Darin: Pressemitteilung der Bundeskanzlei vom 1.9.1993 (Beilage).
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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1993, doc. 37
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1003-01#2006/306#1* | |
Dossier title | Verhandlungsprotokoll. (1993–1993) | |
File reference archive | 322.3 |
dodis.ch/64025
26. Sitzung des Bundesrats vom 1. September 19931
Projekt Alcazar2
In Abwesenheit von Bundesrat Cotti, der die Genfer Konferenz zum Schutz von Kriegsopfern präsidiert,3 eröffnet Bundespräsident Ogi die Sitzung mit herzlichen Gratulationen für Bundesrat Koller zu dessen 60. Geburtstag.4
Wie vom Bundesrat entschieden,5 wird der Präsident des Verwaltungsrates der Swissair6 zu Beginn der Sitzung empfangen. Er soll die letzten Entwicklungen beim Fusionsprojekt Alcazar erläutern und dem Rat die gestellten Fragen beantworten.7 Der Bundesrat wird seine Entscheide anschliessend in Abwesenheit von Herrn Goetz treffen.
Herr Goetz unterstreicht, das oberste Ziel der Swissair bleibe, den Luftverkehr zwischen der Schweiz und dem Ausland optimal abzuwickeln. Die Swissair muss nun Kooperationsmöglichkeiten suchen, um eine gute Fluggesellschaft zu bleiben. Weltweit verzeichnen die Luftgesellschaften Defizite in der Grössenordnung von 5 Milliarden Dollar. Diese Entwicklung ist durch die gegenwärtige Rezession, aber auch durch die Deregulierung und die Überkapazität im Flugverkehr verursacht worden. Für die Swissair kommen als negative Faktoren die nicht optimale Flugplatzinfrastruktur in Zürich, die negativen Auswirkungen der Nicht-Teilnahme am EWR8 sowie der sehr kleine Heimmarkt hinzu.
Bisher hat die Swissair zur Senkung der Kosten Kooperationsabkommen mit SAS, AUA, Delta und Singapore Airlines abgeschlossen.9 Zudem hat sie die Führungsstrukturen vereinfacht und verschiedene Rationalisierungsmassnahmen getroffen. In zweieinhalb Jahren hat die Swissair die Kosten pro Flugtonne um 17,5% senken können. In der gleichen Zeitspanne ist aber der Ertrag um 23,2% gesunken. Trotz Sparanstrengungen sind weitergehende Massnahmen notwendig. Dies umso mehr, als der sehr kleine Heimatmarkt die Swissair zwingt, Passagiere aus den umliegenden Ländern zu befördern. Die Swissair befördert schwergewichtig Nicht-Schweizer. Aber auch andere Gesellschaften versuchen dies und können diese Strategie dank der Mitgliedschaft in der EG mit Vorteilen verfolgen.10 So kann die Lufthansa in Norditalien neue Verbindungen aufnehmen, für welche die Swissair keine Bewilligung erhält. In Anbetracht dieser Lage ist das Projekt Alcazar in die Wege geleitet worden. Der Verwaltungsrat der Swissair hat einstimmig beschlossen, dieses Projekt weiterzuverfolgen.11 Auch andere Optionen wurden geprüft,12 doch Alcazar erscheint gegenwärtig die attraktivste Möglichkeit zu sein. Die Verhandlungen sind in eine entscheidende Phase getreten und werden immer schwieriger. Sie müssen nun weitergeführt werden, auch wenn die Swissair nicht bereit ist, Alcazar um jeden Preis zu verwirklichen. Damit das «Memorandum of understanding»13 unterschrieben und formelle Verhandlungen begonnen werden können, braucht es grünes Licht seitens des Bundesrates. Dieser Entscheid sollte noch heute fallen. Weigert sich der Bundesrat, ist ein Konflikt mit dem Verwaltungsrat unvermeidlich.
Nach der Einführung von Herrn Goetz äussern sich die Mitglieder des Bundesrats und stellen dem Verwaltungsratspräsidenten der Swissair zahlreiche Fragen.
