Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 22, doc. 68
volume linkZürich/Locarno/Genève 2009
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2804#1971/2#610* | |
Old classification | CH-BAR E 2804(-)1971/2 43 | |
Dossier title | Eröffnungs - Erklärung vor dem Ministerrat der Europäischen Wirschaftsgemeinschaft (EWG), September 1962 (1962–1962) | |
File reference archive | 067 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2804#1971/2#332* | |
Old classification | CH-BAR E 2804(-)1971/2 43 | |
Dossier title | Schweizerische Erklärung vor dem Ministerrat der Europäischen Wirschaftsgemeinschaft (EWG) in Brüssel, 24. September 1962 (1962–1962) | |
File reference archive | 067 |
dodis.ch/30208
Schematische Skizze einer schweizerischen Eröffnungserklärung3
I. Gründe, die die Schweiz veranlasst haben,
ein Verhandlungsgesuch zu stellen.
1. Die Schweiz als Land im Herzen Europas wird unmittelbar berührt durch Entwicklungen in ihren Nachbarländern, an denen sie direkten und konstruktiven Anteil nimmt.
2. Die Schweiz hat sich an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas in den Nachkriegsjahren aktiv beteiligt. Unsere Bemühungen waren darauf gerichtet, einen Beitrag zur wirtschaftlichen Stärkung Europas zu leisten.
3. Die Tendenz zur Schaffung grösserer Wirtschaftsräume und die wirtschaftliche Bedeutung der Integration für Europa.
a. Erhöhung der Produktivität der europäischen Wirtschaft.
b. Stärkung der Möglichkeiten des europäischen Beitrages an den wirtschaftlichen Fortschritt der Welt.
4. Der Grad der in Europa erreichten Integration im allgemeinen und der wirtschaftlichen Verflechtung der Schweiz im besondern.
5. Der sich aus der wirtschaftlichen Logik ergebende Wunsch der Schweiz, sich an einem integrierten europäischen Markt zu beteiligen, wird bestärkt durch die Feststellung, dass die Ziele der Integration weitgehend in Einklang stehen mit den Konstanten
a. der schweizerischen Wirtschaftspolitik (Liberalismus);
b. der schweizerischen Aussenhandelspolitik (Intensivierung der Zusammenarbeit; Abbau der Handelsschranken).
6. Schicksal der Schweiz mit Europa nicht nur wirtschaftlich untrennbar verflochten, sondern auch kulturelle und weltanschauliche Verbindung. Die Schweiz als Hüterin eines besonderen politischen Gedankengutes (direkte Demokratie, Föderalismus, individuelle Freiheitsrechte).
7. Die Schweiz anerkennt daher auch die politische Bedeutung der Integration, insbesondere die Anstrengungen nach einer Stärkung freiheitlicher politischer Tendenzen und einer Sicherung der politischen Stabilität.
8. Die schweizerische Neutralität steht nicht im Widerspruch zu den politischen Zielen der EWG. Obschon sie eine Identifizierung mit ihnen ausschliesst, stellt sie keine Behinderung zu deren Verwirklichung dar. Der wahrhafte Charakter der schweizerischen Neutralität leistet einen positiven Beitrag zur Stärkung Europas und stellt, weltpolitisch gesehen, ein Element der Entspannung dar.
II. Gründe, weshalb die Schweiz
eine Assoziationsregelung anstrebt
1. Angesichts der politischen Zielsetzung der EWG und der Entschlossenheit der Schweiz, an ihrer Neutralitätspolitik festzuhalten, ergibt sich die Notwendigkeit einer Regelung sui generis. Die Assoziation ist diejenige Form, die der Schweiz die intensivste wirtschaftliche Mitwirkung an einem integrierten europäischen Markt ermöglicht.
