Bericht eines Gesprächs mit UNO-Generalsekretär Hammarskjöld über die Behandlung Russlands durch die westlichen Grossmächte.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 19, doc. 98
volume linkZürich/Locarno/Genève 2003
more… |▼▶2 repositories
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#644* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 307 | |
Dossier title | New York (UNO), Berichte des ständigen schweizerischen Beobachters bei der Organisation der Vereinigten Nationen (UNO), Band 1 (1953–1954) |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2210.5-02#1970/17#212* | |
Dossier title | Conversations avec Hammarskjöld et Conférences de presse du Secrétaire général (1953–1959) | |
File reference archive | Inf.IV.2 |
dodis.ch/9572
Der schweizerische Beobachter bei der Organisation der Vereinten Nationen in New York, A. Lindt, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Ich beehre mich, Ihnen über mein heutiges Gespräch mit dem Generalsekretär der Vereinigten Nationen zu berichten.
H.2 ist zur Auffassung gelangt, dass die westlichen Grossmächte gegenwärtig Russland in der UN falsch behandeln. Diese treten nie auf russische Vorschläge ein, sondern beeilen sich, dem sowjetischen Standpunkt in der Abstimmung eine Niederlage zu bereiten. Dadurch wird jede Aufnahme einer westöstlichen Diskussion ausgeschlossen.
Dieses starre westliche Verhalten hat nach H. häufig zur Folge, dass der russische Standpunkt für einen objektiven Beobachter einigermassen gerechtfertigt erscheint. Dies aber kann nicht im Interesse einer wohlverstandenen westlichen Politik liegen. Der Generalsekretär bemüht sich seit längerer Zeit, den Delegationen der drei westlichen Grossmächte eine Änderung in der Behandlungsweise nahezulegen, die sie der Sowjet-Union angedeihen lassen. Während er bei Sir Pierson Dixon und bei Hoppenot auf Verständnis gestossen ist, verteidigt Lodge hartnäckig die westliche Hammertaktik, die darauf abzielt, jeden russischen Vorschlag möglichst rasch tot zu schlagen.
H. gründet seine Auffassung, wonach heute, wenn wohl auch nur in beschränktem Rahmen, eine Diskussion mit der Sowjet-Union möglich wäre, auf den Eindruck, den er aus häufigen persönlichen Gesprächen mit Vyshinsky erhalten hat. Es ist ihm allmählich gelungen, mit dem russischen Chefdelegierten politische Fragen in einer Weise besprechen zu können, die den üblichen bolschewistischen «double Talk» ausschliesst. H. erwähnte mir gegenüber dafür drei Beispiele:
1. Palästinafrage. An einem Lunch unter vier Augen machte H. Vyshinsky darauf aufmerksam, dass die russische Haltung in einem Widerspruch zur arabischen Auffassung zu stehen scheine. Die Araber weigern sich, zu direkten Verhandlungen mit Israel Hand zu bieten. Vyshinsky jedoch hätte jeden westlichen Vorschlag im Sicherheitsrat mit dem Argumente bekämpft, dass eine israeli-arabische Entspannung nicht durch Mehrheitsbeschlüsse des Sicherheitsrates, sondern nur durch direkte Verhandlungen zwischen den beiden Parteien erzielt werden könnte.
Vyshinsky legte darauf den russischen Standpunkt auseinander: Es sei irrig anzunehmen, dass die Sowjet-Union gegen Israel eingestellt sei. Infolge der starken finanziellen Abhängigkeit dieses Staates von amerikanischen Geldmitteln sei aber Moskau zu einer beträchtlichen Wachsamkeit gegenüber den Vorgängen in Israel gezwungen. Ebenso falsch sei es zu glauben, Moskau treibe heute eine pro-arabische Politik. Wenn die westliche Missachtung aller sowjetischen Vorschläge oder Einwände Russland zur Einlegung des Vetos im Sicherheitsrat zwinge, so profitieren allerdings davon die Araber. Dies sei aber nicht das Hauptziel, sondern nur eine Nebenwirkung der russischen Haltung, die darauf gerichtet sei, eine für den Weltfrieden gefährliche Verschärfung des Palästinakonfliktes zu vermeiden. Nur direkte Verhandlungen könnten dies erreichen, wobei er, Vyshinsky, den von H. vorgeschlagenen Weg, unter dem Vorsitz des Generalsekretärs bilaterale Konferenzen zwischen Israel und dem einen oder andern arabischen Staate zusammenzubringen, als den richtigen betrachte.
