Deutsche öffentliche Meinung und Nürnberger Prozess. Entnazifizierung. Wirtschaftliche Lage. Schweizer Kolonien.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 16, doc. 63
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#615* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 295 | |
Dossier title | München, Konsularberichte, Band 3 (1941–1951) |
dodis.ch/1991
Ich beehre mich, ihnen einen vielbeachteten Artikel betitelt «Wie war es möglich», zuzustellen, der in der Nr. 12 der «Süddeutschen Zeitung» vom 8. Februar 1946 erschienen ist. Dr. Franz Schöningh ist Redaktor beim genannten Blatt.
Die Abhandlung hat deshalb Aufsehen erregt, weil sie in einem Zeitpunkt, in dem in schier endloser Folge der Nürnberger Prozess2 abrollt, die Mitschuld der heutigen Siegerstaaten am Aufkommen Hitlers festzuhalten versucht. Es ist in der Tat ein unglaubliches Nichtsehenwollen, zum Teil aber auch ein bewusstes Gewährenlassen, die Hitler glauben machten, er könne auch das Letzte wagen. Wie sollte der kleine Mann der Strasse in der Opposition verharren, wenn das Verhalten des demokratischen Auslands den Eindruck erwecken musste, er stehe von vornherein auf verlorenem Posten? Aus diesem Empfinden des Nichtalleinschuldigseins lehnt es namentlich die junge Generation ab, den Thesen eines Pfarrers Niemöller zu folgen. Die Störung seines Vortrages über die Kollektivschuld des deutschen Volkes durch scharrende Studenten ist ein beredter Ausdruck hierfür.
Das von den deutschen Behörden angetretene Erbe ist furchtbar. Ich bedaure Männer wie den bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Högner und den Oberbürgermeister von München Dr. Scharnagl, die sich mit dem Einsatz ihrer ganzen Person um den Wiederaufbau bemühen und dabei doch nur verbrauchen. Die seit Mai vergangenen Jahres erzielten Fortschritte sind gering. Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig, lassen sich aber doch in 4 Hauptgruppen klassieren: Entnazifizierung, Währung, Zoneneinteilung und Unsicherheit über die politische Zukunft.
Die Entnazifizierung der Behörden hat zu Entlassungen der Beamtenschaft geführt, die je nach Zweig und Ort 60–90% des ursprünglichen Bestandes ausmachen3. Entlassungen in diesem Ausmass mussten unweigerlich den Verwaltungsapparat beeinträchtigen, zum Teil sogar völlig lahmlegen, (zum Beispiel die Gerichte). Die neu hinzugezogenen Kräfte verfügen meist nicht über das erforderliche Fachwissen oder besitzen nicht die nötige Erfahrung. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass es vielerorts noch darunter und darüber geht und dieser Zustand von korrupten Elementen weidlich ausgenutzt wird. In der Privatwirtschaft sind die Verhältnisse besser. Die Entlassungen schwanken dort zwischen 10–30%. Grosse Hoffnungen werden an das anfangs März kommende, für die gesamte amerikanische Besatzungszone gültige Entnazifizierungsgesetz geknüpft, das ein Rehabilitierungsverfahren bringen wird, und für «gesäuberte» Beamte und Angestellte Wiedereinstellungsmöglichkeiten schafft.
Stark hemmend auf die privatwirtschaftliche Initiative zum Wiederaufbau wirkt sich die Währungslage aus. Das Missverhältnis der flottanten Geldmenge zum Warenangebot ist derart gross, dass einschneidende Massnahmen zur Beseitigung des Geldüberhanges unvermeidlich sind. Bis dahin will niemand verkaufen oder doch nur zu enormen Überpreisen. Die Arbeiterschaft arbeitet nur soweit, als sie auf ein Geldeinkommen für die Einlösung der Lebensmittelkarten angewiesen ist. An Rücklagen ist sie desinteressiert. Die Unhaltbarkeit dieser Zustände ist von den Besatzungs- und deutschen Behörden längst erkannt worden. Solange aber keine deutsche Zentralregierung geschaffen ist, wird die Währungsreform schwerlich in Angriff genommen.