2. Diese besondere Regelung muss es den neutralen Partnern ermöglichen, ihre Identität namentlich hinsichtlich der Beziehungen zu Drittstaaten, den neutralitätspolitischen Grundsatz der Allseitigkeit der Handelsbeziehungen, sowie die aus politischen Gründen unter Umständen notwendig werdende Handlungsfreiheit zu wahren. Zu diesem Zweck sind ferner für den Fall internationaler Konflikte ein in geeigneter Form auszugestaltendes Suspendierungs- bzw, Kündigungsrecht sowie die Erhaltung einer unabhängigen kriegswirtschaftlichen Versorgungsbasis erforderlich. Der neutrale Staat hat aber nicht die Absicht, damit den wirtschaftlichen Konsequenzen der Integration auszuweichen. Diese Mittel dienen einzig dem Zweck, das Vertrauen der Drittstaaten in den Willen und die Möglichkeit der unbehinderten Fortsetzung der Neutralitätspolitik zu erhalten.
3. Anderseits kann diese Regelung die politische Bewegungsfreiheit der EWG gewährleisten und eine Einflussmöglichkeit der Neutralen ausschalten. In diesem Sinne erscheinen die Ansprüche, welche die EWG und der neutrale Staat aus politischen Gründen an ein Abkommen stellen müssen, weitgehend als parallel.
4. Angesichts dieser Bedürfnisse hatte die Schweiz mit Genugtuung vermerkt, dass der Römer Vertrag so konzipiert wurde, dass auf Grund von Art. 2384 eine Assoziierung von Staaten möglich erscheint, welche wirtschaftlich intensiv am integrierten Markt mitwirken wollen, aber aus politischen Gründen keine Vollmitgliedschaft ins Auge fassen können.
III. Grundkonzeption des Assoziationsverhältnisses
A. Allgemeine Grundsätze
1. Bei der Prüfung des möglichen Inhalts des angestrebten Abkommens knüpft die Schweiz an den Wortlaut von Art. 238 des Römer Vertrags an, auf Grund dessen die EWG Abkommen schliessen kann, «die eine Assoziierung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten, gemeinsamem Vorgehen und besonderen Verfahren herstellen». Um diese Gegenseitigkeit herzustellen und um dieser Assoziierung einen vollen Inhalt zu geben, ist die Schweiz bereit, auf den verschiedenen vom Römer Vertrag erfassten Gebieten Verpflichtungen zugunsten der EWG-Mitglieder auf sich zu nehmen. Diese Bereitschaft ergibt sich schon aus der Tatsache, dass die Verflechtung und die bisherige Zusammenarbeit der Schweiz mit dem übrigen Europa nicht nur den Warenverkehr, sondern alle innerhalb der EWG erfassten Bereiche des Wirtschaftslebens, wie das Kapital, die Arbeitskraft und die Dienstleistungen, betroffen hat.
2. Die Schweiz anerkennt, dass die Teilnahme an einem integrierten Markt seitens der einzelnen Länder voraussetzt, dass sie gewillt sind, auf den verschiedenen Sektoren ihrer Wirtschaftspolitik Disziplin zu üben und vor allem Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, welche das ordnungsgemässe Funktionieren des Marktes und die Gleichheit der Konkurrenzstellung der in seinem Bereich tätigen Unternehmungen beeinträchtigen könnte.
3. Die Schweiz ist bereit, die Zielsetzung ihrer Wirtschaftspolitik derjenigen der EWG weitgehend anzugleichen oder zu koordinieren und die Verwirk lichung der Ziele im gleichen Rhythmus wie die EWG anzustreben. Die Tatsache, dass das wirtschaftspolitische Ziel des Römer Vertrages in der Verwirklichung eines freiheitlichen europäischen Marktes besteht und sich in dieser Hinsicht mit der traditionellen schweizerischen Auffassung deckt, dürfte hiefür eine weitgehende Garantie darstellen. Sollte es wider Erwarten im einen oder andern Fall nicht möglich sein, diese Postulate zu erfüllen, so könnten im Falle schädigender Wirkungen entsprechende Ausgleichsmassnahmen vorgesehen werden. Die Schweiz macht es sich zur Richtlinie, dort, wo aus irgendeinem Grunde mit dem Römer Vertrag identische Bestimmungen nicht möglich erscheinen, Leistungen zu erbringen, die in ihrer wirtschaftlichen Wirkung für den integrierten Markt denjenigen der EWG-Mitglieder gleichwertig sind (oder nahe kommen).