[...]14
Verwaltungsratspräsident Goetz nimmt zu den zahlreichen Fragen Stellung. Alcazar ist für die Swissair eine Notwendigkeit, denn es ist zu erwarten, dass sich die heutigen Tendenzen im Luftverkehr fortsetzen werden. Nur genügend grosse Fluggesellschaften können überleben. Das Konzept Alcazar sieht die Schaffung einer europäischen Airline mit kleinstmöglicher Gesellschaftsleitung, grösstmöglicher Dezentralisierung der Betriebe und der Wahrung der Identitäten vor. Ob die Swissair die heutigen Passagiere beibehalten kann, hängt weitgehend von den Preisen ab. Auch wenn der EWR noch nicht in Kraft ist, sind die negativen Auswirkungen für die Schweiz bereits spürbar.15 Eine Gesellschaft wie die Swissair braucht, um überleben zu können, ein Potential von 50 Millionen, mindestens aber 35 Millionen Passagieren. Damit dies erreicht werden kann, sind zeitlich günstige Zubringer aus Norditalien oder dem süddeutschen Raum unerlässlich. Nun bekommt aber die Swissair im benachbarten Ausland keine neuen Landerechte, weil die Schweiz nicht in der EG ist.16 Die Swissair strebt Zubringerflüge nach Padua, Genua, Modena und viele andere Städte an. Bisher hat sie diese aber nicht verwirklichen können. In bezug auf die Beteiligung an Alcazar unterstreicht Herr Goetz, dass von Anfang an partnerschaftliche Verbindungen vorgesehen wurden. Dies spiegelt sich im Anteil von 30% der drei grösseren Gesellschaften wider. Von Anfang an hat die Swissair versucht, eine grössere Beteiligung zu erreichen. Dies würde aber die partnerschaftlichen Voraussetzungen sprengen. Wenn die Bewertungen einen grösseren Wert der Swissair bestätigen würden, müsste ein Ausgleich erreicht werden. Dies kann durch die Herausnahme einzelner Teile der Swissair oder durch die Einbringung von Eigenkapital durch die andern Gesellschaften verwirklicht werden. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass die Swissair zwar in bezug auf die Substanz Vorteile aufweist, bezüglich des Ertrags aber im Nachteil ist.17 Dies betrifft auch die SAS, die keinesfalls als Pleitegesellschaft taxiert werden kann. Die gegenwärtige Lage ist durch zahlreiche Abschreibungen entstanden. Der Ertrag dieser Gesellschaft ist als gut zu bezeichnen. Trotz dieser Analyse versteht es sich von selbst, dass die Swissair eine Beteiligung von nur 30% ohne Korrekturen nicht hinnehmen kann. Die Verhandlungen darüber sind aber sehr schwierig. Betreffend die Haltung der EG und der amerikanischen Behörden liegen noch keine konkreten Hinweise vor. Bisher haben sich sowohl die europäischen als auch die amerikanischen Behörden geweigert, Stellung zu beziehen. Erst wenn das «Memorandum of understanding» unterschrieben ist, wird es möglich sein, Gespräche aufzunehmen. Die EG hat trotzdem Sympathie für das Vorhaben signalisiert, denn es geht um vier europäische Fluggesellschaften. Die Aufgabe gewisser Destinationen, vor allem in Amerika, kann aber nicht ausgeschlossen werden, falls Alcazar hiefür eine Monopolstellung besitzen würde. Der Bund ist Aktionär der Swissair. Es wäre zu begrüssen, wenn er dies trotz Alcazar bleiben würde. Bei den andern Gesellschaften ist der Anteil des Staates viel grösser. Er beträgt 51% bei der AUA und 50% bei der SAS. Alcazar würde einen Zuwachs der Flüge von 17% für Zürich und von 7% für Genf bewirken, hauptsächlich im innereuropäischen Bereich. Die Frage des Sitzes ist äusserst wichtig. Sie ist noch nicht gelöst. Die Swissair hat hier bisher keine Konzessionen gemacht. Aber wenn Alcazar EG-Charakter erreichen will, und dies ist sehr wichtig, wird es schwierig sein, den Sitz in der Schweiz zu bekommen. In bezug auf die bilateralen Abkommen wird die Zuständigkeit bei den Schweizer Behörden bleiben, solange nicht die EG darüber verhandeln wird. Das Konzept Alcazar sieht grundsätzlich die Beibehaltung der Marke und der Corporate Identity der Swissair vor. Dies ist auch für das Geschäft wichtig, denn als Delta den Namen Pan Am aufgegeben hat, hat sie einen grossen Fehler gemacht. Die heutigen Tochtergesellschaften der Swissair würden als solche weitergeführt. In den künftigen Verhandlungen wird die Swissair versuchen, sowohl den technischen Bereich als auch die Informatik in der Schweiz anzusiedeln. Bei der Personalreduktion wird eine Opfersymmetrie verlangt. Für das Schweizer Personal gelten weiterhin die schweizerischen gesetzlichen Bestimmungen. Der Verwaltungsrat der Swissair wird nun weiterhin sehr hart verhandeln und ist nicht bereit Alcazar um jeden Preis zu realisieren. Er betrachtet aber Alcazar als attraktivste Option für die Zukunft.
