Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
11. France
11.4. Questions politiques générales
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 11, doc. 268
volume linkBern 1989
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.41-04#1000/1679#2* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.41-04(-)1000/1679 1 | |
Dossier title | Rapports politiques envoyés, tome 3 (1936–1936) | |
File reference archive | B25 |
dodis.ch/46189
Innenpolitisch geht es in Frankreich weiter um Sein oder Nichtsein der letzten grossen bürgerlichen Demokratie des Kontinents.Es entspricht dem vorwiegend intellektuellen Sinn der Franzosen, dass sie heute eifrig die Frage diskutieren, welches Regime sich denn eigentlich bei ihnen etabliert habe. Ist es noch das alte? Ist es ein neues? Handelt es sich um eine Metamorphose der parlamentarisch-demokratischen Republik zum Kommunismus? Handelt es sich um Kopien aus Russland, Italien, Deutschland oder um ein französisches Originalprodukt? Es ist zuzugeben, dass trotz verschiedener Anlehnungen geschichtliche Vorbilder und daher auch Begriffe fehlen, um den heutigen Zustand in wenigen verständlichen Worten zu charakterisieren. Gerade das Undurchsichtige, Rätselhafte, Unbestimmte bleibt vorläufig sein Merkmal, obgleich im grossen und ganzen seine Verwandtschaft mit den Volkserhebungen in Russland, Italien und Deutschland, die schliesslich alle einen gemeinsamen Urgrund aufweisen, nicht übersehen werden kann.
Überraschend bei dieser Diskussion ist vor allem die Haltung der Sozialisten und Kommunisten. Diese beiden revolutionären Parteien sind es nämlich, die gegenwärtig am lautesten versichern, dass nicht viel geschehen sei und dass auch nicht mehr viel geschehen werde. Sie sind nun plötzlich die wahren Hüter der Republik, der Demokratie, der Trikolore, der Marseillaise, der individuellen und politischen Freiheit. So plump auch dieser Wechsel in der Taktik sein mag, der dem alten Vergleich vom Wolf im Schafspelz durchaus entspricht, ist er dennoch gegenüber dummen Schafherden immer noch zügig. Besonders wirksam wird die geschickte Vernebelung gegenüber dem Kleinbürger, Kleinbauern, Kleingewerbler, usw., kurz gegenüber dem Mittelstände angewandt. So wirbt das neue Regime um weitere bürgerliche Massen, indem es ihnen das alte in einem neuen Lichte vorspiegelt und vortäuscht.
Anderseits ist der rote Elan, besonders der kommunistische, in der Tat stark gebremst worden. Radikale und Sozialisten haben ihrem ungestümen Bundesgenossen seit der Kammersitzung vom 7. Juli beigebracht, dass es dumm wäre, sich jetzt im schönsten Zuge stürzen zu lassen, und dass ein langsamer legaler Fortschritt, der Stück um Stück, ohne grosses Aufsehen und ohne Fürchtemachen das Programm des «Front Populaire» verwirklicht, das Gebot der Stunde sei. So könnte man sagen, dass gegenwärtig die Volksfront einheitlich und diszipliniert marschiert: Rechts der Radikale, links der Sozialist, in der Mitte der kommunistische Durchbrenner, von seinen Begleitern fest unter den Armen gefasst. l-l
