Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
11. France
11.4. Questions politiques générales
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 11, doc. 251
volume linkBern 1989
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| Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#775* | |
| Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 344 | |
| Dossier title | Paris, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 89 (1936–1936) |
dodis.ch/46172
Frankreich hat nicht nur einen Streik, sondern eine Revolution, nicht nur einen Kabinettswechsel, sondern einen Regimewechsel hinter sich.
So sehr es auch gewagt ist, unmittelbar nach den französischen Vorgängen allgemein historische Urteile zu fällen, möchte ich nicht unterlassen, Ihnen zu berichten, dass in den hiesigen Kreisen mehr und mehr das Gefühl, ja die Erkenntnis dafür aufdämmert, dass die obige Sentenz den Tatsachen entspricht. Die Kammerwahlen, die Bildung der neuen Regierung, selbst die Streiks schienen sich erst in sozusagen normalen Formen zu gestalten, dass jetzt erst hinterher die tiefere Bedeutung der Entwicklung wahrgenommen wird: auf bürgerlicher Seite mit Entsetzen, auf sozialistisch-kommunistischer Seite mit Frohlocken.
I.
Die Symptome dafür, dass es sich diesmal wirklich um einen entscheidenden Umschwung gehandelt hat, sind allzu zahlreich.
Wenn die gewaltsame Eroberung der Macht das Wesen jeder staatlichen Revolution ist, dann schliessen jedenfalls die jüngsten Ereignisse die Anwendung dieses Begriffs nicht aus. Die Machtübernahme durch den Front Populaire hätte sich wahrscheinlich ohne die Streiks in den üblichen Bahnen bewegt; durch den Streik jedoch vollzog sie sich in revolutionärem Elan. Unter dem Druck der Streikenden, mit der Drohung der unzufriedenen Volksseele wagten die neuen Herren, sich mit einem Ruck überraschend fest in den Sattel zu setzen und die einschneidensten Änderungen autoritär vorzunehmen, ohne dass das eingeschüchterte Bürgertum erst begriff oder gar an Widerstand dachte. Während viele Bürgerliche die Streiks erst rätselhaft fanden und sich über die unbekannten Urheber derselben die Köpfe zerbrachen, ja sogar so weit verblendet waren, dass sie schadenfroh der neuen Regierung die Streikbewegung gönnten, in der Hoffnung, dass nun vielleicht ausgerechnet Blum mit seinen Sozialisten zu allererst die Polizei gegen die Proletarier marschieren lassen müsse, ist es jetzt klar geworden, dass die grosse Massendemonstration, die illegale Fabrik- und Betriebsbesetzung nach bolschewistischem Muster, die weniger ominös mit «Streik am Platze» bezeichnet wurde, als Grundlage der faktischen Eroberung der Macht zu dienen hatte und zwar als gewichtigerer Faktor als die parlamentarische Legitimation. Die Stimmung der Streikenden liess hierüber keinen Zweifel. Die angeblich armen, hungernden und übermüdeten Arbeiter und Arbeiterinnen sangen und tanzten und tranken (trotz eines angeblich freiwillig auferlegten Alkoholverbotes) und trugen übermütig das Bewusstsein ihrer siegreich zur Herrschaft gelangten Klasse zur Schau. Natürlich beteiligten sich auch die Chömeure, die keine Arbeitsstätte zu besetzen hatten, mit neu erwachtem Tatendrang an der Kraftentfaltung, indem sie die Strassen mit Sovietfahnen und dem Absingen der Internationale durchzogen oder wenigstens einige Mairien besetzten. Alle Augenzeugen, alle Photographien stimmen in dieser Hinsicht über die festlich frohe Aufmachung dieser proletarischen Mobilisation überein.
Wie gut berechnet und wie wohl vorbereitet die übrigens diszipliniert und höflich durchgeführte Massenerhebung war, zeigte ihr mit geradezu spielender Leichtigkeit errungenes Resultat, das Bürgertum restlos eingeschüchtert zu haben. Die Diktatur der Arbeiterklasse wurde zu ungeschriebenem Gesetz, das von der Regierung mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit zum Prinzip ihres Handelns gemacht wurde. Dabei zeigte es sich, dass von Anfang an die Sozialisten und die Kommunisten (die gar nicht an der Regierung beteiligt sind) die Führung des Front Populaire an sich gerissen hatten und dass sie über ihre radikalen Verbündeten hinweggingen.
