Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
VI. EISENBAHNEN
1. Der Bau der Gotthardbahn
1.3. Die Gotthardbahn im Urteil des Auslandes
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 91
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#J1.2#1000/1310#188* | |
Old classification | CH-BAR J 1.2(-)1000/1310 14 | |
Dossier title | von Tschudi Johann Jakob, Gesandter in Wien (1876–1883) | |
File reference archive | 8-144 |
dodis.ch/42070
In Ihrer Depesche vom 19. Februar2, die von dem «Antrage der Direction der Gotthardbahn etc.» begleitet war, drücken Sie den Wunsch aus, dass, wenn ich etwas Interessantes über diese Angelegenheit erfahre, ich es Ihnen mittheilen möge. Da nun die Gotthardangelegenheit hier in weiten Kreisen ein Aufsehen macht, von dem man in der Schweiz kaum einen Begriff haben dürfte, und die Urtheile darüber im Allgemeinen sehr hart und böse sind, so ziehe ich es vor Ihnen ein Resumé derselben privat und confidentielzu geben, statt sie zum Gegenstände einer officiellen, wenn auch confidentiellen Mittheilung an Ihr Departement zu machen.
Ich habe Gelegenheit gehabt mit techn[ischen Fachmännern, mit Staatsmännern und Finanzcapacitäten über die Verhältnisse der Gotthardbahn zu sprechen. In einzelnen Fällen habe ich das Gespräch darauf gelenkt, in den meisten geschah es aber von anderer Seite und ich bemerkte wiederholt, dass die Betreffenden sich dabei Reserve auferlegten und einen Theil ihrer pessimistischen Ansichten mir gegenüber gar nicht aussprachen.
Wenn ich in wenigen Worten den Eindruck charakterisiren soll, den diese Ansichten und Urtheile auf mich machten, so kann ich, offen gestanden, nur sagen, dass er ein unendlich bemühender war; es waren fast nur vernichtende Urtheile, die ich zu hören bekam. Ich will nur einzelne Punkte davon hervorheben.
Dass die Gotthardbahndirection die Schuld der mangelhaften Voranschläge von sich abwälzen und der internationalen Conferenz aufbürden will, findet man höchst ungerechtfertigt, da letztere doch annehmen musste, dass ihr gewissenhafte und gründliche Voranschläge vorgelegt worden und sie sich in der verhältnismässig kurzen Zeit, in der sie ihrer Aufgabe gerecht werden sollte, unmöglich mit einer gründlichen Überprüfung der vorliegenden Detailprojecte befassen konnte; sie musste Vertrauen in die ihr unterbreiteten Detailvoranschläge haben und als Hauptaufgabe die handelspolitische und finanzielle Frage betrachten. Es bemerkte jemand, der den Bericht auszugsweise in Zeitungen las, sehr boshaft er mache ihm den Eindruck, als wäre er in Kalksburg (ein Jesuitencollegium einige Stunden von Wien entfernt) und nicht in Zürich verfasst worden.
Die Überschreitung der Voranschläge der tessinischen Thalbahnen von 18,5 auf 51,6 Millionen findet man eine im Eisenbahnwesen einzig dastehende Ungeheuerlichkeit, die, im Auslande wenigstens, das grösste Misstrauen gegen das ganze Unternehmen einflössen müsse. Dass man, wo es sich um Milliarden handle, [sich]um 100,000,000 täuschen könne, will man allenfalls gelten lassen, aber sich bei einem Voranschlage von 187 Millionen um 102 Millionen zu täuschen, das erfachet die herbste Kritik.
In technischen Kreisen erkennt man die Wahl Gerwigs als einen ausserordentlichen Missgriff der Direction, und billigt auch die von Hellwag durchaus nicht, denn man beschuldigt ihn als Hauptursache des finanziellen Ruins der österreichischen Nordwestbahn. Ob mit Recht oder Unrecht weiss ich absolut nicht. Übrigens hörte ich noch gestern, dass Hellwag beabsichtige seine Stelle niederzulegen; so soll er wenigstens an hiesige Freunde geschrieben haben; verbürgen kann ich es nicht.