Zum Währungschaos gesellt sich die unglückselige Zoneneinteilung. Das Wenige, das noch auf den Markt kommt, kann nicht dorthin gelangen, wo es am dringendsten gebraucht wird, weil sich künstliche Schranken entgegenstellen. Der Interzonenhandel unterscheidet sich kaum vom Aussenhandel. Wie bei jenem werden Import- und Exportmengen für die auszutauschenden Güter festgelegt. Dem Formalitätenkram unterziehen sich nur Unternehmen, die für die Weiterführung ihres Betriebes auf Zufuhren aus anderen Besatzungszonen absolut angewiesen sind.
Das düstere Bild eines dahinsiechenden Wirtschaftskörpers wird vervollständigt durch die politische Unsicherheit. Die grosse Mehrzahl der Deutschen empfindet die gegenwärtige Zeitperiode nicht als Frieden, sondern nur als Stadium zwischen dem zu Ende gegangenen und dem neuen Weltkrieg. Ein kleinerer linksgerichteter Teil setzt hierbei auf die russische, der grössere auf die angelsächsische Karte. Wie immer auch die Entwicklung sich vollziehen mag, man ist bereit, die Haut dem Meistbietenden zu verkaufen. Bis dahin vegetiert man dahin, apathisch gegenüber dem Nürnberger Prozess und nicht viel weniger gegenüber den Handlungen der UNO. Die Fensterscheiben ersetzt man nicht, im Glauben, dass sie doch wieder in Trümmer gehen.
Die sich ergebenden Perspektiven sind auch für unser Land wenig erfreulich. Die Schweizerkolonien in Deutschland sind Aussenposten, die man halten möchte – ich habe mich hierfür von jener mit allen Kräften eingesetzt – aber kaum halten kann. Ihr Schicksal ist zu sehr von demjenigen des Gastlandes abhängig. Die Bestrebungen müssen meines Erachtens darauf hinauslaufen, an Substanz zu retten, was zu retten ist, das heisst heimschaffen4. Mein Pessimismus über die weitere deutsche Entwicklung wird von vielen geteilt. In mehreren Unterhaltungen mit führenden Persönlichkeiten der amerikanischen Besatzungsarmee habe ich feststellen können, dass auch sie sich keinen Illusionen darüber hingeben, dass ein verwesender deutscher Leichnam im Herzen Europas die ganze Welt verpesten muss. Sie sehen sich aber ausserstande, gegen den in manchen Staatskanzleien zur Zeit noch herrschenden Wind erfolgreich anzukämpfen.
- 1
- Schreiben: E 2300 München/3.↩
- 2
- Vgl. E 2001 (E) 1967/113/533.↩
- 3
- Zur Entnazifizierung siehe den Bericht der Generalkonsulatsmitarbeiterin C. Schaupp vom Oktober 1945, dodis.ch/2038. Siehe auch E 2300München/3.↩
- 4
- Zur Heimschaffung von Schweizern aus der sowjetischen Besatzungszone vgl. DDS, Bd. 16, Dok. 62, dodis.ch/1697, das Protokoll über die Orientierung der schweiz. Delegation für die Heimschaffung von Schweizern aus der russisch besetzten Zone vom 18. Oktober 1945, dodis.ch/1740 sowie die Notiz über die Lage der Schweizerbürger in Berlin und Durchführung einer Hilfsaktion zu ihren Gunsten vom 9. August 1945, dodis.ch/1746.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/1746 | see also | http://dodis.ch/1991 |
http://dodis.ch/2038 | see also | http://dodis.ch/1991 |
http://dodis.ch/1740 | see also | http://dodis.ch/1991 |
http://dodis.ch/10263 | is letter to | http://dodis.ch/1991 |
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Germany (Zones) Swiss citizens from abroad