Classement thématique série 1848–1945:
III. AFFAIRE DE NEUCHÂTEL
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1, doc. 73
volume linkBern 1990
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#J1.20#1000/1311#3* | |
Old classification | CH-BAR J 1.20(-)1000/1311 1 | |
Dossier title | Briefwechsel mit Hirzel, schweiz. Konsul in Leipzig (1849–1858) |
dodis.ch/41072
Da ich bis jetzt zu meiner etwelchen Verwunderung und zu meinem Leidwesen mich ohne irgend eine Antwort auf meine Mittheilungen vom 17. vorigen Monats2 befinde, auch ohne Genehmigung des Bundesrathes mich nicht nach Berlin begeben konnte, so sehnlich ich dies auch wünschte, so erachtete ich es nichts desto weniger für meine Pflicht, so genau wie möglich orientirt zu bleiben von allem, was in Berlin in den Schweizerangelegenheiten vorgeht. Meine an sehr guter Quelle privatim und ganz vertraulich eingezogenen Erkundigungen setzen mich in den Fall, Ihnen heute folgende Mittheilungen zu machen.
Das Ministerium in seiner Majorität will durchaus aus der Neuchateller Geschichte keinen casus belli machen. Nur der König, die Camarilla, zu welch letzterer die Neuenburger Patrizier Pourtalès und Consorten gehören, scheinen wenigstens für den Augenblick mit einem förmlichen Eroberungsteufel besessen zu seyn und sollen sich, wenn im Minister-Rath die Sache zur Sprache kommt, immer darauf berufen, dass ja die grosse Majorität der Bevölkerung durchaus wieder preussisch werden wolle. So viel ist ausser Zweifel, dass das Treiben und Stossen zu extremen Schritten von den Reactionairs in Neuchâtel ausgeht und dass ohne die Manœuvres dieser Parthey die Erledigung der Frage unendlich leichter werden dürfte.
Was die Regierung anbelangt, so ist es ebenfalls unzweifelhaft, wie ich es Ihnen zu wiederhohlten Malen meldete, dass ihr durchaus nichts an Neuchâtel gelegen ist, dass man sogar bedauert, dass voriges Jahr schweizerischer Seite keine Schritte geschehen sind, um die Sache zu erledigen; an Andeutungen zu solchen soll es nicht gefehlt haben. Allein da unsrerseits nichts geschehen ist, Preussens Ehre es nicht gestattet, seine Einwilligung zur Emancipation zu geben, wenn man sich schweizerischer Seite nicht einmal die Mühe geben will, diese Einwilligung nachzusuchen, der phantastische König nun wieder ebenfalls von Suzerainität träumt, die Réaction sich auch wieder fester im Sattel fühlt, so dürfen Sie sich gar nicht wundern, wenn man absichtlich die Sache recht verwickelt und von Wiedereroberungen spricht, an die, einige wenige Köpfe ausgenommen, niemand ernstlich denkt.
Ich kann freilich nicht beurtheilen, ob in welcher Art die Sache mit Wildenbruch in Bern ist besprochen worden, aber ich vermag mich von dem Gedanken nicht zu tretten, dass, wenn ein vermittelnder persönlicher Character wie Sie, der Sie überhaupt in Berlin einen guten Ruf haben, vorerst privatim in Berlin erschiene und das Terrain sondirte, mit den Leuten spräche, die Frage sich wahrscheinlich auf die leichteste, und jedenfalls für die Schweiz auf die ehrenhafteste Weise würde erledigen lassen. Überlegen Sie sich, mein verehrtester Herr, diese meine Ansicht. Sie werden mir zugeben, dass ich die Neuchateller Geschichte seit geraumer Zeit ziemlich richtig beurtheilt habe, wenn ich auf Erledigung der Frage wiederhohlt drang, so hatte ich dazu meine guten Gründe; die gleichen Gründe veranlassen mich auch heute noch, meine Vorschläge Ihrer Erwägung anheim zu geben. Keller kann in der Sache viel thun, für Sie wird er mehr thun, als für irgend jemand. Vom 15. dieses Monats an ist er in Erfurt und dort könnten Sie ihn ja sprechen, dort auch manche einflussreiche Personen sehen, so dass es vielleicht gar nicht nöthig wäre, nach Berlin zu gehen.
Wildenbruch, der mit einem grossen Aberwillen und gewissen Vorurtheilen die Mission nach der Schweiz übernommen haben soll, soll im allgemeinen günstige Berichte über unsere Verhältnisse erstattet, und innen ganz anders und besser gefunden haben, als er sich vorgestellt hatte. W[ildenbruch]gilt übrigens im allgemeinen für einen beschränkten Kopf, und einen noch beschränkteren Diplomaten, der manche Beweise von diplomatischer Unfähigkeit in den Schleswig-Holsteinschen Angelegenheiten gegeben haben soll.
Was meine persönlichen Angelegenheiten und meine Nichtanerkennung anbelangt, so habe ich natürlich nichts darüber verlauten lassen; verhehlen darf und will ich Ihnen indessen nicht, dass es mir eben nicht sehr angenehm ist, mich in allen Blättern herumgezogen zu sehen und den Leuten nicht sagen zu können, warum Preussen mich nicht anerkennen will. Ich sehe mit Sehnsucht fernem Berichten des Bundesraths entgegen und hoffe recht bald aus der falschen und keineswegs angenehmen Stellung, in der ich mich augenblicklich befinde und die meinem Wirkungskreis keineswegs förderlich ist, gezogen zu sehen.
Nicht uninteressant wird es Ihnen seyn zu erfahren, dass eigentlich die erste Idee einer bewaffneten Intervention von Ostreich ausgegangen ist, das augenblicklich Tessin besetzen wollte. Die ersten diesfalls von Ostreich zwar anfänglich ohne Preussen gemachten Eröffnungen sollen von Frankreich günstig auf genommen worden und dadurch Ostreich veranlasst worden seyn, Preussen zur Mitwirkung seiner Pläne aufzufordern. Die Sache ist unglaublich; aber das Factum, dass Frankreich im Anfang gemeinschaftlich mit Ostreich gegen die Schweiz aufzutretten willens war, ist nicht zu läugnen. Die Änderung Frankreichs Gesinnungen soll dem Präsidenten persönlich zuzuschreiben seyn, der sich erinnert haben mag, wie die Schweiz sich seinerzeit gegen ihn benommen hat. Preussen soll Ostreich zum Temporisiren veranlasst haben und auch jetzt noch zur Mässigung rathen. Beyde Cabinette sollen in der Interventionsfrage uneins, einig aber darüber seyn, der Schweiz fühlen zu lassen, dass sie Rücksichten gegen die grossen Mächte nicht so gänzlich ausser Acht lassen darf. Dieses Fühlen-lassen soll in allen möglichen Gränz- und Verkehrs-Chicanen und so weiter bestehen. Sie können sich darauf gefasst machen, dass dies geschehen wird.
Diese Mittheilungen hat mein ganz vertrauter Berliner Berichterstatter vor wenigen Tagen aus dem Munde eines hochgestellten preussischen Staatsmannes vernommen.
Wenn Sie Herrn Dr. B[arman]in Paris schreiben, so geben sie ihm den wohlgemeinten Rath, dem österreichischen Gesandten daselbst (Flübner) nicht zu trauen; ich kenne diesen Mann, der lange Jahre hier die Stelle eines österreichischen General-Consuls bekleidete, sehr genau, er ist ein Günstling und Zögling von Metternich, durch und durch Jesuit, und ein geschworener Feind der Schweiz.