Classement thématique série 1848–1945:
V. AFFAIRES MILITAIRES ET FAITS DE GUERRE
1. Stratégie générale
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 13, doc. 317
volume linkBern 1991
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#14111* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 3341 | |
Dossier title | Bestätigung der Instruktion des BR vom 31.8.1939 an den General am 2.7.1940, u.a. Bericht von Hptm Bracher vom 24.6.1940 über die mil.-polit. Lage der Schweiz; \ Protokoll der Konferenz des Generals mit den Heereseinheitskommandanten vom 22.6.1940 (1940–1940) | |
File reference archive | 06.H.4.a.1 |
dodis.ch/47074
Anwesend: Die Kdt. des 1., 2., 3. und 4. Armeekorps2,
der Chef des Generalstabes der Armee3,
der Chef der Hauptabteilung III4.
General: Die heutige Besprechung ist der Prüfung der allgemeinen Lage gewidmet, wie sie sich in den letzten Wochen als Folge der sich überstürzenden Ereignisse ergeben hat. Frankreichs Armee ist geschlagen und zieht sich unter stetigen Kämpfen in allgemeiner Richtung nach Süden zurück. Die deutsche Armee folgt ihr auf dem Fusse, wobei sich verschiedene Angriffsrichtungen abzeichnen, vor allem eine Rhonetal abwärts und eine weiter westlich gelegene in allgemeiner Richtung Tours - Poitiers - Bordeaux. Längs unserer Schweizergrenze ziehen die deutschen Verbände in südlicher Richtung vorbei, ohne dass bisher grössere Truppenkörper sich unserer Grenze genähert hätten. Einzelne kleine Patrouillen haben mit unsern Grenzposten Fühlung aufgenommen und sich alsdann wieder zurückgezogen. Hochsavoyen ist vorläufig noch frei von deutschen Truppen; es hat nicht den Anschein, als ob die Deutschen Hochsavoyen besetzen wollen. Dagegen sind deutsche Truppen in Bellegarde, womit unsere Verbindungen mit Frankreich praktisch unterbrochen sind.
In Italien hat sich die Lage wenig verändert. Aktionen lassen sich nicht feststdlen. An der Schweizergrenze stehen sozusagen keine italienischen Truppen. Als beruhigendes Moment mag gelten, dass die Stadt Mailand ihre Kinder nach der Schweizergrenze evakuiert hat.
Östlich des Bodensees im Vorarlberg und Allgäu stehen fast keine deutsche Truppen, erst nördlich des Rheins zwischen Schaffhausen und Basel. Im Schwarzwald kann immer noch eine kompakte Masse deutscher Truppen festgestellt werden. Hauptsächlich stark ist das Wiesental belegt.
Für die Schweiz ist in den letzten Tagen namentlich das Problem der Internierung von ca. 40000 Personen (Militär- und Zivilpersonen zusammengerechnet) schwerwiegend geworden. Wir sind durch diese Flüchtlingsströme an einzelnen Orten etwas überrascht worden, doch ist es gelungen, mit wenigen Ausnahmen den geordneten Abfluss der Kolonnen sicherzustellen. Unter die Flüchtlinge mischten sich auch eine Anzahl unerwünschter Elemente, die an die Grenze zurückgestellt werden mussten. Die gegen die Schweizergrenze marschierenden franz. Soldaten sind auf dem letzten Stück vor der Schweizergrenze von den Deutschen nicht mehr verfolgt worden. In unmittelbarer Nähe der Grenze sind deshalb keine Zwischenfälle und Kampfhandlungen vorgekommen.
Während sich die Armee gegenüber den internierten Soldaten entsprechend den gegebenen Weisungen verhält, kann das gleiche nicht von der Zivilbevölkerung gesagt werden. Die an verschiedenen Orten vorgekommenen Erscheinungen, lassen darauf schliessen, dass es der Bundesrat leider unterlassen hat, das Volk rechtzeitig zu erziehen und über seine Haltung gegenüber den Internierten zu belehren.
Die vor einigen Tagen angeordneten Massnahmen zur stärkern Belegung unserer Westgrenze sind bekannt. Sie brauchen deshalb nicht mehr erwähnt zu werden.
