Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 12, doc. 230
volume linkBern 1994
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#123* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 65 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 39 (1938–1938) |
dodis.ch/46490 Le Ministre de Suisse à Berlin, P. Dinichert, au Chef du Département politique, G. Motta1
Ich weiss heute mit Bestimmtheit, dass die Inbesitznahme Österreichs durch Deutschland auch für Italien eine völlige Überraschung war und ihm das denkbar schmerzlichste Opfer auferlegte. Bei der Raschheit und Hemmungslosigkeit des deutschen Vorgehens wusste sich Mussolini nicht mehr zu helfen und er muss sich heute zu trösten suchen, wie er kann. Ob ihm der lange, eilige Brief Hitlers, wo die nunmehr gemeinsame Grenze am Brenner als endgültig bezeichnet wird, diesem Trost zu bringen vermag ist zu bezweifeln.
Italien wurde in zweierlei Richtung schwer enttäuscht. Schuschnigg hatte weder vor noch nach seinem Berchtesgadener Besuch mit Rom Fühlung genommen und ganz auf eigene Faust gehandelt. Auf dem Obersalzberg liess er sich durch Hitler einschüchtern und weitgehende Versprechungen abringen. Dies sei insbesondere dadurch erreicht worden, dass Hitler Schuschnigg einen Feldzugsplan gegen Deutschland vorlegen konnte, der vom österreichischen Generalstab ausgearbeitet worden war und die Beteiligung Österreichs an einem Kriege gegen Deutschland vorsah. Die erste Rede Schuschniggs, in der er auf die Reichstagsrede Hitlers antwortete, habe in Rom an sich nicht missfallen. Doch habe man sich dort bald Rechenschaft gegeben, dass Schuschnigg die ihm in Berchtesgaden abgezwungenen Zusicherungen nicht mehr beachten wollte. Als dann die Innsbrucker Rede folgte mit der Anzeige einer von Schuschnigg allein beschlossenen, nach drei Tagen vorzunehmenden Volksbefragung, da gab sich auch Rom Rechenschaft vom Ernste de Lage; aber es war schon zu spät, und die Ereignisse überstürzten sich nunmehr unaufhaltsam.
Die andere italienische Enttäuschung ist viel bedeutungsvoller und lässt sehr tief blicken. Italien ist der Auffassung, dass Österreich wohl einen grossen Krieg wert gewesen wäre. Deshalb hätte die französische Regierung nicht mit der lächerlichen Anregung an die italienische Regierung herantreten sollen, sich einem ganz platonischen, also zwecklosen Protestschritte bei der Reichsregierung anzuschliessen, was, wäre Rom darauf eingegangen, ihm ohne weitern Nutzen die Vorteile der Achse gekostet hätte. Würden dagegen Frankreich und Grossbritannien sofort mobilisiert und ihren Entschluss bekundet haben, es für Österreich auf einen Krieg ankommen zu lassen, dann hätte sich für Italien die Frage der Verbindung mit den beiden Westmächten in einer Weise gestellt, bei der die Achse Italien-Deutschland keinerlei Rolle mehr zu spielen brauchte.
Aus dieser Sachlage kann, so will mir scheinen, der Schluss gezogen werden, dass sich infolge des Anschlusses von Österreich an Deutschland die europäische Politik plötzlich an einem entscheidenden Wendepunkt befindet. Mehrere Staaten werden sich gewahr, dass die Gefahr eines hegemonischen Deutschlands näher gerückt ist. Sie werden daraus, wie es England schon gestern verkündet hat, die entsprechenden, wenn auch betrübenden Folgerungen ziehen und sich in einem zukünftigen entscheidenden Augenblicke zusammenfinden. Ich verweise u. A. auf das, was ich oftmals über Polen berichtet habe. Abgesehen von Italien haben auch Jugoslawien und Ungarn keinen Anlass sich zur Grenznachbarschaft ihrer von Deutschen bewohnten Gebieten mit dem neuen deutschen Reiche zu beglückwünschen.
Als unmittelbare Folge des Anschlusses dürften die Aussichten für eine Verständigung Italien-Grossbritannien, wiewohl sie gerade in dieser Beziehung für Italien zu spät kommt, gewachsen, umgekehrt für eine deutsch-britische Regelung, namentlich der Kolonialfrage, gesunken, wenn nicht geschwunden, sein.
Allgemein übereinstimmend ist die Auffassung, dass der Anschluss die so schwierige wirtschaftliche Lage des Reiches nicht etwa lindern, sondern eher schwieriger gestalten wird. Ferner ist eine Erschwerung der religiösen Frage im Hinblick auf die bedeutende Zunahme der katholischen Bevölkerung zu erwarten. Jedenfalls ist die derzeitige Stellungnahme des Vatikans gegenüber den deutschen Machthabern kritischer denn je.
Wie ich Ihnen am 12. März drahtete2, waren in der vorhergehenden Nacht scharf gehaltene Protestnoten der französischen und der britischen Regierung im Auswärtigen Amte überreicht worden. Da die Noten nachdrücklich auf die schwerwiegenden Folgen des deutschen Vorgehens in Österreich hinwiesen, liess der hiesige britische Botschafter die Note durch einen seiner Mitarbeiter unterzeichnen, da er es nicht selbst tun wollte in der Gewissheit, dass derartige Folgen seitens Englands gar nicht eintreten würden. Das hindert nicht, dass der Botschafter insofern eine nicht besonders heilsame Rolle gespielt haben dürfte, als er längst durchblicken liess, dass seine Regierung aus dem Anschluss Österreichs keine kriegerischen Konsequenzen ziehen würde.
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Austria (Politics)
Anschluss of Austria (1938)