H. schliesst daraus, dass heute ostwestliche Gespräche über eine Entspannung des israeli-arabischen Verhältnisses nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden können. Er diskutierte diese Möglichkeit mit dem amerikanischen Botschafter Lodge, der sie jedoch mit dem Einwand verwarf, es sei nicht angängig, die Sowjet-Union an den Geschehnissen des Mittleren Ostens zu beteiligen. H. antwortete: Ob man es wolle oder nicht, Russland sei schon heute im Mittleren Osten eine mitbeteiligte Macht. Stecke man dieser Tatsache gegenüber den Kopf in den Sand, könne die russische Rolle in diesem Gebiet nur verhängnisvoll sein. Es wäre also der Mühe Wert abzuklären, ob vielleicht nicht im Mittleren Osten auf beschränktem Gebiete gemeinsame westöstliche Interessen bestünden.
2. Die Vorgänge in der Abrüstungskommission. In der Abrüstungskommission hatte Vyshinsky den Antrag gestellt, dass der Unterausschuss, für dessen Mitgliedschaft die Westmächte die Sowjet-Union, die drei westlichen Grossmächte und Kanada vorgeschlagen hatten, durch China, die Tschechoslowakei und Indien erweitert würde3. H. glaubt aus seiner Unterhaltung mit Vyshinsky schliessen zu können, dass die Sowjet-Union bereit gewesen wäre, auf die Kandidatur Chinas und der Tschechoslowakei zu verzichten, wenn ein westöstlicher Kompromiss über Indien möglich gewesen wäre.
Ich füge hier bei, dass Hoppenot mir sagte, dass Sir Pierson Dixon kurz vor der Abstimmung, in welcher der russische Vorschlag verworfen wurde, ebenfalls den Eindruck hatte, dass eine Verständigung über Indien möglich sein könnte. In einer Geheimkonferenz der Delegierten der westlichen Grossmächte schlug Dixon vor, die Abstimmung zu vertagen und bei Vyshinsky Sondierungen vorzunehmen. Hoppenot unterstützte dieses Begehren. Lodge aber widersetzte sich dem Plane, da eine Verschiebung der Abstimmung nichts anderes sei als ein Nachgeben gegenüber russischer Erpressung.
Vyshinsky beklagte sich H. gegenüber auch darüber, dass die drei Westmächte nicht versucht hätten, ihn vor der Einreichung ihrer Resolution über die Zusammensetzung des Unterausschusses zu konsultieren.
3. Die Zulassung Chinas. H. erläuterte Vyshinsky seinen Standpunkt, den er bezüglich der Zulassung Chinas eingenommen hat4. Darnach ist heute der Generalsekretär der Auffassung, dass das Universalitätsprinzip der Vereinigten Nationen die Vertretung Chinas in der UN verlange; dass aber eine solche Zulassung mehr Schaden als Nutzen anrichten würde, solange sie gegen den ausdrücklichen Willen eines wichtigen Mitgliedstaates erfolge. Wenn, auf lange Sicht betrachtet, der Ausschluss Chinas schliesslich zum Untergang der Vereinigten Nationen führen könnte, so sei doch gegenwärtig noch beträchtliche Zeit vorhanden, um diese Frage zu lösen. Brüskiert werden könne sie nicht. H. fragte Vyshinsky, was er von diesem Standpunkt halte. Dieser antwortete, dass diese Auffassung für den Generalsekretär der Vereinigten Nationen durchaus richtig sei. H. schliesst daraus, dass die Russen heute beginnen, einen objektiven Standpunkt anerkennen zu können.
Der Generalsekretär betonte zum Schluss, dass er sich von östlich-westlichen Diskussionen keine Wunder verspreche, dass er aber überzeugt sei, sie seien heute möglich geworden.
- 1
- Schreiben: E 2300(-)-/9001/307.↩
- 4
- Die Volksrepublik China wurde am 25. Oktober 1971 als Vertreterin Chinas in die UNO aufgenommen. Gleichzeitig verliessen die Vertreter der National-Regierung von Taiwan die Weltorganisation.↩
Tags
Russia (Politics) Near and Middle East China (Politics)