Wirtschaftlich wird die Schweiz in eine recht schwierige Lage geraten und in allernächster Zeit zu einer umfassenden Rationierung aller Bedarfsmittel kommen müssen. Persönlich ist der General überzeugt, dass die Deutschen nunmehr in erster Linie einen politischen und wirtschaftlichen Druck ausüben werden und militärische Aktionen kaum ins Auge fassen. Die Schweiz dient gegenüber der Achse als wertvolles Transitland, dessen Alpenbahnen möglichst unversehrt dem sich sicher steigenden Transitverkehr zur Verfügung stehen sollten.
Trotzdem müssen wir gefasst sein, dass Deutschland in einem gegebenen Zeitpunkt, namentlich dann, wenn wir seinen wirtschaftlichen und politischen Drohungen Widerstand entgegensetzen, mit einem Einmarsch drohen wird. Für diesen Fall des Angriffes von allen Seiten müssen wir gerüstet sein. Hiefür gibt es drei Lösungen:
1. Halten in der Armeestellung, wie bisher. Vorteil: Wir können uns auf eine ausgebaute Armeestellung stützen, die unserer Verteidigung die nötige Kraft verleihen wird. Nachteil: Die Armeestellung hat eine sehr grosse Frontlänge und benötigt den letzten Mann unserer Truppen. Auch dann wird die Besetzung noch ziemlich dünn sein. Als wir zu Beginn des Krieges die Armeestellung festlegten, rechneten wir immer mit einem Verbündeten, dem ein Teil der Verteidigung der Armeestellung überlassen werden könnte. Dieser Verbündete besteht heute nicht mehr, sodass wir für die Verteidigung in der Armeestellung ganz auf uns selbst angewiesen sind.
2. Teilweise Benützung der Armeestellung unter Abbiegen nach Westen und Verlassen des bisherigen nicht ausgebauten Teiles der Armeestellung. Diese Igelstellung hat den Vorteil, dass wir die ausgebauten Teile der Armeestellung Nord von Sargans bis zum Hauenstein ausnützen können und auf der Westfront die ohnehin noch sehr in den Anfängen steckende Armeestellung verlassen zu gunsten einer Frontverkürzung vom Hauenstein in allgemeiner Richtung Napf - Thun - St. Maurice. Nachteil dieser Lösung: Die Westfront dieser Armeestellung muss neu bezogen werden und ist heute in keiner Weise ausgebaut. Wenn wir zu dieser Lösung Zuflucht nehmen, müssten wir heute schon Vorbereitungen treffen, um unsere Munitions- und Verpflegungsvorräte innerhalb dieser Armeestellung anzulegen.
3. Zurücknahme der Armee in einen Zentralraum, nördlich begrenzt durch die Voralpen ungefähr auf der Linie Zürichsee - Vierwaldstättersee - Napf - Thun - St. Maurice. Diese Lösung hat den Vorteil, dass wir in den Alpen sehr stark sind, dagegen über keine Ressourcen mehr verfügen und sehr bald sowohl die Munitions-und Verpflegungsvorräte aufgebraucht haben werden. Zudem erfordert diese Lösung eine Preisgabe von fast 3/4 des Landes.
Aus diesen Gründen tritt der General für die zweite Lösung ein. Die Übernahme dieser Lösung hat zur Voraussetzung, dass
a) die Verschiebung der Munitions- und Verpflegungsvorräte angeordnet wird,
b) aus der bisherigen Armeestellung gewisse Truppenteile herausgenommen werden, um im neuen Raume bereit zu stehen. Dies hat nicht den Sinn, dass in der neuen Stellung Befestigungen gebaut werden sollen, sondern dass mit den Truppen die mancherorts fehlende Kampfausbildung nachgeholt wird.
Daneben muss die Frage der teilweisen Demobilmachung geprüft werden. Im Augenblicke der Waffenruhe in Frankreich werden wir nicht darum herum kommen, Teile der Armee zu entlassen. Es ist besser, dass wir diese Demobilmachung vorbereiten und nach unserem Gutfinden ausführen können, bevor uns von Seiten Deutschlands diesbezügliche Bedingungen gestellt werden.
Die Frage der Demobilmachung ist auch zu prüfen unter dem Gesichtspunkte der Sicherung vor einem allzugrossen Anwachsen der Arbeitslosenziffer. Darüber hinaus müssen wir auch eine gewisse Truppenstärke bereithalten, um allfälligen Umsturzversuchen im Landesinnern entgegentreten zu können.
