dodis.ch/42103
Der Vorsteher des Eisenbahn- und Handels départements,
J. Heer, an den schweizerischen Gesandten in
Paris,
J. K. Kern1
Nachdem ich einigermassen mich in meinem neuen Departement umgesehen u. orientirt habe, erlaube ich mir, sofort bei Ihnen eine Einfrage mit Bezug auf unsere Handelsvertrags-Angelegenheit zu stellen. Bekanntlich ist der gekündigte 64er Vertrag ehemals & zwar bis 1. May l.J. prolongirt worden2, u. ich denke mir, dass, wenn dieser Termin erreicht u. noch nichts Neues vereinbart ist, keine besondere Schwierigkeit bestände, eine neue Verlängerung zu erhalten u. zu gewähren. Gleichwohl scheint mir, dass die Sache nicht auf unbegrenzte Zeit in diesem Schwebezustand bleiben kann u. wir insbesondere sind durch die Lage unserer Zolltarif-Revision genöthigt, eine Lösung der Fessel anzustreben, welche der bestehende Vertrag uns angelegt hat. Im nächstem Juny wird der Nationalrath sich mit dem Zolltarif beschäftigen u. wenn dann, wie ich hoffe, eine Einigung mit dem Ständerathe erzielt wird, so stände nichts im Wege, den neuen Tarif – Referendumsschwierigkeiten Vorbehalten – auf 1. Jan[uar 1879 in Kraft zu setzen, was uns, bei der Lage unserer Finanzen3, äusserst erwünscht sein müsste. Die nothwendige Voraussetzung aber besteht darin, dass wir vorher auch mit Frankreich (& Italien) im Reinen seien; u. wenn dies in Aussicht zu nehmen ist, so darf man mit dem Anfängen nicht zu lange warten; denn man weiss, dass derartige Verhandlungen sich immer in die Länge ziehen – weit mehr, als man zuerst es sich vorstellt. Nun hätte es mir in jedem Betracht ungemein wünschbar geschienen, wenn wir vor dem Juny wenigstens einige präliminäre Verhandlungen hätten durchführen können, welche uns ohne Zweifel darüber ins Klare gesetzt hätten, ob u. in welchen Punkten u. in welchem Umfange von der, durch die ständeräthlichen Beschlüsse4 (die Sie in Händen halten werden?) gelegten Grundlage wird abgewichen werden müssen: es würde dies für die Behandlung der Angelegenheit im Nath[ional Rathe unzweifelhaft sehr erspriesslich sein. Allein da entsteht nun die Frage: ist Frankreich bereit, innerhalb einiger Monate mit uns anzubinden. – Die frühem Vorgänge scheinen zu beweisen, dass man in Paris wünscht, England den Vortritt zu lassen & ich glaube, auch uns kann dies ganz recht sein: was dieser Stärkere den franz. Protectionisten abringt, ist ja dann ohne Zweifel auch schon für uns gewonnen. Nun weiss ich absolut nicht, ob die Negotiation zwischen Frankreich & England, die ja schon begonnen hatte, aber dann durch die Ereignisse vom letzten May5 unterbrochen wurde, seither wieder aufgenommen worden ist oder doch demnächst wieder aufgenommen werden soll. Bevor wir nun bei der französ. Regierung Schritte thun, um unsere Angelegenheit in Fluss zu bringen, wird es sich empfehlen, zuerst einmal sich Gewissheit darüber zu verschaffen, wie es mit jener englisch-französischen Unterhandlung steht. Für heute geht daher meine Bitte lediglich dahin, Sie möchten bei englischen u. französischen Quellen anklopfen, um hierüber genauere Kunde zu erlangen. Daneben aber wird es nichts schaden, wenn Sie eine sich ungesucht darbietende Gelegenheit benutzen, um zu hören, ob die jetzige Regierung auch die Ansicht der frühem theilt, dass England voraus gehen soll, u. ich halte es für angezeigt, wenn Sie dabei zu erkennen geben, dass wir, mit Rükksicht auf unsere interne Lage, eine allzu weite Verzögerung der Neu-Regulirung der Vertrags-Angelegenheit nicht wünschen oder acceptiren könnten. – Sie würden mich zu grossem Danke verpflichten, wenn Sie mir in nächster Zeit über den Erfolg daheriger Schritte, über die dort waltenden Stimmungen, u. über ihre eigene Würdigung der Sachlage einige Mittheilungen zukommen lassen wollten.6 – Von dem Stand der Dinge in Betreff des italo-französ. Handelsvertrages weiss ich auch nichts Bestimmtes: hier will man wissen, dass derselbe kaum die beidseitige Ratification erlangen dürfte, doch beruht dies kaum auf ganz zuverlässigen Angaben. Möglicherweise sind Sie in der Lage, auch hierüber etwas Sicheres in Erfahrung zu bringen.