Was die Subventionen betrifft so wird nach hiesigen Ansichten Italien keinen Centesimo mehr zahlen, als wozu es sich schon verpflichtet hat; man meint sogar man müsse schon sehr zufrieden sein, wenn es nur das pünktlich bezahlt. Dem Versuche England zur Subvention beiziehen zu wollen wird nicht der geringste Erfolg prophezeit, da England in dem Gotthardtunnel einen gefährlichen Concurrenten für seine Schiffahrt sehe; und seit der telegraphischen Verbindung mit Indien, für die Beschleunigung der Überlandpost um wenige Stunden keine nennenswerthen Opfer mehr bringen werde. Das ist die Ansicht eines engl. Staatsmannes. Deutschland allein, meint man werde sich vielleicht noch zu einer weiteren Unterstützung entschliessen, aber, sagte mir ein anderer Staatsmann, die Schweiz treibt ein frevelhaftes Spiel mit den fremden Subventionen; sie sind nicht à fonds perdu angelegt, sondern werden im gegebenen Momente der Schweiz furchtbar theuer zu stehen kommen. «Ihr Vaterland», fügte er bei, «steht vor der Pforte des verhängnisvollsten Ereignisses seit V[seiner Existenz; kein Mensch ist heute im Stande die Folgen, die die Gotthardfrage haben wird, zu berechnen, jedenfalls aber werden sie politisch von immenser Tragweite sein.»
Die Schweiz, meint man hier weiter, werde vor Allem /aus], wenn sie auf irgend eine weitere Subvention von irgendwelcher Seite rechnen wolle, vorerst selbst mit einer sehr grossen Subvention einstehen müssen, und zwar einer so bedeutenden, wie sie die finanz. Kräfte der Schweiz nur irgendwie zu leisten im Stande seien. – Überhaupt wird von Finanzcapacitäten die schweizerische Eisenbahnpolitik einer sehr herben Kritik unterzogen. Sie behaupten die Schweiz müsse sich auf dem eingeschlagenen Wege finanziel gänzlich ruiniren, die Gemeinden verarmen und es müsse dann unausbleiblich ein zerstörender Rückschlag auf die agricolen und industriellen Verhältnisse folgen. Eine Entmuthigung der wegen unrentabler Eisenbahnen tief verschuldeten Gemeinden werde unausbleiblich und in politischer und socialer Hinsicht folgeschwer sein. In der Schweiz. Eisenbahnpolitik herrsche kein leitender Grundsatz, es werden Eisenbahnen gebaut, die schon vom ersten Spatenstiche an den Keim des Ruines in sich tragen; die Concurrenzbahnen ruiniren sich gegenseitig und binnen verhältnismässig kurzer Zeit werde ein gut Theil Schweiz. Eisenbahnen einem traurigen Ende entgegen gehen; ein Schweiz. Eisenbahnkrach sei fast unvermeidlich. Ich übergehe hier Vorwürfe, die man der Gotthardbahndirection macht und will nur beifügen, dass man unverholen sagt ein Directorium eines derartigen Riesenunternehmens, das nur aus drei Juristen bestehe, könne dem Auslande kein Vertrauen einflössen.
Es wurde mir ferner von einigen Seiten aus Fachkreisen bemerkt, man vermisse beim Schweiz. Eisenbahn- und Handelsdepartemente als technischen Consulenten eine Capacität, eine solche, und zwar ersten Ranges, bedürfe der Bundesrath eben so sehr, wie jeder weit grössere Staat und es sollte kein Opfer gescheut werden um eine solche für den Bund zu aquiriren.
Diese Mittheilungen mögen vielleicht schiefe, unrichtige oder pessimistische Anschauungen enthalten, aber ich habe mich verpflichtet erachtet sie Ihnen confidentiel zu berichten um Ihnen zu zeigen wie die Gotthardangelegenheit hier betrachtet wird; sie sind gewissermassen als ein «Stimmungsbericht» anzusehen. Ich wiederhole was ich schon eingangs bemerkte, dass die Angelegenheit hier sehr viel Aufsehen macht und leider für die Schweiz sehr ungünstig beurtheilt wird.
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Railway Tunnels in the Alps Gotthard railway, Construction (1871–1886)