Oberstkorpskdt. Willetritt für einen ganzen Schritt ein und nicht für eine Zwischenlösung. Die Deutschen brauchen gegenwärtig ihre gesamte Armee zur Besetzung Frankreichs und einen allfälligen Angriff gegen England. Auch wenn der Waffenstillstand geschlossen wird, ist kaum anzunehmen, dass die Deutschen ein grosses Interesse daran haben, eine Aktion gegen die Schweiz auszulösen. Auch vor einem Überfall brauchen wir uns heute nicht mehr zu fürchten. Das Vorgehen der Deutschen wird vielmehr so sein, dass zunächst wirtschaftliche und politische Bedingungen gestellt werden. Erst wenn wir uns entschliessen, darauf nicht einzutreten, wird vermutlich von deutscher Seite mit dem Einmarsch gedroht werden. In diesem Augenblicke haben wir noch genügend Zeit, um die Armee, soweit sie entlassen sein sollte, wieder aufzubieten.
Ein entschiedener Schritt rechtfertigt sich auch aus politischen Gründen. Aus innerpolitischen Gründen vor allem deshalb, weil im Volk und der Armee das Vertrauen in die Haltbarkeit unserer Armeestellung stark gesunken ist. Die Stimmung bei den Truppen ist nicht schlecht in Bezug auf Disziplin, dagegen machen sich die Soldaten sicher auch ihre Gedanken darüber, dass sie namentlich in der Linth - Limmatstellung in der schweizerischen umgangenen Maginotlinie stehen. Auch mit einem Abbiegen beim Hauenstein hängt die Armeestellung in der Luft. Zudem wird man es bei uns nicht begreifen können, wenn wir trotz der eingetretenen Waffenruhe im Westen bis an die Zähne bewaffnet bleiben. Wenn gegenwärtig weder die deutsche Gesandtschaft in Bern, noch die deutsche Regierung in Berlin sich anscheinend stark mit uns befassen und noch nichts haben verlauten lassen, so darf dies nicht täuschen. Es ist erwiesen, dass die Zahl unserer unter den Waffen stehenden Truppen sehr genau kontrolliert wird und früher oder später zu Anfragen, wenn nicht zu Bedingungen von deutscher Seite Anlass geben wird. Die Frage der Demobilmachung wird sich deshalb sicherlich stellen.
Aus diesen Gründen tritt Oberstkorpskdt. Wille für einen unauffälligen Abbau der Truppenstärke ein unter der Voraussetzung, dass die Truppen in einen Ruheraum zurückgenommen werden, in dem vor allem die mangelnde Kampfausbildung nachgeholt werden soll. Erst für einen spätem Zeitpunkt soll der Bezug eines Zentralraumes vorgesehen werden. In der Armeestellung können vorläufig aus Gründen der Bereitschaft und Sicherung Truppen zurückbelassen werden, als Aufräumdetachemente und zur Vollendung angefangener Arbeiten. Unter diesem Titel wird die Belassung von Truppen in der Armeestellung auch von Deutschland sicherlich anerkannt werden.
Im Zentralraum sind keine Befestigungen anzufangen. Die Stellung hat sich auf die Stärke des Geländes zu stützen, das weder den Angriff und die Entwicklung grosser Panzerverbände, noch die Einwirkung der Stukas gestattet.
Auch aus wirtschaftlichen Gründen ist eine Demobilmachung und eine Einstellung der Arbeiten notwendig. Das Volk und der Wehrmann rechnen selbst auch mit den von der Armee aufgebrauchten Geldern und würden es nicht verstehen, wenn im heutigen Zeitpunkt in der Armeestellung noch weitere Kredite aufgebraucht würden.
Als Zentralraum kann gelten das Alpengebiet im Norden begrenzt ungefähr durch die Linie Zürichsee - Einsiedeln - Zug - Zugersee - Napfgebiet - Simmental - Anschluss an St. Maurice. Für den Ruheraum kann dieser Zentralraum ohne Bedenken nördlich ausgedehnt werde bis ungefähr auf die Linie Zugersee - Sursee - Burgdorf - Bern - Saanelinie E. Freiburg.