Soll der Bundesrat bei seiner Stellungnahme Bedingungen für sein Einverständnis äussern? Würde dies die Verhandlungsposition der Swissair stärken? Herr Goetz verneint diese Fragen. Der Verwaltungsrat der Swissair hat die Bandbreite der Verhandlungen festgelegt. Würde der Bundesrat selbst diese bestimmen, übernähme er die Verantwortung des Verwaltungsrates. Man kann aber bestätigen, dass die Swissair Alcazar nicht um jeden Preis akzeptieren wird.
Nachdem sich Herr Goetz mit dem besten Dank verabschiedet hat, diskutiert der Rat die Frage, ob er grünes Licht geben und sich bereit erklären kann, die notwendigen Statutenänderungen zu akzeptieren.
Bundesrat Stich spricht sich für die Weiterführung der Verhandlungen aus. Der definitive Entscheid kann aber erst getroffen werden, wenn die Schlussresultate vorliegen.
M. Delamuraz constate que le Conseil n’a ni les moyens juridiques, ni l’opportunité politique de bloquer les négociations. C’est à négociations achevées que le Conseil aura les vraies décisions à prendre. Avec une certaine distance et relativité, il est donc d’accord avec le «oui» du Conseil. Le chef du DFEP dit néanmoins ne pas être convaincu ni par l’argumentation de M. Goetz, ni par la façon dont les négociations sont conduites.
Auch Bundesrat Koller ist mit den Anträgen einverstanden. Wenn die erste Phase beschlossen wird, muss der Bundesrat die Statutenänderungen der Swissair genehmigen.
Bundesrat Villiger äussert erneut gewisse Bedenken gegenüber dem Modell Alcazar. Es wäre falsch, Alcazar als die Summe der vier Gesellschaften zu sehen. Alcazar ist schlecht, aber die Alternativen sind noch schlechter. Die Verantwortung liegt beim Verwaltungsrat der Swissair. Der Rat kann diese Verantwortung nicht übernehmen, und er kann deshalb im jetzigen Zeitpunkt nicht nein sagen. Mit einem gewissen Unbehagen ist Bundesrat Villiger bereit, grünes Licht zu geben.
Mme Dreifuss partage cet avis, mais elle souhaite qu’on ajoute à la liste des questions qui attendent une réponse de la part de Swissair les problèmes du personnel et des aéroports.
Bundespräsident Ogi erklärt seinen Gemütszustand wie folgt: Mit dem Herzen und dem Bauch würde er lieber nein sagen, mit dem Kopf muss er aber trotz allergrössten Bedenken zustimmen.18
Le Conseil en décide donc ainsi et approuve le projet de communiqué de presse que la Chancellerie fédérale lui soumet (voir annexe).19
[...]20
- 1
- CH-BAR#E1003-01#2006/306#1* (322.3). Dieses Verhandlungsprotokoll der 26. Sitzung des Bundesrats wurde von Vizekanzler Achille Casanova verfasst. Kopien des Protokolls gingen an die Mitglieder des Bundesrats, an den Bundeskanzler, den Vizekanzler und die Vizekanzlerin. In der Sitzung befasste sich der Bundesrat auf der Grundlage einer Notiz des EVED vom 23. August 1993 mit dem Projekt Alcazar, welches zum Ziel hatte, die Austrian Airlines (AUA), die niederländische Königliche Luftfahrtgesellschaft (KLM), die Scandinavia Airlines System (SAS) und die Swissair zu fusionieren.↩
- 2
- Vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C2431.↩
- 3
- Vgl. dazu DDS 1993, Dok. 36, dodis.ch/64863.↩
- 4
- Der Vorsteher des EJPD, Bundesrat Arnold Koller, wurde am 28. August 1993 60 Jahre alt.↩
- 5
- Vgl. das Verhandlungsprotokoll der 25. Sitzung des Bundesrats vom 25. August 1993, CH-BAR#E1003-01#2006/306#1* (322.3). Für die grundsätzliche Frage des Beizugs von Dritten zu Bundesratssitzungen vgl. dodis.ch/65533.↩
- 7
- Für die handschriftlichen Notizen des Vorstehers des EVED, Bundespräsident Adolf Ogi, für die Begrüssung von Verwaltungsratspräsident Goetz sowie weitere Unterlagen zur Bundesratssitzung vgl. das Dossier CH-BAR#E8812#1998/341#171* (1).↩
- 8