B. Vorgesehener Inhalt des Abkommens
4. In Ausführung dieser allgemeinen Grundsätze ist die Schweiz bereit, in Anlehnung an den Römer Vertrag im Rahmen der Gegenseitigkeit Verpflichtungen zu übernehmen, die darauf hinzielen
a. die Zölle und mengenmässigen Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren sowie alle sonstigen Massnahmen gleicher Wirkung abzuschaffen, wobei allerdings die besonderen Verhältnisse der Landwirtschaft einer besonderen Prüfung bedürfen.
b. ihren Zolltarif [weitgehend mit demjenigen der EWG zu harmonisieren]5[im Prinzip dem gemeinsamen Tarif der EWG anzupassen] soweit der erforderliche Spielraum für die Ausübung der Vertragsfreiheit gegenüber Drittstaaten gewährt bleibt;
c. ihre Handelspolitik mit derjenigen der EWG zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen im integrierten Markt in wirksamer Weise zu koordinieren;
d. die Wanderfreiheit der Arbeitskräfte herzustellen, wobei die Aufrechterhaltung des demographischen Gleichgewichts der Schweiz zu berücksichtigen ist;
e. [die Wanderarbeiter in Bezug auf die Sozialversicherung den einheimischen Arbeitern gleichzustellen] [den Wanderarbeitern in Bezug auf die Sozialversicherung die gleichen Möglichkeiten wie den einheimischen Arbeitern einzuräumen] [die Sozialversicherung für Wanderarbeiter weiterhin auszubauen];
f. die Dienstleistungen zu liberalisieren;
g. dem Grundsatz der Freiheit des Kapitalverkehrs zuzustimmen;
h. die Landwirtschaft in einer noch eingehend zu prüfenden Weise in den Bereich des Assoziationsabkommens einzuschliessen, [um unter Berücksichtigung der besonderen schweizerischen Verhältnisse zu einer Harmonisierung mit der Landwirtschaftspolitik der EWG zu gelangen;]
i. in enger Zusammenarbeit mit der EWG eine Verkehrspolitik zu befolgen, die auf die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen gerichtet ist;
k. auf private oder öffentliche Praktiken zurückzuführende Beschränkungen des Wettbewerbs zwischen den Teilnehmern am integrierten Markt zu bekämpfen;
l. in Fragen der Konjunktur- und Zahlungsbilanzpolitik mit der EWG eng zusammenzuarbeiten;
m. an die Äufnung des Sozialfonds beizutragen;
n. in geeigneter Weise an die Finanzierung der Europäischen Investitionsbank beizutragen.
Darüber hinaus ist die schweizerische Regierung selbstverständlich bereit, allfällige andere im Zusammenhang mit dem Assoziationsverhältnis wesentliche Fragen, wie z. B. das Verhältnis der Schweiz zu den assoziierten überseeischen Staaten zu besprechen. Die schweizerische Regierung ist überzeugt, dass die dargestellte Verhandlungsbereitschaft der Schweiz es möglich macht, zu einem Assoziationsabkommen zu gelangen, das auf dem in Art. 238 vorgesehenen Ausgleich von gegenseitigen Rechten und Pflichten beruht.
Grundsätze betreffend Institutionen
5. Der Überblick über die Verpflichtungen, welche die Schweiz auf den einzelnen Gebieten ins Auge fasst, zeigt, dass das von ihr angestrebte Assoziationsverhältnis den wirtschaftlichen Zielen und dem wirtschaftlichen Gehalt des Römer Vertrages weitgehend entspricht. Dagegen ist sich die Schweiz bewusst, dass eine Assoziationsregelung ein besonderes institutionelles Verfahren zur Erreichung dieses Zieles voraussetzt.