Oberstkorpskdt. Miescher: Die Armeekorps müssen in aller kürzester Zeit wissen, was weiter zu geschehen hat. Drei Aufgaben sind gegenwärtig im Studium und teils in Ausführung, nämlich:
- Werke in Zürich und an der Limmat,
- Kasematt-Batterien der Landesbefestigung,
- rückwärtige Tanksperren an Einfallsstrassen.
Sowohl im A.K. Stab, wie bei den Truppen macht man sich darüber Gedanken, ob der Ausbau dieser Anlagen noch einen Sinn hat.
Bezüglich der Armeestellung im allgemeinen weiss man schon heute, dass sie ausserordentlich weit gespannt und nur mit schwachen Kräften besetzt ist. Auch der einzelne Mann macht sich diese Überlegungen und vergleicht den erfolgreichen Einbruch der Deutschen bei Breisach mit den Verhältnissen an der Limmat. Die Aufmunterung mit der behaupteten Stärke unseres Geländes hat im Mittelland keine Bedeutung, da dieses Gelände allzu ähnlich ist mit dem bisherigen Kampfgelände in den Ardennen, in den Argonnen, und erst wenn wir zurückgehen in unsere Alpenstellung wird sich der Schweizersoldat mit Recht wieder auf die Stärke und Uneinnehmbarkeit verlassen können. Man kommt unwillkürlich auf die historische Bedeutung und Aufgabe der Schweiz zurück, die darin besteht, die Wache an den Alpenpässen zu übernehmen. Wenn wir uns darauf beschränken, so haben wir auch Aussicht darauf, ernst genommen zu werden und einem Angriff Stand halten zu können.
In der Armeestellung ist aufzuräumen; Angefangenes, soweit sich der Aufwand lohnt, noch fertig zu stellen und im übrigen alles vorzukehren, um uns im Zentralraum stark zu machen. Sowohl beim Stadtkdo. Zürich, wie an der Limmatstellung müssen die Arbeiten eingestellt werden.
Die neue aussenpolitische Lage lässt keine neutrale Stellung mehr zu. Solange an unsern Grenzen nicht mehr zwei Gegner stehen, sondern ringsum nur noch einer, können wir auch keine Neutralitätspolitik mehr befolgen. Dieser uns umschliessende Nachbar lebt entweder mit uns im Frieden oder im Kriege. Eine Zwischenlösung, wie sie bisher bestund, gibt es nicht mehr.
Die Ansammlung deutscher Truppen im Schwarzwald sollte uns nicht allzusehr verleiten, noch wesentliche Truppen draussen zu belassen. Schliesslich können die Deutschen auf Jahre hinaus im Schwarzwald Truppen konzentrieren, ohne dass wir die Mittel hätten, ebensolange die Armee in Bereitschaft zu halten.
Auch aus wirtschaftlichen Gründen ist für uns eine Änderung angezeigt. Wir müssen danach trachten, dass keine Arbeitslosen im Lande untätig herumstehen und dies gibt uns vorläufig noch gegenüber Deutschland die Begründung, eine gewisse Truppenstärke zu behalten.
Als Ruheraum kann der von Oberstkorpskdt. Wille angegebene Teil unseres Landes bezogen werden. Auch bezüglich der Festsetzung der Grenzen des Zentralraumes ist Oberstkorpskdt. Miescher mit dem Chef der Hauptabt. III einverstanden.
Oberstkorpskdt. Prisi: Es ist richtig, dass die Stimmung bei der Truppe in letzter Zeit starken Beeinflussungen ausgesetzt war. Bei planmässigem Arbeiten und straffer Organisation werden jedoch die Versuche zu einem Sichgehenlassen der Truppe bald behoben sein. Angefangene Bauten sollen vollendet werden, mit neuen ist nicht mehr zu beginnen.
Die wirtschaftliche Abschnürung der Schweiz ist nunmehr vollkommen. Wir werden die Folgen davon in Kürze zu tragen haben. Unsere grossen Fabriken haben wohl noch einen grossen Auftragsbestand für Lieferungen nach England, doch weigern sich die Fabrikationsleiter mit Recht, diese Aufträge auszuführen, da der Absatz illusorisch ist. Der Wegfall des Exportes wird bei unserer Industrie einen Personalabbau zur Folge haben. Unsere Neutralität ist heute nur mehr eine Fiktion.
