedenfalls aber muss gesagt werden, dass die italienische Regierung mit der genannten Partei und ihren Bestrebungen nichts gemein hat, und dass das nämliche auch vom italienischen Volke in seiner Gesamtheit gesagt werden muss. Nach unserer Überzeugung bildet die «Irredenta» nur einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung, sie besitzt in Italien ungefähr die gleiche Stellung wie in Deutschland die Alldeutschen. Die Tätigkeit der letztem besteht vor allem darin, der eigenen Regierung Schwierigkeiten zu bereiten, wie diejenige der «Irredenta» auch.
Es wird ferner gesagt, dass Italien militärische Vorkehren an der Schweizergrenze erstellt. Das ist richtig, meine Herren und eben Sache Italiens. Wir haben kein Recht, uns dagegen aufzubäumen, wenn Italien auf seinem Gebiete Strassen erstellt, die offenbar strategischer Natur sind oder militärische Anstalten trifft, die offenbar irgendwelche Bedeutung haben. Wir tun ja das gleiche, und Italien tut das gleiche gegenüber Frankreich und noch vielmehr gegen Österreich-Ungarn. Wenn das ohne Gefährdung der Allianz zu Österreich-Ungarn möglich ist, wie sollte es nicht möglich sein zu einem Staate, der nur in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Italien steht?3 - Wir hören sehr oft die Äusserung in privaten Kreisen und in der Presse, dass Italien etwas gegen uns im Schilde führe. Das gleiche wird in Italien von uns behauptet.
Eine hochgestellte italienische Persönlichkeit hat mich letztes Jahr in meiner Eigenschaft als Stellvertreter des Chefs des Politischen Departements besucht und mich dabei direkt angefragt, ob zwischen der Schweiz und Österreich-Ungarn eine geheime Allianz besteht4. Ich versicherte, dass für uns keine geheime Allianz möglich sei, dass aber keine offene Allianz bestehe, könne er selbst wissen. Der Herr erklärte aber beim Abschiede, dass er trotzdem an die Allianz glaube. In Italien wird von Tausenden daran geglaubt; ich kann nur nochmals erklären, dass daran kein wahres Wort ist, wie Sie das übrigens am besten selbst wissen, da wir ohne die Bundesversammlung keine Allianz begründen können. Wie stehen wir zu Österreich? Ausgezeichnet gut! Das Verhältnis ist dasjenige von zwei ältern Herren, die benachbarte Häuser bewohnen, sich täglich sehen und grüssen, ruhig ihrer Arbeit nachgehen und vor dem Zubettgehen nochmals die Zipfelmütze lüpfen und sich gute Nacht sagen.
Im Jahre 1906 ist bei feierlichem Anlasse vom Vertreter der Schweiz in Italien erklärt worden: «Wir begnügen uns mit unserm Landbesitz, geben aber auch kein Quadratzoll davon ab.» Diese Erklärung wurde allgemein begrüsst und günstig aufgenommen. In letzter Zeit werden nun offenkundige Ammenmärchen über den Aufmarsch italienischer Gruppen an der Grenze und angebliche Überfallspläne veröffentlicht. Auch wird erzählt, Italien habe bei den Allianzmächten angefragt, ob sie mit der Annexion des Tessin einverstanden wären. Solchen Dingen gegenüber dürfen wir vertrauen auf die Worte dessen, der in Italien den Staat gegen aussen vertritt, und hier erinnere ich noch an die Zusammenkunft vor 6 Jahren anlässlich der Simplonfeier und der Worte, die das italienische Staatsoberhaupt in Brig gesprochen hat und die für unser Staatswesen nur die Sympathie und Freundschaft bekundeten. Seitdem hat sich nichts ereignet, das irgendwie zu der Annahme führen könnte, dass heute jene Worte keine Gültigkeit mehr besitzen.
Nach all dem Gesagten scheint es dem Bundesrat, es sei angezeigt, dass die schweizerische Presse bei aller Achtung vor der Pressfreiheit den freundschaftlichen Rat entgegennehme, der Behörde in ihrem Bestreben, die sehr guten Beziehungen zu Italien aufrecht zu erhalten, nicht hinderlich entgegenzutreten, sondern behilflich zu sein. Wenn etwa gesagt wird, es sei Pflicht der Presse, auf alles aufmerksam zu machen, so darf gesagt werden, dass die Presse ohne Verletzung der Berufspflicht das Recht besitzt, auch zuweilen zu schweigen.
- 1
- Der Bund, Nr. 572, S. 2 vom 5. Dezember 1912. Der Bund, Nr. 572, 5. Dezember 1912. Das Protokoll des Ständerates vom 4. Dezember 1912 enthält eine geraffte Version der Ausführungen Forrers (E 1001 (D) d 1/163). Entwurf Forrers vom 4. Dezember 1912 siehe ZB Zürich MS Z II 741.↩
- 2
- Das BR-Prot. vom 19. Juni 1912 hält fest: Beziehungen zu Italien. Mündlich. Herr Bundespräsident Forrer teilt mit, dass Herr Ständerat Winiger anlässlich der Behandlung des Geschäftsberichtes im Ständerat den Bundesrat über die Beziehungen zu Italien anzufragen gedenke. Herr Bundespräsident Forrer beantragt, der Bundesrat wolle ihn ermächtigen, dahin zu wirken, dass die Anfrage unterlassen bleibe. Der Bundesrat schliesst sich diesem An trage an (E 1004 1/248). Ständerat Winiger war z. Zt. Präsident der Geschäftsprüfungskommission.↩
- 3
- Der entsprechende Satz lautet im Protokoll des Ständerates vom 4. Dezember 1912: Wenn das Italien gestattet ist gegenüber einem Alliierten, so wird das noch weniger beanstandet werden können, wenn es irgend einem Dritten gegenüber geschieht (E 1001 (D) d 1/163).↩