Weiter emanzipiert sich die Regierung bei allem schuldigen Respekt vom Parlament. Sie stützt ihre Macht in erster Linie direkt auf die Massen, die sie emporgebracht hat. Nicht Herr Albert Lebrun2 hat den Ministerpräsidenten bezeichnet, sondern der Wähler des «Front Populaire». Nicht der Wille des Parlaments, sondern der Wille des arbeitenden Volkes ist für die Regierung vor allem massgebend. «Il puise ses résolutions dans les masses qui l’ont investi. Il se considère désormais comme l’instrument d’exécution des volontés de ces masses, devant lesquelles il va aussi souvent que possible exposer son programme ou rendre compte de sa politique». Die Minister fühlen sich in erster Linie als «Volksbeauftragte», ein Begriff, der auch in Moskau, Rom und Berlin nicht unbekannt ist. In seiner Rede vom 17. Juli drückte sich der Ministerpräsident Blum hierüber selber deutlich aus: «Nous ne sommes pas un Gouvernement tout à fait identique à tous les autres. Notre Gouvernement est directement issu d’une grande volonté populaire. Il a conscience d’être demeuré en communion intime avec cette volonté». Das Bewusstsein, nicht eine gewöhnliche Regierung zu sein, sondern eine Mission zu erfüllen, die über Frankreich hinaus reicht, lässt bereits internationale Propagandawünsche aufsteigen. Der Kriegsminister Daladier sagte in der Kammer bei der Behandlung der Kriegsindustrieverstaatlichung: «La France doit donner l’exemple en ces matières comme elle vient de le donner en ce qui concerne les lois sociales. Au point de vue international elle accomplit un geste de bonne foi et de loyauté».Die Opposition verhält sich zu allem Erstaunen weiter still und kraftlos. Die Rechte, die man unter der heutigen Konstellation schlechthin als das Bürgertum bisherigen Stiles bezeichnen kann, – es gibt wohlverstanden in Frankreich kein Zentrum; die Linke, d. h. der «Front Populaire» und die sogenannten Rechtsparteien stehen sich unmittelbar gegenüber, – scheint so knochenlos, so schwach in ihrem Gefüge zu sein, dass sie schon froh ist, wenn nicht geradewegs ein illegales Zertrümmern stattfindet. Weder die neugegründeten Parteien, noch irgendwelche führenden Staatsmänner erscheinen bisher beachtenswert im Rampenlicht. Jedenfalls ist vorderhand nicht einzusehen, woher diese Leute den leichtfertigen Optimismus nehmen, wenn sie behaupten, dass sie dem Spuk bald ein Ende bereiten würden. Indem sie zum Protest eine Trikolore oder eine blau/weiss/rote Schleife ins Knopfloch stecken, ist noch nicht viel geleistet. Wird eine kräftige Reaktion noch möglich sein oder war überhaupt dieses französische Bürgertum nur noch ein morscher, hohler Baum, der nun zerfällt? Als Gesamtheit hat es wohl im gegenwärtigen Ringen die Partie bereits verloren. Gewiss wimmelt es im französischen Bürgertum immer noch von klugen, intelligenten, geistig hochgestellten Männern und Frauen; aber sie haben keine Organisationen, keine Massen hinter sich und bleiben Einzelerscheinungen. Dazu kommt, dass sich viele gegenüber den Geschehnissen zur Auffassung bequemen: «Sei es, wenn damit Schlimmeres verhindert wird!»
Der Widerstand, den das Bürgertum dem neuen Regime leistet, steht wohl aus diesen Gründen auf einer geistig so niedrigen Stufe. Es ist vor allem der Antisemitismus, mit dem man gegen Blum und seine vielen jüdischen Mitarbeiter im Kabinett operiert. Blum ist allerdings in diesem Punkte mit recht israelitischer Unverfrorenheit vorgegangen und hat dadurch in Frankreich eine bisher unbekannte Judenhetze entfacht. Ebenfalls zeugt der Krawall, der alle Samstage und Sonntagabende in den «Champs Elysées» vom «Etoile» bis zur «Place de la Concorde» losgelassen wird, von keiner besonderen Geschlossenheit und Würde. Und doch sind diese regelmässigen Prügeleien zwischen den «Patrioten» und der Polizei ausser einiger Parlamentsreden und Presseartikel die einzige sichtbare Auflehnung gegen das neue Regime. Jedesmal meldet der amtliche Bericht, dass etwa zwanzig bis fünfzig Polizisten und natürlich viel mehr Zivilisten in die Spitäler gebracht werden mussten. Der Pariserbürger ärgert sich