Der Zustrom der Internierten hat zu wenig schönen Bildern Anlass gegeben. In Delsberg war die Ordnung immerhin besser als in Pruntrut, wo die gesamte Bevölkerung sich mit den fremden Soldaten mischte. Innert kürzester Frist sind deshalb die Internierten vom Kontakt mit der Bevölkerung abzuschliessen und heranzuziehen zu Arbeiten in der Armeestellung. Wenn dies für eigentliche Festungsbauten nicht zulässig ist, so sollten die Internierten zum mindesten mit dem Bau und der Instandhaltung von Verkehrswegen beschäftigt werden.
Eine Demobilisation verlangt umfassende Erhebungen und Vorbereitungen. Das Arbeitslosenproblem wird bei einer allzu raschen Demobilmachung sehr brennend werden und für unser Land wirtschaftlich umso schwerwiegender, als wir durch die Besetzung von Polen, Norwegen, Dänemark, Belgien, Holland und Frankreich ohnehin gewaltige Werte unseres Vermögens verlieren, das in diesen Ländern durch den Kreditverkehr festgebunden liegt.
Zur Frage der Armeestellung ist zu bemerken, dass wir in keiner Stellung lange werden halten können, weder in der vordersten, noch in der mittleren und im Zentralraum. Wenn sich die Armee schon opfern muss und untergehen soll, so geschieht dies mit Vorteil in der ausgebauten und der Truppe bekannten Armeestellung. Schlussendlich ist für den Bezug einer neuen Armeestellung die Haltung der politischen Behörde, d.h. des Bundesrates, massgebend. Die Armee hat heute den Auftrag, das Land zu verteidigen. Wenn wir sie zurücknehmen in die Alpen und 3/4 des Landes preisgeben, so ist das keine Landesverteidigung mehr, sondern eine reine Armeeverteidigung. Im Alpenzentralraum werden wir grössere Schwierigkeiten mit dem Nachschub haben. Im Sommer mag es noch angehen, wenn uns der Feind aber einen Winterfeldzug aufzwingt, werden wir im Alpenzentralraum sehr schlimm daran sein. Endlich ist auch zu bedenken, dass bei einem Zurückgehen in den Zentralraum die gegenwärtig im Schwarzwald stehenden 20 Div. ohne grossen Widerstand nachrücken können und so unser Hauptwirtschaftsgebiet besetzt halten, ohne uns vorläufig in unserer Alpenstellung anzugreifen.
Aus allen diesen Gründen muss die Aufgabe der Armeestellung und die Wahl neuer Massnahmen mit aller Gründlichkeit geprüft werden. Es geht nicht an, derart bedeutende Beschlüsse von einem Augenblick auf den ändern zu fassen.
Oberstkorpskdt. Labharthat eine Eingabe5 eingereicht, die ähnlich lautet wie das Votum von Oberstkorpskdt. Wille. Er tritt ebenfalls für den Bezug einer Armeestellung im Zentralraum ein.
Die Stimmung bei den Truppen hat sich in der letzten Zeit in der Tat eher verschlechtert. Das Kdo. 4.A.K. sah sich veranlasst, diesbezüglich einen scharfen Befehl an die Einheitskdt. zu erlassen. Die Kampfausbildung bei den Truppen ist durch die Bauarbeiten allzusehr vernachlässigt worden. Wenn man daran denkt, grössere Entlassungen vorzunehmen, so sollten vor allem Vorkehren getroffen werden, dass die unter den Waffen bleibenden Truppen turnusmässig möglichst volle Bestände aufweisen, denn nur mit vollen Beständen in Einheiten, Truppenkörpern und Heereseinheiten lassen sich erfolgversprechende Übungen durchführen.
Bezüglich unserer militärpolitischen Lage ist Oberstkorpskdt. Labhart nicht zuversichtlich. Wir müssen uns gefasst machen, dass Deutschland unter Umständen die Bedingung stellt, die Gotthardbahn in eigenem Betrieb zu übernehmen. Auch bezüglich der Festung Sargans werden wir Einwände zu hören bekommen, die auf eine Einstellung der Bauarbeiten hinauslaufen würden. Wenn wir uns schon entschliessen, die Armee umzugruppieren, muss eine ganze Massnahme erfolgen und nicht nur eine halbe. Grundsätzlich ist er mit dem Zentralraum, so wie er dargestellt wurde und der Möglichkeit, den Ruheraum weiter zu spannen, einverstanden. In der heutigen Stellung können wir ohnehin nicht halten, so dass es angezeigt ist, diese aufzugeben.
