Classement thématique série 1848–1945:
IV. NEUTRALITÉ
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1, doc. 347
volume linkBern 1990
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#412* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 67 | |
Dossier title | Missionen von Major Joh. Christian Ott, Bern und Hptm. Ferd. Lecompte, Lausanne, nach Österreich, Italien und Frankreich (1859–1859) | |
File reference archive | B.262 |
dodis.ch/41346
Nachdem ich mich vorerst im Engadin behutsam umgesehen, mit welchen Persönlichkeiten man sich zum bewussten Zweck in Verbindung zu setzen habe, begab ich mich zu Hr. Major Romedi in Madulein, einem jüngern Bruder des Hr. Kursinspektors, welcher wegen seinem bedeutenden Weinhandel mit vielen Firmen des Veltlins im Verkehr steht. Obgleich nicht sanguinischen Temperaments und nicht leicht zu begeistern, leuchteten ihm dennoch die Wiedererwerbungstendenzen dermassen ein, dass er mir sehr werthvolle Räthe und Aufschlüsse mit auf den Weg gab, nebst Spezialempfehlungen an angesehene Bürger in Tirano und Madonna, welche viel mit dem Volk zu verkehren im Falle sind. Das grösste Gewicht legte Hr. Romedi aber auf das mir von Herrn Nat.Rath Planta an Herrn Stabshauptmann Stephan Ragazzi, Handelsmann in Poschiavo, mitgegebene Empfehlungsschreiben, indem derselbe landauf und -ab bekannt sei, in bedeutendem Ansehen stehe und durch den Ankauf der Bäder von Bormio aufs innigste mit den Interessen des Veltlins verknüpft sei. Ich beschloss daher, mit dieser einflussreichen Persönlichkeit direkt in Verbindung zu treten und entdeckte sehr bald, dass dieselbe in Bezug auf gründliche Kenntnis von Land und Leuten, von politischen und nationalökonomischen Verhältnissen, sowie in Bezug auf Takt und Gewandtheit allerdings der geeignetste Mann für allfällige Annexionsversuche, dazu noch auf einem äusserst günstigen Posten sei. Von Puschlav aus debouchirt man nämlich so ziemlich in die Mitte des Veltlins. Ein einziger Punkt erregte einiges Bedenken; das Haus Ragazzi betreibt nämlich einen schwunghaften Schmuggelhandel in Tabacken, welcher durch die Erhebung des Veltlins zu einem selbständigen Kanton dahin fiele; allein der Umstand, dass nicht nur Ostreich, sondern auch Piemont Taback- und Cigarrenfabrikation ausschliesslich als Régie betreiben, würde den drohenden Nachtheil wieder aufheben.
Ragazzi, mit dem man eben etwas offen reden musste, schien denn auch sehr warm für die Sache eingenommen, und nur der Umstand, dass er einer strengen Kur wegen Hals- und Augenübeln unterworfen war, hinderte ihn, mit mir gemeinschaftlich das Ländlein zu bereisen. Er gruppirt die Veltliner in drei Parteien. 1. der Adel, welcher von Piemont eine einflussreichere, unabhängigere, weil bevorrechtigte Stellung erwartet als von der Schweiz. 2. die gebildete bürgerliche Klasse mit einigen wenigen patriotisch, d. h. italienisch gesinnten Nobile an der Spitze, welche ungeachtet einiger Piquen auf die Schweiz (z. B. Nichtwiederauslieferung von Waffen, Waffenausfuhrverbot, Bontemps’sche Neutralitätsplackerei, Fremdendienst, etc.) auf selbige sehr gut zu sprechen wären, wenn Pietätsrücksichten für Piemont, mit dem sie jetzt eine lange Sturm- und Drangperiode durchgemacht, für das sie schon so oft seit 1848 so viele Opfer an Geld und Mannschaft gebracht haben, wenn diese Klasse sich nicht mit fast unauflöslichen Banden an das ebenso zerrüttete und bedrohte Piemont gekettet hätte. Das Veltlin stellt nämlich ausser der von Ostreich ausgehobenen conscriptionspflichtigen Mannschaft 1560 Mann Freiwillige zur piemontesischen Armee, und die Gemeinden besolden und verpflegen fast die ganze garibaldische 12000 Mann starke Legion, welche ihrer sehr mangelhaften Organisation wegen mindestens doppelt so viel kosten soll als die gleiche Anzahl Truppen der regulären Armee. Diese Klasse, meint Hr. Ragazzi, wäre vor 11 Jahren weit zugänglicher gewesen als jezt, und diese beherrscht als die intelligenteste die Presse und folglich die öffentliche Meinung. Die 3. und zahlreichste endlich wäre am besten zu gewinnen: das ist die Partei der Bauern, welche nur rechnen, und die verschiedenen materiellen Vortheile, die ihnen aus dem Wiederanschluss an die Schweiz erwachsen würden, sehr gut gegenüber der jezigen gedrückten Lage abzuwägen wissen. Sogar der sehr zahlreiche Klerus, welcher dem pfaffenfeindlichen und oft exkommunicirten Viktor Emmanuel nicht gar hold sein soll, wie übrigens begreiflich – sei zu dieser letztem Partei zu rechnen. Die Kutten finden nämlich, in der Schweiz sei gut Hütten bauen, und in dieser Beziehung hätten wir also einen Sonderbundskanton mehr auf dem Hals.
