Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. SICHERHEITSPOLITIK
1. Internationale Lage und Kriegsgefahr
1.1. Die Lage in West- und Mitteleuropa
Imprimé dans
Documents Diplomatiques Suisses, vol. 3, doc. 45
volume linkBern 1986
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2300#1000/716#85* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2300(-)1000/716 46 | |
Titre du dossier | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 2 (1874–1877) |
dodis.ch/42024
Meinem jüngsten Bericht über die innere Lage kann ich nur beifügen, dass nach Informationen verschiedenen Ursprungs die Mehrheit für den § I der Militärvorlage nur eine geringe sein könne, und die Entscheidung liege im Bereich von 16–20 Stimmen, deren Votum zur Stunde noch unsicher sey.
Den Kirchenconflikt betreffend will ich nachholen, dass in jüngster Zeit verschiedene Mitglieder des Bundesrathes und des Reichstages bei mir Erkundigungen einzogen über thatsächliche Verhältnisse und einschlägige Bestimmungen bei uns. Überaus häufig wird mir bezeugt, dass das Vorgehen in der Schweiz der Politik des Fürsten Bismark in diesem Kampfe sehr zu Statten komme, und es ist desswegen auch die Stimmung gegen die Schweiz, je nach dem Standpunkt, den jemand zum waltenden Conflikt einnimmt, eine sehr sympathische oder antipathische. Unterlassen will ich nicht, daraufhinzuweisen, dass selbst Männer, welche entschieden regierungsfreundlich, den katholischen Glaubensinhalt mit der modernen Geistesentwiklung und die katholische Kirchenverfassung mit dem modernen Staatsgedanken für unverträglich halten, dennoch den Zeitpunkt für die Auseinandersetzung, mit Rüksicht auf den bevorstehenden zweiten Krieg mit Frankreich übel gewählt zu finden geneigt wären, wenn wirklich von einer Wahl dieses Zeitpunktes von Seite des leitenden Staatsmannes die Rede sein könnte.
Wie ich höre, soll auch im Grossherzogthum Hessen die Vorlage von Kirchengesetzen nahe bevorstehend sein. In Baden und Würtemberg ist, wie bekannt, die Kurie bestrebt, keinen Stoff zu Conflikten zu liefern. In Bayern, wo die klerikale Parthey in überwiegender Mehrheit sich befindet, scheint die Erregung der Gemüther so stark zu sein, dass ein bekannter Reichstagsabgeordneter (Nationalliberal) mir von der Möglichkeit eines Bürgerkrieges sprach (?!). Ruhig beobachtende Offiziere hörte ich versichern, dass selbst in der Armee die politische Gährung sich fühlbar zu machen beginne. Ich hegte stäts und hege noch, die Ansicht, dass bei Erhaltung des äussern Friedens der gegenwärtige Kampf mit einer gründlichen Niederlage der Klerikalen seinen dereinstigen Abschluss finden müsse, doch kann ich mich der Annahme nicht verschliessen, dass die durch denselben geschaffenen innern Schwierigkeiten das Bedürfniss erzeugen können, eine Ableitung nach aussen mittelst eines Krieges suchen zu wollen, oder dass im Fall eines Krieges die Fortdauer des Konflikts Deutschland gewisse Gefahren bereiten könnte.