Oberstkorpskdt. Lardelli: Die Stimmung im I.A.K. ist gut. Dazu trägt vor allem bei, dass die Truppen des LA.K. in der letzten Woche ausserordentliche Anforderungen zu bestehen hatten aus Folge der Bereitschaft an der Grenze und der Überwachung der Internierung von Truppen. Wenn es hier und dort Anlass zu Reibereien gab, ist das darauf zurückzuführen, dass ursprünglich widersprechende Befehle ausgegeben wurden. Der Kdt. I.A.K. hat alle Massnahmen ergriffen, um diesen Misständen abzuhelfen. Die Stadt Biel soll am Samstag, 22.6.40, bis 1800 vollständig geräumt sein.
In der gegenwärtigen Lage empfehle es sich keineswegs, allzurasche Entschlüsse zu fassen. Zuerst müsse festgestellt werden, welche Lage sich nach dem Waffenstillstand ergebe und erst dann könnten Massnahmen für die Demobilmachung oder die Verlegung ins Auge gefasst werden. Auf alle Fälle sollten die Grenztruppen in ihren Stellungen belassen werden. Persönlich ist Oberstkorpskdt. Lardelli für die Beibehaltung der Armeestellung, wenn er sich auch heute noch nicht definitiv dazu entschliessen kann. Schliesslich sei es Sache der politischen Behörde, zu entscheiden, welche Vorkehren die neue Lage erfordert. Wichtig sei, dass den Grenztruppen auch Aufgaben der Grenzpolizei übertragen werden können, damit das Eindringen unerwünschter Elemente von allem Anfang an verhindert wird.
Oberstdivisionär Huber: Solange die Lage noch unklar ist, im Schwarzwald eine starke Manövriermasse steht und an unserer Westgrenze zahlreiche motorisierte Det. versammelt sind, kann unsererseits kaum an einen Abbau gedacht werden. Höchstens könnten auf der Südfront, wo gegenwärtig keine ital. Truppen festgestellt werden, gewisse Entlassungen geprüft werden. Die Frage, ob Teile oder die ganze Armee entlassen werden können, sei vor allem von der politischen Behörde zu entscheiden. Wenn man schon zum Schlüsse komme, zu entlassen, dann sei eine durchgreifende Massnahme eher am Platze. Abgesehen von Aufräumdet. in der Armeestellung und von Werkbesatzungen an der Grenze, wäre deshalb bejahendenfalls die ganze Armee zu entlassen. Da der Krieg gegenwärtig gerade so gut im Landesinnern ausbrechen kann, nützt ein Belassen der Armee an der Grenze nicht mehr viel. Auch aus Gründen der Wiedermobilmachung würden sich weitaus klarere Verhältnisse ergeben, wenn man mit den teilweisen Entlassungen und Beurlaubungen ganz aufräumen und dafür Sorge treffen würde, dass eine Wiedermobilmachung einwandfrei spielt.
Die Fortsetzung des Stellungsbaues hange davon ab, ob die Armeestellung gehalten werden solle oder nicht. Grundsätzlich sollten in der Armeestellung angefangene Bauten vollendet, dagegen nichts Neues begonnen werden. Die Landesbefestigung sei vorläufig auf die Seite zu legen, da vor dem Beginn derart kostspieliger Arbeiten, die Erfahrungen aus dem gegenwärtigen Kriege verwertet werden sollten.