- Für die Konsequenzen des EWR-Neins für die Swissair vgl. das Protokoll der 305. Sitzung des Verwaltungsrats der Swissair vom 16. Dezember 1992, dodis.ch/65918.↩
- 9
- 1989 schloss die Swissair Kooperationsverträge mit der amerikanischen Delta Air Lines, der SAS und Singapore Airlines ab. 1990 folgte eine Kooperation mit AUA, SAS und Finnair. Vgl. dazu bspw. das Dossier CH-BAR#E8001D#1997/5#247* (156).↩
- 10
- Zur Verschlechterung der Konkurrenzfähigkeit der Swissair aufgrund des auf den 1. Januar 1993 in Kraft getretenen Massnahmenpakets der EG vgl. dodis.ch/65412.↩
- 11
- Vgl. das Protokoll der 308. Sitzung des Verwaltungsrats der Swissair vom 7. Juli 1993, CH-BAR#E8001D#1997/5#252* (156).↩
- 12
- Der Bundesrat beauftragte die Swissair nach seiner Aussprache vom 26. Mai 1993 Alternativen zu prüfen, vgl. das BR-Prot. Nr. 1017 vom 26. Mai 1993, dodis.ch/64015, sowie das Verhandlungsprotokoll der 18. Sitzung des Bundesrats, dodis.ch/64022. Diese Alternativen wurden an der Aussprache zwischen der Verkehrsdelegation des Bundesrats und der Swissair-Spitze vom 5. Juli 1993 präsentiert, vgl. dodis.ch/64404. Zudem stellte die Fluggesellschaft dem Bundesrat die Dokumentation «Das Projekt Alcazar und die Zukunft der Swissair» zur Verfügung, welche Bundespräsident Ogi am 10. August 1993 den Mitgliedern des Bundesrats weiterleitete, vgl. CH-BAR#E4801.2#2004/5#248* (5). Eine weitere Alternative zum Projekt Alcazar unter dem Namen «Phoenix» entwickelte der Delegierte des Verwaltungsrats der Crossair, Moritz Suter, welcher Bundespräsident Ogi am 31. Mai 1993 darüber informierte, vgl. dodis.ch/65413.↩
- 13
- Für den Entwurf des Memorandum of Understanding vom 8. Juni 1993 vgl. CH-BAR#E8812#1998/341#171* (1).↩
- 14
- Für die Fragen der Bundesratsmitglieder vgl. das Faksimile dodis.ch/64025.↩
- 15
- Vgl. dazu die Notiz des Bundesamts für Zivilluftfahrt des EVED vom 8. März 1993, dodis.ch/65412.↩
- 16
- Zur Gleichberechtigung der Swissair im europäischen Markt vgl. den Antrag des EVED vom 8. Januar 1993 zur Eröffnung von Verhandlungen mit der EG über ein Luftverkehrsabkommen im BR-Prot. Nr. 42 vom 13. Januar 1993, dodis.ch/63919.↩
- 17
- Bundespräsident Ogi, hatte im Vorfeld der Sitzung den Vorsteher des EVD, Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, ersucht, die Meinung des Direktors des Bundesamts für Aussenwirtschaft des EVD, Staatssekretär Franz Blankart, über die Bewertung der Fluggesellschaften einzuholen. Staatssekretär Blankart kam diesem Wunsch mit einem Schreiben vom 24. August 1993 nach. Vgl. für die vorbereitenden Notizen das BR-Prot. Nr. 1550 vom 1. September 1993, dodis.ch/63927. Für die Reaktion von Bundespräsident Ogi auf das Schreiben von Staatssekretär Blankart vgl. dodis.ch/65411. Für eine Bewertung der verschiedenen Airlines vgl. auch die Analyse der Bank JPMorgan vom 16. August 1993, CH-BAR#E8001D#1997/5#252* (156).↩
- 18
- Bundespräsident Ogi informierte Verwaltungsratspräsident Goetz am 3. September 1993, dass der Bundesrat die Swissair nicht daran hindere, das Memorandum of Understanding zu unterzeichnen, dass der Bundesrat seine Bereitschaft zum Aktientausch jedoch noch nicht festlegen könne, vgl. dodis.ch/64627. Die Alcazar-Verhandlungen scheiterten am 21. November 1993, vgl. dodis.ch/64161.↩
- 19
- Vgl. das BR-Prot. Nr. 1550 vom 1. September 1993, dodis.ch/63927, inkl. Pressemitteilung des Bundesrats.↩
- 20
- Für das vollständige Dokument vgl. das Faksimile dodis.ch/64025.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/64627 | refers to | http://dodis.ch/64025 |
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Federal Republic of Germany (General) Transit and transport New Railway Link through the Alps (NRLA) (1961–)