grün und blau, dass seine Polizei auch mit der Gesinnung offenkundig auf die andere Seite übergegangen ist. Es ist zu sagen, dass die Polizei unerhört brutal vorgeht. Während früher bürgerliche Regierungen bei roten Manifestationen die Polizei kaum zeigten, sie waffenlos ausrücken liessen, den Gummiknüttel unter dem Waffenrock verborgen, um die zarten Proletarierseelen nicht zu kränken und zu reizen, hat jetzt der sozialistische Innenminister3 keine zimperlichen Bedenken, durch demonstrative Massenaufmärsche schwer bewaffneter Polizei und «Garde mobile» die «Champs- Elysées» unsanft zu räumen und die Schädel und Rücken der Patrioten und Bürger mit den weissen Knütteln kräftig zu verhauen.Angesichts dieser andauernden Zermürbtheit des zivilen Bürgertums richten sich verschiedene Blicke auf die Armee. Wenn irgendwo, dann hat bisher in Frankreich das Heer keine politische Rolle gespielt. Wird es so bleiben? Kriegsminister ist Daladier, Luftminister der noch röter gefärbte Cot. Von allen Militärattachés wird übereinstimmend der hohe Wert und die Geschlossenheit der französischen Armee gegenüber einem äusseren Feind als über jeden Zweifel erhaben hingestellt. Das hindert nicht, dass sich auch der Mann in Uniform über innenpolitische Verhältnisse seine Gedanken macht. Das Offizierskorps ist gewiss bürgerlich, sodass die Patrioten bei jeder Gelegenheit «Vive l’armée!» rufen. Unter der Mannschaft soll jedoch die sozialistische und kommunistische Propaganda ziemliche Ausmasse erreicht haben. Dazu hatte auch die Volksfrontregierung mit der Verdoppelung des Soldes und mit besserer Verpflegung das ihrige zum Umstimmen getan. Bei Umzügen der «Front Populaire» marschierten jedenfalls da und dort, zuletzt in Versailles, Soldaten in Uniform mit und grüssten mit erhobener Faust die rote Fahne. Daladier musste von der Rechten und vom Generalstab bedrängt versprechen, den Vertrieb des «Populaire» und der «Humanité» in den Kasernen zu untersagen, führte aber vorerst denselben Hieb gegen die Rechtsblätter. Auf sozialistischer und kommunistischer Seite verfliegt allmählich der bisherige weltanschauliche Pazifismus und Antimilitarismus. Am 14. Juli jubelten zum erstenmal in der Geschichte der Republik die roten Massen mit erhobener Faust der militärischen Parade zu: «L’armée avec nous!» Das pazifistische Ideal der Linksparteien wird jetzt mit der Formel Daladiers verschleiert: «Je ne consentirai à une réduction de la durée qu’en cas de désarmement réciproque et simultané».
Nichts deutet an, dass die Armee aus ihrer politischen Indifferenz heraustreten könnte. Immerhin ist die Anzeige nicht unerheblich, dass sie von rechts und links heftig umworben wird.
Wichtiger als der Blick nach rückwärts ist jedoch die Frage, was noch kommen mag. Spätestens Ende Juli, wenn das Parlament in die Ferien geht, wird der «Front Populaire» alle seine Wahlversprechungen, sein ganzes Programm realisiert haben. An sich eine unerhörte respektgebietende Leistung! Aber was dann? Folgt dann eine ruhige Zeit, in der die Früchte dieser ungeheuren Arbeitsleistung abgewartet werden? (wobei die finanzielle Seite des Experimentes eine entscheidende Rolle spielen wird). Jedenfalls wird dann die Volksfront ihren Zweck erfüllt haben. Das unharmonische Trio von Linksbürgerlichen, Sozialisten und Kommunisten ist kein sehr stabiles Gebilde und wird sich kaum dazu hergeben, unterwegs auszuruhen. Weltanschaulich und politisch liegen die Ziele der drei Parteien weit auseinander. Wo werden sich die Wege trennen?
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