Nach Auffassung von Oberstdiv. Huber sollte die heutige Armeestellung beibehalten werden unter Herausziehen einer gewissen Reserve, die im Zentralraum zum Einsatz bereit zu halten wäre. Es würden deshalb einem Feinde drei Linien entgegenhalten: die Grenztruppen, die bisherige Armeestellung und eine Anzahl Heereseinheiten im Zentralraum. Zuzugeben sei, dass es sich dabei um eine cordonmässige Aufstellung handle, doch müssten wir bei der Gewissheit, ohnehin unterzugehen, uns da zum Kampfe stellen, wo wir stark sind. Dazu gehört vor allem die nunmehr gut ausgebaute Armeestellung. Im Gebirge sei man, abgesehen von den Verpflegungsschwierigkeiten ebenfalls nicht sehr gesichert, namentlich oberhalb der Waldgrenze nicht gegen Flugzeuge. Die Nachschubschwierigkeiten an Munition und Verpflegung seien, wenn sich die ganze Armee in den Zentralraum zurückziehe, kaum zu bewältigen. Gegenwärtig sind Vorkehren im Gange, um die Munitionsmagazine Menznau und Emmenmatt zu entleeren und weiter ins Alpengebiet zu verlegen. Desgleichen sollen die Verpflegungsmagazine Payerne und Ostermundigen in die Alpentäler disloziert werden.
Dagegen halte er es angesichts dieser Auffassung, in der Armeestellung zu kämpfen, nicht für notwendig, die Munitions- und Verpflegungsmagazine in der Armeestellung zu verlegen. Grundsätzlich sollte deshalb, abgesehen von der Herausnahme einzelner Truppen aus der Armeestellung, am heutigen Dispositiv nichts geändert werden. Unsere Armee müsse sich grundsätzlich über das ganze Land erstrecken und unter Ausnützung des Kleinkrieges jede Scholle des heimatlichen Bodens verteidigen.
Die nördliche Grenze des Zentralraumes, der mit ungefähr 3 Div. zu besetzen wäre, lässt sich wie folgt bezeichnen: Zürichsee - Zugersee - Luzern - Pilatus - schmälste Stelle des Thunersees - Stockhornkette - St. Maurice. Nach diesem Plane würden die Grenztruppen an der Grenze stehen, die 1., 2., 4., 5. und 6. Div. in der Armeestellung, die 3., 7. und 8. Div. im Zentralraum, während den drei Geb. Br. und der 9. Div. die Sicherung gegen Süden zufällt.
Oberstkorpskdt. Prisiglaubt, dass man den Grenztruppen nicht zumuten könne, vorn zu halten, wenn die ganze Armee teilweise bis 100 km entfernt sich im Zentralraum besammle. Die Armee sei schliesslich das Mittel zur Landesverteidigung und könne nicht 3/4 des Landes vorher preisgeben. Nach seiner Auffassung habe der Grenzschutz weiterhin an Ort und Stelle zu bleiben. In der Armeestellung sei der Weiterausbau angefangener Werke unter möglichster Heranziehung von Internierten zu fördern und überdies 3 Div. als zentrale Reserve im Landesinnern vorzusehen.
Oberstkorpskdt. Willeteilt die geäusserten wirtschaftlichen Bedenken nicht. Deutschland verlange bekanntlich von Frankreich, dass es sofort wieder die Arbeit aufnehme, um im System des Kampfes gegen England eingegliedert zu werden. In gleicher Weise können auch der schweizerischen Industrie Aufträge zukommen, da unsere Industrie intakt ist und sofort mit den Arbeiten beginnen kann. Unsere Wirtschaft muss es nur verstehen können, sich diese Aufträge zu sichern und damit in die neue Wirtschaftspolitik der Achse eingegliedert zu werden.
Es muss dringend davon abgeraten werden, dass mit den Massnahmen noch zugewartet wird, da leicht der Fall eintreten könnte, dass man uns zum Handeln zwingen würde. Wenn wir aus unserer ohnehin schon weit gespannten Armeestellung noch 3 Heereseinheiten wegnehmen, so wird diese Cordonaufstellung so schwach, dass sie auf allen beliebigen Punkten durchstossen werden kann. Dann ist aller Widerstand zu Ende und der Kampf verloren. Die Verteilung unserer Kräfte auf drei verschiedene Linien, wie der Chef des Generalstabes vorschlägt, ist eine Kräftezersplitterung und deshalb nicht zweckmässig. Wir müssen uns darauf beschränken, neben dem Grenzschutz alle Kräfte in einem Raum einzusetzen, in dem wir auch stark sind. Im Zentralraum können wir auf jeden Fall soviele Munition und Verpflegung anhäufen, dass wir im Stande sind, bedeutend länger zu halten als in der schwachen Cordonaufstellung der heutigen Armeestellung. Damit gewinnen wir aber schon Zeit und der Einsatz des Gegners muss viel höher veranschlagt werden. Nach wie vor sind für Deutschland unsere Alpenbahnen wichtigstes Ziel und nicht die Inbesitznahme des Schweiz. Mittellandes, das ihm nichts zu bieten vermag, was es nicht auch schon besitzen würde. Solange wir uns aber darauf konzentrieren, diese Kriegsziele und wichtigen Übergänge kraftvoll zu verteidigen, können wir uns auch Drohungen der bewaffneten Macht besser entgegenstellen.