Im Allgemeinen genommen wäre der Zeitpunkt, im Vfeltlin] zu wirken, im Hinblick auf die andauernde Missstimmung wegen des unglücklichen Friedens – so übel nicht gewählt, aber ohne gewisse Magnaten ist nichts auszurichten, und Magnaten, die einen ganzen Landestheil ins Schlepptau nehmen, sind eben überall, das wissen wir in Bern auch. Solche sind nun im Veltlin die Grafen v. Salis in Tirano, davon der eine, Ulysses (Ingenieur) wegen seiner vielen Opfer und bittern Schicksale für die italienische Sache allgemein verehrt ist. Er musste nämlich 6 Jahre in Mantua absitzen wegen Insurrektionsversuchen u. dgl. Es scheinen überhaupt beide Männer Magnaten der edelsten Art zu sein, was ihren Einfluss nur noch gewichtiger erscheinen lässt.
An diese Salis hat Hr. Ragazzi, der mit ihnen sehr befreundet zu sein scheint, ein warmes Empfehlungsschreiben mitgegeben; infolge dessen bedurfte ich die Protektion Garibaldis, welcher überdies seit einiger Zeit in Lovere am Lago Iseo am Wund- und Friedensfieber krank darnieder liegt, glücklicherweise nicht. In diesem Schreiben war aber der Reisezweck nicht erwähnt, denn wir fanden vor der Hand rathsam, mit äusserster Vorsicht und unter anderer Flagge ins diplomatische Fahrwasser zu steuern.
Ich begab mich dann also einen Tag, nachdem ich Ihre Depesche erhielt, mit Empfehlungsschreiben der Grafen Salis versehen, zuerst ins obere Veltlin, nach Bormio, wo ein Regiment Garibaldianer stehen. Und wahrlich, auch dort hatte ich den Namen Salis nöthig, wäre es mir doch dort fast so ergangen wie in Landeck... Näheres, darunter vieles Interessante, mündlich.
Ich habe nun das Veltlin von oben bis unten und selbst etwas in die Quere bereist und durchstreift und hoffe, Ihnen, verehrter Herr Präsident, einige werthvolle Mittheilungen zu machen, obgleich es mir täglich so vorkommt, als hätten Sie wohl manchen besseren Diplomaten als meine bescheidene Wenigkeit für diese Tour finden können! Vorgestern kam ich in Mailand an, und werde in einigen, spätestens 6 Tagen, zurück sein und Ihnen alsdann gehörig Rapport abstatten.
Vorläufig muss ich Ihnen aber bemerken, dass ich Zeitlebens nie so theuer gereist bin, sintemal die Rubrik «Unvorhergesehenes» sich etwas bedenklich geltend gemacht hat. Überdies ist richtig, was schon Mögling heim schrieb, dass Alles beinahe doppelt theuer als z.B. im sehr guten Jahr 1848 bezahlt werden muss.
Hier in Mailand ist der Lärm gegen die Schweizer verstummt. Morte ai Svizzeri steht zwar an den Mauern geschrieben, aber dennoch freuen wir uns des Lebens, denn das verschärfte Werbverbot und die Sendung Latours nach Neapel2 hat wieder gutes Blut gemacht, wie denn der Italiener überhaupt nicht so blut- und rachedurstig ist, als mancher ihn dafür ausgiebt. Nur den Frieden wollen und können sie nicht verdauen – wird ihnen allem Anschein nach noch lange im Magen liegen bleiben, besonders der venetianischen, römischen und neapolitanischen Emigration!
Viele verwundete Zuaven, Turcos, piemontesische Kavalleristen, überhaupt Truppen aller Waffenarten humpeln in den Strassen herum oder werden spazieren geführt. Nächster Tage wird die Garde hier eintreffen (ca. 40 000). Die Presse ergeht sich in den drolligsten Conjunkturen über den Zürcher Kongress. Tausende von Trikoloren wehen auf Strassen und Plätzen, italienische und französische. Merkwürdigerweise färben aber letztere ab.