Das erste Anzeichen dafür, dass die bisherige Ordnung gestört war und dass ein neuer Staat entstand, war darin zu ersehen, dass sich die Regierung weigerte, zwangsweise die Räumung der besetzten Fabriken, Warenhäuser, Betriebe, Schiffe, Hotels, Cafés etc. vorzunehmen. Es folgte unter Druck der starken Hand der Regierung die Einigung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, mit Lohnerhöhungen bis zu 35% und mit bezahlten Ferien. Es folgten die sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Gesetzesvorlagen der Regierung mit der 40 Stundenwoche, mit den Kollektivverträgen, mit Arbeiterdelegierten in den Betriebsleitungen, mit der Revision der Lavalschen Sparsamkeitsdekrete2, mit grossem Arbeitsbeschaffungsprogramm, mit Verlängerung der Schulzeit, mit der Revision der Statuten der Banque de France und mit der Kreditbeanspruchung bei derselben, über die Sie im einzelnen bereits informiert worden sind und mit denen im ganzen offenbar das klassische liberal-individualistische Wirtschaftssystem in Frankreich zu Grabe getragen worden ist. Es folgte die ungewöhnlich parlamentarische Behandlung dieser Gesetzesvorlagen. In Stunden, fast in Minuten verabschiedete die gefügige Kammer bei schüchterner Opposition einiger bürgerlicher Vertreter die bedenklichen, problematischen, komplexen Texte, rücksichtslos die Mehrheit des Front Populaire ausnützend. Es folgte die noch ungewöhnlichere Behandlung im Senat, der in Wirklichkeit einhellig Gegner der Vorlagen ist, aber mit wenig Mut und mit dem Vorwand, dass man das neue Experiment geschehen lassen müsse, die Gesetze schluckte; ein offenbares Versagen des parlamentarischen Systems, das von kommunistischen Blättern dahin glossiert wurde, dass für parlamentarische Komödien überhaupt kein Interesse mehr bestehe.
Die zunehmende Neigung der Regierung, gewalttätig den Machtstandpunkt einzunehmen, zeigte sich in der Auflösung der bürgerlichen Ligen am 19. Juni3
. Während die früheren bürgerlichen Regierungen nicht gewagt hatten, gegen die sozialistischen und kommunistischen Wehrverbände vorzugehen und in vorsichtigen und endlosen Verhandlungen das ganze Problem ungelöst Hessen, ist jetzt ohne jede Diskussion im Sinne der Sozialisten und Kommunisten, deren Organisationen natürlich bestehen bleiben, «Remedur» geschaffen worden. Erstaunlich schwach war die Reaktion der patriotischen Verbände. Sie fügten sich kleinlaut und begnügten sich damit, gegen die Aufhebung an den Staatsrat zu appellieren. Ausserdem ordneten sie an, einige Tage aus Protest mit der Tricolore die Wohnungen zu flaggen.
[...] Die französische Polizei entriss am letzten Sonntag mit Gewalt den Leuten und den Autos am Etoile und in den Champs-Elysées die Tricoloren, während rote Sovietfahnen nie beanstandet worden waren; die französische Polizei arretierte bei Ansammlungen auf der Strasse die bürgerlichen Redner, oder befahl denselben zu verschwinden, während die sozialistischen und kommunistischen Sprecher unbehelligt blieben. Selbst die Marseillaise wurde plötzlich als unpassender Gesang behandelt, während die Internationale der Menge und der Polizei offenbar besser gefiel. So hatte sich Frankreich nach ändern berühmten Mustern über Nacht auch noch eine Flaggenfrage und einen Sängerkrieg angeschafft.
Neuerdings folgen nun wiederum Besetzungen von Betrieben, die Streikhetzer entlassen hatten. Soeben wird die Arbeit im Marseiller Hafen niedergelegt, dessen Schiffe besetzt wurden und rote Fahnen gehisst haben.
II.
