Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 15, doc. 5
volume linkBern 1992
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#782* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 348 | |
Dossier title | Paris, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 96 (1943–1943) |
dodis.ch/47609
Fast unmittelbar nach meiner Rückkehr aus der Schweiz platzte die Bombe der bedingungslosen italienischen Kapitulation. Weniger als an ändern Orten hatte man hier mit dieser Möglichkeit gerechnet. Die Nachricht wirkte auch hier sensationell und wurde im Volk überall mit grosser Freude aufgenommen. Selbst in Regierungskreisen zeigte man sich nicht unzufrieden, weil damit die letzte Gefahr der italienischen «Rivendicazioni» als beseitigt erscheint. Anderseits gibt man sich natürlich Rechenschaft, dass der Zusammenbruch Italiens und das Ausscheiden der italienischen Armee eine fühlbare Schwächung Deutschlands und eine entsprechende Stärkung der Alliierten bedeutet. Die sensationelle Befreiung Mussolinis wird selbstverständlich auch hier stark kommentiert, aber mehr als Film-Episode und weniger als politisch wichtige Tatsache betrachtet. Wie ich Ihnen bereits telegraphisch berichtet habe, sind die italienischen Truppen in Südostfrankreich - es waren noch cirka 2 Divisionen - fast widerstandslos von den Deutschen entwaffnet worden. Nur in Albertville und in Grenoble kam es zu kurzen Gefechten.
Verschiedene der hiesigen diplomatischen und militärischen Beamten Italiens wollten nach Bekanntwerden der Kapitulation sofort nach Italien reisen. Sie wurden unterwegs von den Deutschen aufgehalten und nach Vichy zurückgeschickt. Die sämtlichen diplomatischen und konsularischen Funktionäre Italiens in Frankreich, nahezu 600, werden dieser Tage in Paris besammelt und sollen hierauf zunächst nach Deutschland und eventuell von dort nach einem von deutschen Truppen besetzten Teil Italiens transportiert werden. Noch nicht entschieden ist die Frage, wie die Offiziere der hiesigen italienischen Militärmission, an deren Spitze der General Herzog von Avarna steht, zu behandeln sind. Nach deutscher Auffassung sind sie Kriegsgefangene, nach italienischer Meinung sollen sie wie die italienischen Diplomaten behandelt werden.
Wie ich Ihnen schon berichtete, sollen sich nach Angaben des Chefs der bisherigen italienischen Mission in Vichy, Marchese Fracassi, 800000 Italiener in Frankreich aufhalten. Fracassi hat sowohl den französischen wie den deutschen Amtsstellen auseinandergesetzt, dass beide ein Interesse daran hätten, dass sich diese Italiener ruhig verhalten, dass man sie nicht zwinge entweder für den König oder für die Regierung Farinacci Stellung zu beziehen und dass jemand, am besten die Schweiz, sich dieser Leute und der sonstigen grossen italienischen Interessen in Frankreich annehme. Nach seinen Angaben seien gegen diese Idee weder von französischer noch von deutscher Seite Einwendungen erhoben worden. Ich habe Ihnen deshalb vorgestern entsprechend berichtet und erwarte Ihre Instruktionen. Ich gebe mir dabei selbstverständlich Rechenschaft, dass es ausserordentlich schwierig sein wird, mit der königlich-italienischen Regierung in Verbindung zu treten und dass, selbst wenn dies gelingt, vorauszusehen ist, dass Deutschland und damit auch Frankreich diese italienische Regierung nicht mehr anerkennen und aus diesem Grund dem Plan Opposition machen werden. Dagegen scheint es mir nicht unmöglich zu sein, dass sich die Schweiz rein administrativ und ohne in irgend einer Weise politisch Stellung zu nehmen, mit den italienischen Interessen in Frankreich beschäftigt2.
Die hiesigen Deutschen haben denjenigen italienischen Diplomaten, die als ausgesprochene Faszisten bekannt waren, nahegelegt, sich für die neue faszistische Regierung Farinacci auszusprechen. Es ist dies ohne Ausnahme abgelehnt worden und einer dieser italienischen Diplomaten hat geantwortet: «Il est vrai que je suis fasciste depuis 16 ans, mais ma famille est royaliste depuis des générations. Je ne connais que le Gouvernement du roi.» Alle Italiener haben sich übrigens sehr lobend über das korrekte und verständnisvolle Verhalten der hiesigen deutschen Militärbehörden ausgesprochen.
Was die innerpolitische Lage Frankreichs anbelangt, so verweise ich auf die Berichte, die Ihnen mein Stellvertreter während meiner Abwesenheit gesandt hat und die durchaus richtig sind. Laval blieb bei seiner Weigerung, ein neues Kontingent von 500000 französischen Arbeitern nach Deutschland zu senden und die Deutschen haben sich offensichtlich hiemit abgefunden. Alle Massnahmen der Regierung gegen die «Arbeits-Refraktäre» blieben auf dem Papier, da man von hoch oben bis zum letzten Bürgermeister und Polizisten keinerlei Eifer zeigte, diese jungen Leute zu verfolgen und den Deutschen auszuliefern. Den entsprechenden deutschen Vorwürfen gegenüber wiederholen Pétain und Laval stets das gleiche: «Erlaubt uns, unsere Polizei zu bewaffnen, dann kann sie Vorgehen, andernfalls können wir nichts weiteres unternehmen.» Da bekannt ist, dass sozusagen das ganze Beamtenkorps der Präfekturen und das ganze Polizeikorps gaullistisch eingestellt ist, so wollen eben die Deutschen diese Bewaffnung nicht zulassen. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Antideutsche Einstellung des französischen Volkes seit dem Zusammenbruch Italiens noch wesentlich zugenommen hat. [...]3.
- 1
- E 2300 Paris/96. Pilet-Golaz a visé ce rapport le 16 septembre 1943. Le même jour, le Chef de la Division des Affaires étrangères du Département politique, P. Bonna, a écrit en tête du document: A Monsieur le Ministre de Pury. Pour son information personnelle avec prière de nous restituer ce rapport après lecture.↩
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France (Politics)
Vichy France