Was nun die Kriegsgefahr selbst betrifft, so bestätige ich heute in verstärktem Maass die in meinem politischen Berichte vom 28. July 18732 ausgesprochene Ansicht, dass nicht ein zweiter Krieg mit Frankreich überhaupt, sondern nur der Zeitpunkt wann derselbe ausbrechen werde, fraglich sey. Diese Auffassung ist in Deutschland eine so allgemeine, dass man die an Frankreich – zwar nicht in Form einer Circulardepesche – erlassene Drohung, den Zeitpunkt für Wiederbeginn des Krieges nach eigener Convenienz Deutschlands selbst bestimmen zu wollen, fast allgemein ganz selbstverständlich findet. Dass Frankreich selbst den Inhalt dieser Drohung als eine mögliche Eventualität auffasste, habe ich verschiedene Gründe anzunehmen, ergiebt sich übrigens in klarster Weise aus den Rüstungen Frankreichs, und ganz besonders aus dem fast übereilt beschlossenen neuesten Gesetz, die Landesbefestigung betreffend. Dass Fürst Bismark mittels seiner genugsam besprochenen amtlichen und ausseramtlichen Kundgebungen («kalten Wasserstrahl nach Paris», «die Franzosen seien Rothäute» etc.) das französische Nationalgefühl zu verletzen beabsichtigte, scheint mir ebensowenig zu bezweifeln zu sein, als dass sich solche Kundgebungen in gleicher Absicht, amtlich oder ausseramtlich, wiederholen werden. Wie man übrigens zu Frankreich stehe, wird am besten durch das mir versicherte Factum beleuchtet, dass als es sich um die jüngste Berufung Chambords auf den Thron Frankreichs handelte, im preussischen Kriegsministerium alle Vorbereitungen zur Mobilmachung getroffen wurden. Die Ernennung des Fürsten Hohenlohe auf den Botschafter-Posten in Paris wird, troz des milden Wesens dieses Staatsmannes, troz seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Pariser-Gesellschaft, die gegenseitige Stimmung der beiden Länder kaum verbessern, wird seine Mission in Paris doch schon dahin gedeutet, «als solle durch diesselbe auch der Gegensatz zwischen einem deutschen, freisinnigen und dem französisch-ultramontanen Katholizismus accentuirt werden.» (Persönliche Mittheilung des Fürsten Hohenlohe).
Der hiesige Generalstab verfolgt die Entwikelung der französischen Armeereorganisation mit der angestrengtesten Sorgfalt und stellt – vielleicht mit Beziehung auf die im Reichstag schwebende Militärfrage – die Resultate in für Frankreich günstiger Weise dar. Hinsichtlich der hierseitigen Rüstungen (Festungsbauten und Umänderung der Infanterie- und Artilleriebewaffnung) hofft man bis zum Frühling 1875 im wesentlichen fertig zu sein, während die französischen Bauten und Reorganisationen bis zu ihrer Vollendung noch eines Zeitraumes von mehreren (7–8) Jahren bedürfen werden. Abgesehen von den politischen Conjunkturen könnte hienach Deutschland in der militärischen Initiative Frankreich um einige Jahre zuvorkommen.
Den Gang der künftigen Kriegsereignisse betreffend, ersehe ich aus verschiedenen Mittheilungen, dass man sich in dieser Hinsicht in der Schweiz keinen Täuschungen hingiebt. Der Frankfurter Friede hat Frankreich strategisch in eine Lage versetzt, welche es bei einem künftigen Zusammenstoss mit Deutschland nöthigt, in unserm Territorium die Basis eines Offensivkrieges gegen Deutschland zu suchen. Wie ich mehrfach wahrzunehmen Gelegenheit hatte, ist die Ansicht, dass unser Land zum nächsten Kriegsschauplatz bestimmt sein könnte, in militärischen und politischen Kreisen sehr geläufig. Die Lage für uns würde um so verhängnissvoller, als aller Wahrscheinlichkeit nach Italien im nächsten Kriege dazu gebracht werden wird, als Bundesgenosse der einten der kriegführenden Mächte aufzutreten, in welchem Fall gewiss – sonst aber möglicherweise – auch an uns die zwingende Nothwendigkeit herantritt, Parthey zu nehmen.
Ohne in diese Eventualitäten näher einzutreten, wollte ich doch denselben Erwähnung thun und mir eine eingehendere Erörterung hieran sich knüpfender Fragen einer künftigen Mittheilung Vorbehalten. Es ist eine glükliche Fügung für unser Land, dass nach aller menschlichen Voraussicht in wenigen Tagen unsere politische Neugestaltung ihre Sanktion durch das Volk erhalten haben wird, und dass die Schweizerische Bundesregierung dann auf militärischem, finanziellem und politischem Gebiet die den kommenden Ereignissen entsprechenden Vorbereitungen wird treffen können.
Die politischen Beziehungen Deutschlands zum übrigen Ausland muss ich ebenfalls einer nächstkünftigen Darstellung Vorbehalten und [...]3.
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