Die Antwort auf die Frage, wie weit die Umwälzung in der eingeschlagenen Richtung fortgehen wird und ob sie irgendwie noch gebremst oder zum Stillstand gebracht werden kann, steht vorläufig in den Sibyllinischen Büchern geschrieben. Das Programm des Front Populaire versprach von Anfang an eine generelle Proletarisierung im Falle des Sieges. Léon Blum selbst charakterisierte seine Regierung als notwendiges Übergangsstadium zum sozialistischen Staat. Die Kommunisten haben niemanden darüber im Zweifel gelassen, dass die logische Entwicklung auch über Blum, sein «Gouvernement des masses» hinweg zur «Républiquefrançaise des Soviets» führen müsse. Ein Satyriker hat der Chambre des Députés den Namen «Palais Bourbonski» gegeben.
Von allen Neuerungen dürfte wohl das finanzielle Experiment, das zur Ankurbelung der Wirtschaft dienen soll, am fragwürdigsten sein, das auch in absehbarer Zeit einen sichtbaren Erfolg oder Misserfolg hervorrufen muss. Die kühne Methode, nun zunächst einmal das noch vorhandene Geld ungehemmt auszugeben, zu erwarten, dass das scheue und zurückgehaltene Kapital von 60 Milliarden sich nun ausgerechnet den Sozialisten und Kommunisten freiwillig zur Verfügung stellen werde, eine Lohnsteigerung bis zu 35% zu verfügen und der Industrie und dem Handel die Mehrkosten aufzubürden in der Hoffnung, dass damit ohne Preissteigerung der Wirtschaftsmechanismus wieder in Gang komme und von selbst rentabel werde, ist jedenfalls eine tolle Addition unausprobierter Wirtschaftsdoktrinen und Kaufkrafttheorien. Die Probe, ob Produktion und Absatz um so grösser werden, je kaufkräftiger die Massen sind und ob daher die Prosperität wiederkehrt, indem man das Einkommen der Massen mit einem Ruck erhöht, wird nun in reinster Form gemacht.
Was aber, wenn sich der Erfolg der Experimente der Front Populaire-Regierung nicht einstellen sollte? Bereits tritt die Befürchtung auf, dass in diesem Falle die sozialistisch-kommunistische Koalition die Macht nicht mehr freiwillig in demokratisch-parlamentarischer Weise zurückgeben würde. Denn wieder aus der Macht verdrängt, würde sie wohl dieselbe unter den gegebenen Verhältnissen nie mehr zurückgewinnen. Diese Leute, die immer nur wenig Respekt vor bürgerlichen Verfassungen, Gesetzen und Rechtslagen gehabt haben, würden darum wohl auch dazu greifen, das Heil in einer Linksdiktatur zu versuchen und damit dem allgemeinen Zeitgeist, das heutzutage ein Staat nur noch mit autoritärer Gewalt regiert werden könne, einen neuen Zuwachs bringen...
Für die bürgerlichen Rechtsparteien ist vorläufig eine derartige Lage geschaffen, dass sie wohl auch nur durch einen Gewaltakt wieder die Zügel der Staatsregierung ergreifen können.
Nachträglich die Ursachen und die Verantwortlichen für diesen Gang der Ereignisse festzustellen, ist nicht ganz unmüssig. Besonders ist es die Rechtspresse, die langsam mit Vorwürfen aufwartet, während die Zeitungen der Radikalen etwas die Sprache verloren haben. Das ist auch ohne weiteres begreiflich. Denn schliesslich ist die heutige Situation nur dadurch möglich geworden, dass die bürgerliche radikale Partei für die Kammerwahlen das Wahlbündnis mit den Sozialisten und Kommunisten geschlossen hatte. (Das hatte wiederum darin einen tieferen Grund gehabt, dass seit dem Tage des berühmten 6. Februar 19344 und dem damaligen Zwist unter den bürgerlichen Parteien die Radikalen auf die Rechte besonders schlecht zu sprechen waren). Die grosse, bisher allmächtige Partei hat damit, was nicht zu bestreiten sein wird, den Sozialisten und Kommunisten die Steigbügel gehalten, allerdings nicht absichtlich. Das was sich die Partei vorgestellt hatte, war ein die bisherigen Machtverhältnisse bestätigendes Wahlresultat. Statt dessen kam der überraschende Vorsprung der Sozialisten, der eigene Abstieg von der ersten zur zweiten Partei des Landes, der Verlust der Führerstellung, und jetzt das Hineinschlittern in sozialistisch-kommunistische Experimente, einer neuen unbekannten Staatsform entgegen. Heute ist wohl die Partei selber nicht mehr darüber entzückt, was sie angestellt hat. In allen Fällen ist der rechte Flügel missvergnügt. