dodis.ch/42018 Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements, P. Cérésole, an den schweizerischen Gesandten in Paris, J.K. Kern1
Es ist Ihnen ohne Zweifel durch die Presse bekannt geworden, dass in diesen Tagen in Genf eine Drukschrift entdekt wurde, welche sofort in hohem Grade die Aufmerksamkeit der Behörden u. des grössten Theiles der schweizerischen Bevölkerung auf sich gezogen hat. Die Drukschrift, welche nach Berichten der Polizei in Genf in grosser Anzahl in ein Ballot verpakt aus Frankreich nach Genf gekommen ist und wovon wir Ihnen beigeschlossen ein Exemplar übermachen, trägt den Titel «Appel des catholiques suisses aux Puissances signataires du traité de Vienne contre la violation de ce traité par les autorités suisses».2 Es charakterisirt sich also dieses Aktenstük schon durch seine Überschrift als eine Aufforderung fremder Staaten zur Intervention in die innern Angelegenheiten der Schweiz, und es würde, wenn dasselbe zur Unterschrift und Absendung gelangt wäre, nach Art: 37 des Bundesstrafgesezes3 strafbar sein. Der Inhalt selbst lässt denn auch über diese Tragweite des Aktenstüks gar keinen Zweifel, zumal es namentlich bestimmt war, durch die gegenwärtig aufgeregte katholische Bevölkerung im Kanton Genf und im bernischen Jura en masse unterzeichnet zu werden.
Wenn indess, wie wir vermuthen, noch keine eigentliche Vollendung eines Verbrechens gegen die äussere Sicherheit und Ruhe der Eigenossenschaft geredet [sic!]werden kann, so dürfte doch schon jezt von einem strafbaren Versuch im Sinne von Art: 14 des Bundesstrafrechtes4 gesprochen werden können. Es lag daher in der Pflicht der eidgenössischen und kantonalen Behörden, diejenigen Massnahmen zu treffen, welche geeignet sein möchten, den oder die Urheber zu entdeken.
Nun bietet die Drukschrift selbst auch einen Anhaltspunkt hiefür, indem am Ende derselben angegeben ist, sie sei gedrukt worden in «Bar-le-Duc». «Typographie des Célestins. – Bertrand.»
Es wäre uns daher von grossem Interesse, wenn Sie auf einem Ihnen passend scheinenden Wege etwas ermitteln könnten, das geeignet wäre, den oder die Verfasser des fraglichen Aktenstükes und andere dabei betheiligte Persönlichkeiten zu ermitteln, oder über die begleitenden Umstände aufzuklären.5
Wir vermuthen, dass man ein dahin zielendes offizielles Begehren ablehnen würde, weil es sich um ein politisches Verbrechen handle, oder weil es nicht im Wege einer Commission rogatoire gestellt sei, allein es dürft Ihnen dennoch gelingen, in der einen oder ändern Weise uns zu dem erwähnten Zweke behülflich zu sein.
P. S. Wir haben nur erst ein Exemplar des «Appel» & können dieses zur Zeit nicht entbehren. So bald die von Genf nachgeforderten Exemplare ankommen, werden wir Ihnen sogleich eines nachsenden.