a. Die gegenseitigen Verpflichtungen werden im Assoziationsvertrag möglichst eingehend fixiert, was dadurch erleichtert wird, dass seit Abschluss des Römer Vertrages die EWG-Staaten in vielerlei Beziehung zu einer Präzisierung ihrer gegenseitigen Verpflichtungen gelangt sind. (Die Beschlussfassung innerhalb der EWG braucht dadurch nicht präjudiziert zu werden.)
b. Für die spätere Gestaltung von vorderhand erst allgemein gehaltenen Verpflichtungen für die sich noch nicht im gewünschten Umfange Präzisierungen erzielen lassen, werden so konkret als möglich verbindliche Richtlinien aufgestellt.
c. Für die Durchführung des Assoziationsvertrages, die künftige Koordinierung auf den verschiedenen Gebieten der Wirtschaftspolitik und die Präzisierung von allgemein gehaltenen Verpflichtungen ist ein Assoziationsrat zuständig, dessen Mitglieder die EWG einerseits und die Schweiz anderseits sind. Wichtig erscheint insbesondere eine konstruktive Ausgestaltung der Konsultationsmöglichkeiten.
d. Eine zusätzliche Garantie für das gute Funktionieren des Assoziationsverhältnisses könnte in der Errichtung einer Schiedsinstanz liegen. (Dieser könnten u. a. folgende Aufgaben übertragen werden:
I. Prüfung von Klagen über das Nichtvorhandensein der vertraglich vorgesehenen Ähnlichkeit oder Gleichwertigkeit der Wirkung der von der Schweiz zur Erreichung der vertraglichen Ziele angewandten Methoden.
II. Prüfung von Klagen über die Nichteinhaltung der Richtlinien über die Parallelität der vertraglichen Leistungen.
III. Prüfung des Vorhandenseins einer Schädigung, soweit die vertraglich vorgesehene Ähnlichkeit oder Gleichwertigkeit der Wirkung und die vertraglich vorgesehene Parallelität des Erlasses von Massnahmen nicht erreicht ist.
IV. Prüfung der Angemessenheit der von sich geschädigt fühlenden Partnem vorgesehenen Ausgleichsmassnahmen.)
Die schweizerische Regierung ist überzeugt, dass die skizzierte institutionelle Grundkonzeption lebensfähig ist und reibungslos funktionieren kann.
IV. Gemeinsames Interesse am Zustandekommen einer Lösung
1. Geographisch/wirtschaftliche Komponente. Herstellung eines einheitlichen wirtschaftlichen Raumes, zu dem Schweiz und EWG gehören, als wirtschaftlicher Ausdruck der Solidarität der europäischen Länder.
2. Es gilt, alle konstruktiven Kräfte Europas zu mobilisieren. Die durch die Teilnahme an der Integration bewirkte Stärkung der Wirtschaft der betreffenden Länder schafft auch für die Schweiz zusätzliche Möglichkeiten für die Gewährung von Entwicklungshilfe.
3. Die Existenz neutraler Staaten ist ein Ausdruck der Vielfalt Europas. Durch ihren Einbezug in einen integrierten Markt zeigt die europäische Integrationsbewegung vor der Welt, dass sie schöpferischen Geist und Rücksichtnahme auf die bestehenden Elemente des Zusammenhalts zu verbinden weiss.
V. Verfahrensfragen
1. Zeitplan bedingt durch das Ziel des Zustandekommens einer gleichzeitigen Lösung für alle EFTA-Länder.
2. Eventuelle Verfahrensvorschläge.
- 1
- Eine erweiterte Fassung dieses Dokuments wurde als Bericht Stopper im Bundesrat diskutiert. Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 74, dodis.ch/30217. Vgl. auch die Rede von E. Stopper anlässlich der Botschafterkonferenz vom 25. bis 27. Januar 1962 (dodis.ch/30171).↩
- 2
- Bericht: E 2804(-)1971/2/43. Intern.↩
- 3
- Handschriftliche Anmerkungen: 12. 4. 62 und siehe erweiterte Fassung, 14. 4. 1962.↩
- 4
- Vgl. dazu Nr. 30, Anm. 14, in diesem Band.↩
- 5
- Eckige Klammern im Original.↩
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