Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 15, doc. 175
volume linkBern 1992
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E4800.1#1967/111#282* | |
Old classification | CH-BAR E 4800.1(-)1967/111 64 | |
Dossier title | Weisungen über Aufnahme oder Rüchweisung von Flüchtlingen (1944–1945) | |
File reference archive | 1.011 |
dodis.ch/47779
Die neuen Weisungen über Aufnahme oder Rückweisung ausländischer Flüchtlinge, denen Sie in der Konferenz vom 10. Juli 19442 zugestimmt haben, sind vom Bundesrat am 12. Juli 19443 genehmigt worden. Wir haben die Weisungen vervielfältigen lassen. Sie haben die nötigen Exemplare4 zur Weiterleitung an die Grenzwachtorgane inzwischen erhalten.
In der heutigen Besprechung mit Herrn Oberstlt. Wyss hat sich gezeigt, dass mit Ausnahme der Ziffer I 3 der «Beilage» die Weisungen keiner weitern Instruktionen für die ausführenden Grenzorgane bedürfen. Bevor jedoch zu dieser Ziffer Ausführungsvorschriften erlassen werden, sollten die notwendigen Erfahrungen gesammelt werden. Wir bitten Sie deshalb, die Zollkreisdirektoren anzuweisen, Ihnen bis in ca. drei Wochen über die Erfahrungen und allfälligen Schwierigkeiten zu berichten, die sich aus der Anwendung der Ziffer I 3 der «Beilage» ergeben. Auf Grund dieser Berichte sollte es dann möglich sein, Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Herr Dr. Wyss hat sich mit diesem Vorgehen einverstanden erklärt.
Zur vorläufigen vertraulichen und persönlichen Orientierung der Zollkreisdirektoren möchten wir folgendes festhalten:
ad Absatz 1. Ausländer, die behaupten, aus politischen oder ändern Gründen an Leib und Leben gefährdet zu sein, haben die Gefährdung glaubhaft zu machen. Juden haben heute in der Regel als gefährdet zu gelten. - Nach uns zugekommenen Berichten sollen russische Flüchtlinge aus der Revolutionszeit 1917, die sich seither ausserhalb von Russland aufgehalten haben, beabsichtigen, in die Schweiz zu kommen. Diese können als zurzeit in unsern Nachbarstaaten nicht gefährdet betrachtet werden und sind deshalb zurückzuweisen.
An Leib und Leben gefährdete Ausländer sollen nach den Weisungen nur aufgenommen werden, wenn sie keinen ändern Ausweg als die Flucht nach der Schweiz haben, um sich dieser Gefahr zu entziehen. Wir haben dabei vor allem daran gedacht, dass Flüchtlinge in andere Länder ausweichen können, wo sie nicht mehr in unmittelbarer Gefahr stehen. Aber auch Flüchtlinge, von denen angenommen werden darf, dass sie sich sonstwie der Gefahr entziehen können, sollten nicht aufgenommen werden. Wir denken an Flüchtlinge, die zum Beispieljahrelang, vielleicht in Grenznähe, versteckt waren und nun in die Schweiz kommen, ohne dass ein besonderer Anlass dazu vorhanden ist (z. B. schärfere Kontrolle der betreffenden ausländischen Gebiete). Wir wissen wohl, dass nur sehr selten wird angenommen werden können, dass solchen Flüchtlingen ein anderer Ausweg als die Flucht in die Schweiz, offensteht, wenigstens solange die Verhältnisse in unsern Nachbarländern sich nicht stark ändern. - Die Zollkreisdirektoren wären insbesondere aufzufordern, darüber zu berichten, ob nach ihrer Auffassung der Grenzwächter aus der Besprechung mit dem Flüchtling und seiner Kenntnis der Verhältnisse im Nachbarland die Überzeugung im Einzelfall gewinnen kann, dass dem Ausländer ein anderer Ausweg, als die Flucht in die Schweiz, offenstehe.
ad Absatz 2. Nach Absatz 2 sind selbstverständlich zurückzuweisen: notorische Verbrecher, als asoziale Elemente bekannte Ausländer, Passeure (nach Durchführung des militärischen Verfahrens) und Schmuggler; das geht aus der Umschreibung ohne weiteres hervor. Nach Absatz 2 sollen aber auch gewisse andere Kategorien von unerwünschten Ausländern zurückgewiesen werden, die bisher noch kaum Grund hatten, in die Schweiz zu flüchten und mit denen sich die Grenzwachtorgane bis jetzt wohl nicht zu befassen hatten. Unter diese Kategorie fallen namentlich Funktionäre und Angehörige der neofascistischen Partei in Italien, der SS und Gestapo in Deutschland, der Miliz Darnands und andere militante Kollaborationisten in Frankreich.
Auch Funktionäre und Angehörige der nationalsozialistischen und der alten fascistischen Partei gelten grundsätzlich als unerwünscht. Die Organisationen, denen sie angehört haben, haben eine Tätigkeit entfaltet oder eine Haltung eingenommen, durch die in gewissem Sinne die schweizerischen Interessen verletzt worden sind oder gefährdet werden. Einzelne unter diesen Ausländern haben allerdings der Schweiz gegenüber stets eine positive, verständnisvolle Haltung eingenommen und durch ihre Handlungen die Interessen unsere Landes bewusst und gewollt gefördert. Diese, aber nur diese, wären vorläufig aufzunehmen.
Es wird für den Grenzwächter nicht leicht sein, die Zugehörigkeit eines Flüchtlings zu einer der erwähnten Organisationen festzustellen und gegebenenfalls zu beurteilen, ob ein Ausnahmefall vorliegt. Über die Bewohner des Grenzgebietes wird er in der Regel orientiert sein. Für Ausländer von weiterher wird der Grenzwächter erst nach genauer Befragung über die Personalien des Flüchtlings, über den bisherigen Aufenthalt, die Funktionen oder Tätigkeit, den Grund der Flucht, die Behörden und Personen, die ihn verfolgen, usw. entscheiden können. Dagegen werden Ausländer, die im Sinne unserer Ausführungen für die Interessen der Schweiz gewirkt haben, das wohl von sich aus geltend machen. Nur wo der Grenzwächter solche Angaben für glaubwürdig hält, soll er den Flüchtling dem zuständigen Ter. Pol. Of. melden.
Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns auf Grund der Berichte der Zollkreisdirektoren Ihre Auffassung bekanntgeben würden, wie die vorstehend geäusserten Gedanken in einer vertraulichen, nur für die Grenzwächter bestimmten, ergänzenden Weisung allgemein bekanntgegeben werden könnten.
Wir übermitteln Kopie dieses Schreibens Herrn Oberst im Generalstab Münch mit der Bitte, seinerseits vertraulich die Ter. Pol. Of. an einer Besprechung über die neuen Weisungen in diesem Sinne zu orientieren.
Tags
Internees and prisoners of war (1939–1946)