Oberstkorpskdt. Miescher: Mit der bisherigen Taktik können wir einen Erfolg nicht mehr erhoffen. Wir müssen neue Massnahmen treffen, die unerwartet sind und vom Gegner hoch veranschlagt werden. Dazu gehört die Verteidigung in starken Bergstellungen, die weder von Tanks noch von Flugzeugen mit Erfolg angegriffen werden können.
Oberstkorpskdt. Prisi: Der Gegner wird uns gar nicht den Gefallen tun, uns in den Alpen anzugreifen, sondern die Ausgänge der Alpentäler absperren und uns aushungern.
Oberstdivisionär Huber: Die Alpenbahnen dürften für die Achse ihre Bedeutung wesentlich verloren haben, im Augenblicke wo sie über die Bahnverbindungen durch das Rhonetal bis Marseille verfügen wird.
Oberstkorpskdt. Labhart: Kommen wir zurück auf unsere alte Aufgabe, die Alpenpässe wirksam zu sperren und sehen wir davon ab, eine dünn besetzte Stellung zu halten, die beim ersten Angriff durchstossen wird.
General: Die Besprechungen können wie folgt zusammengefasst werden: Die Korpskdt. Wille, Miescher und Labhart sind der Auffassung, dass man nach einem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich neue Massnahmen treffen muss im Sinne einer Zurückziehung der Armee in den Zentralraum, unter Einschaltung einer intensiven Kampfausbildung und ohne im Zentralraum Befestigungsarbeiten auszuführen.
Oberstkorpskdt. Prisi und Oberstdiv. Huber sind der Auffassung, die Armeestellung unter entsprechender Reduktion zu halten und aus ca. 3 Heereseinheiten eine Zentrale Reserve zu bilden. Auch sie anerkennen die Notwendigkeit der Kampfausbildung der Truppe.
Oberstkorpskdt. Lardelli möchte vorerst zuwarten, die Entschlüsse des Bundesrates hören und erst dann handeln, wobei er eher der Beibehaltung der Armeestellung zustimmen würde.
Alle Anwesenden sind einverstanden, dass die Grenztruppen in ihren Stellungen bleiben, dass ausserdem Vorbereitungen getroffen werden, um Munitions- und Verpflegungsvorräte mehr im Landesinnern anzulegen.
Bezüglich der Entlassungen ist man sich einig darüber, dass nach dem Waffenstillstand eine teilweise Demobilmachung, immerhin unter Berücksichtigung des Arbeitsmarktes, erfolgen sollte, wobei sich einzig Verschiedenheiten im Ausmasse ergeben.
Oberstdivisionär Huber möchte, wenn es sich verantworten lässt, eine möglichst weitgehende Entlassung der ganzen Armee, um damit auch klarere Verhältnisse bei einer Wiedermobilmachung zu schaffen. Die übrigen Herren sind eher der Auffassung, es sollte ein stufenweiser Abbau einsetzen, unter Zurücklassung von Aufräumdetachementen in der Armeestellung. Die Entlassungen sollten sich vorläufig nicht auf die Grenztruppen ausdehnen, die auch zur Verstärkung der Grenzpolizei im Dienste behalten werden müssen. [...]
- 1
- Procès-verbal: E 27/14111. Ce compte-rendu est rédigé par le capitaine Hans Bracher, officier de liaison entre le Chef du Département militaire et l’Etat-Major Général de l’Armée. Cf. aussi No 316 E 5795/145.↩
- 3
- Jakob Huber.↩
- 4
- Ulrich Wille. Pour un organigramme de l’Armée suisse à partir du 6 mai 1940, cf. E 27/ 14192/3.↩
- 5
- Non retrouvée.↩
Tags