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass das Bürgertum selber in die Grube fällt, die es ändern gegraben hat. Ist auch in Frankreich etwas ähnliches geschehen, wie damals, als Hindenburg, Papen, die Schwerindustrie und die Junker die Nationalsozialisten in die Regierung beriefen? Ist bald ein weiteres, grosses Land aus der Liste des demokratisch-bürgerlichen Liberalismus zu streichen? Bestätigt sich geschichtlich immer wieder aufs Neue, dass ein absterbendes Regime selbst blindlings und gleichgültig den Aufzug eines neuen fordert? Ausserdem hatten die letzten bürgerlichen Regierungen kurzsichtig die bürgerliche Position unterhöhlt. Im Glauben, mit einem besonders weitgehenden sozialen Kurs die roten Massen versöhnlich stimmen zu können, wurden unter den letzten bürgerlichen Kabinetten durch die enormen Soziallasten die Staatsfinanzen zu Gunsten der Klasse ruiniert, die sich nun damit bedankt, dass sie das Bürgertum zusammenpacken heisst. Die Angst vor irgend einem Fascismus hatte sie weiter dahin gebracht, die sozialistisch-kommunistische Bewegung besonders zu schonen und aufzupäppeln, obgleich es im Grunde dem Bürgertum egal sein kann, ob ihm von einer rechten oder linken Diktatur der Garaus gemacht wird. Wiederum, um immer wieder neue Mittel zu sozialen Zwecken zu finden, hatten diese Regierungen das eigene Staatspersonal durch Gehaltsreduktionen, durch Abbau, durch Aufschub der Beförderungen derart verärgert und unzuverlässig gemacht, dass es zu einem grossen Teil zu den neuen Machthabern, die auch sofort die Gehälter wieder erhöhten und eine Verjüngung der Cadres einleiteten, übergelaufen ist. Das trifft auch auf die Polizeitruppen zu, die wie ich verschiedentlich gehört habe, gegen die Arbeiter nicht mehr marschiert wären. Schliesslich hatte das bürgerliche Regime aus einer falsch verstandenen Toleranzidee die sozialistisch-kommunistische Propaganda selbst in der Armee so weit geduldet, dass behauptet wird, es wäre auch das Heer, das zwar gegen einen äussern Feind bereit ist, zur Herstellung der bürgerlichen Ordnung nicht mehr zu verwenden gewesen.
Es braucht nicht noch besonders hervorgehoben zu werden, wie ungeheuer wichtig jetzt für die Schweiz die Beobachtung der französischen Vorgänge ist. Von einem nur im Bereich der Möglichkeit liegenden Regimewechsel im letzten Nachbarstaat, mit dem uns bisher ähnliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Anschauungen und Auffassungen verbunden haben, wären in jedem Falle aussen- und innenpolitische Folgen für uns zu erwarten, selbst wenn man von einer Ansteckungsgefahr absehen möchte. Ein Blick auf Belgien ist allerdings auch in dieser Hinsicht beunruhigend5.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Paris, Archiv-Nr. 89. Paraphe: RP. Remarque marginale de Motta: Interessanter Bericht (wohl von Herrn Zurlinden verfasst). 26.6.36.↩
- 2
- Notamment 29 décrets-lois pris le 16 juillet 1935. Cf. no 245, n. 2.↩
- 3
- En vertu d’un décret du 11 janvier précédent. Les Ligues dissoutes sont les Croix-de-Feu, les Jeunesses patriotes, Solidarité française et les Francistes.↩
- 4
- Manifestation sur la place de la Concorde, dirigée contre le gouvernement Daladier, qui s’est soldée par 17 morts et plus de 2000 blessés.↩
- 5
- En annexe au double de ce document, dans les papiers de la Légation, l’annotation suivante: L’article paru dans le «Gringoire» du vendredi 26 juin 1936 concorde tellement avec mon rapport politique de la veille que j’ai envoyé cet article au Département Politique; il faut l’annexer à la copie de mon rapport. Le 27 juin 1936 (E 2200 Paris 9/1).↩
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