Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
2. Autriche
2.5. Questions politiques générales
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 10, Dok. 35
volume linkBern 1982
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#1256* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2300(-)1000/716 522 | |
Dossiertitel | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 45 (1930–1930) |
dodis.ch/45577
[...]2 In Wien machen sich seit einiger Zeit Bestrebungen geltend, die, so unwahrscheinlich ihre Verwirklichung heute auch scheinen mag, auf eine Revision der bestehenden Grenzen gerichtet sind. Diese Bestrebungen werden von Italien gefördert, wobei Ungarn im Vordergrund steht. Von besonderem Interesse ist es nun, dass drei ihrem Wesen nach durchaus verschiedene Gruppen dieses selbe Ziel zu verfolgen scheinen. Zunächst handelt es sich um die «Irredenta» im Staatengebiet der kleinen Entente, den Kroaten, Slowaken und Mazedoniern, deren Emissäre in Wien eigene Büros unterhalten und eine gesteigerte Aktivität zu entwickeln scheinen. Ihre Wünsche decken sich in dem Punkt, auf den es hier ankommt, mit gewissen Agitationen der katholischen Auslandsaktion, die darauf hinauslaufen, einen Ersatz für die durch den Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erlittene Machteinbusse der katholischen Kirche zu schaffen. Die von diesen beiden, verschiedenen Seiten ausgehenden Bestrebungen machen sich anscheinend die Monarchisten in Österreich und Ungarn zunutze, die darin ihr Ziel, eine Restauration des Hauses Habsburg, zunächst in Ungarn herbeizuführen, wesentlich gefordert sehen. Gewisse Erscheinungen, von denen unten noch näher die Rede sein soll, lassen sich nicht wohl anders erklären, als dass Italien, im Einvernehmen mit Ungarn, die «Irredenta» in den Staaten der kleinen Entente, namentlich der Tschechoslowakei und Jugoslawien unterstützt, wobei geradezu an eine Föderation zwischen der Slowakei, Ungarn, Österreich und Kroatien unter italienischer Oberhoheit gedacht zu sein scheint3. Einer Wiedereinsetzung des Hauses Habsburg in Ungarn müsste unter solchen Umständen eine ganz besondere Bedeutung zukommen.
Es würde somit auch hier letzten Endes der italienisch-französische Interessengegensatz in Erscheinung treten, wenn, wie es den Anschein hat, Italien die Loslösung von Gebieten Jugoslawiens und der Tschechoslowakei von ihren Staatenverbänden, diesen Eckpfeilern der französischen Aussenpolitik, zu fördern trachten sollte. Dazu käme das konfessionelle Moment im Hinblick auf die römischkatholischen Gebiete Italien, Kroatien, Ungarn, Österreich und der Slowakei auf der einen Seite und dem hussitisch-protestantischen, tschechischen und dem griechisch-orthodoxen, serbischen Gebiet auf der anderen Seite. Sodann wird behauptet, dass auch England einen italienischen Machtzuwachs nicht ungern sehen würde, um ein grösseres Gregengewicht gegenüber dem übermächtigen Frankreich zu schaffen, eine Ansicht, die übrigens mir gegenüber erst heute von dritter, gänzlich unbeteiligter Seite ebenfalls vertreten worden ist. Wie mein Gewährsmann aus französischer Quelle erfahren hat, soll dem ungarischen Ministerpräsidenten Bethlen in London mitgeteilt worden sein, dass Grossbritannien die italienische Ostpolitik bis auf weiteres unterstütze, um das Gegengewicht zu Frankreich zu verstärken.
Schliesslich verdient besondere Beachtung, dass in dieser Sache die Interessen des Vatikans denjenigen Italiens parallel laufen würden, ein Umstand, der durch die vollzogene Aussöhnung zwischen Quirinal und Heiligem Stuhl wesentlich beeinflusst worden zu sein scheint. So soll, Informationen meines Gewährsmannes aus österreichischer Quelle zufolge, von Grandi4 selbst die Bemerkung gefallen sein, dass die italienische Ostpolitik seit den Lateran Verträgen5 eine gründliche Änderung erfahren habe und Mussolini infolge der vom Vatikan ausgehenden Einflüsse einer Thronbesteigung Ottos6 in Ungarn nicht abgeneigt sei. Schwierigkeiten bereite jedoch das Verhältnis Ungarns zu Rumänien im Hinblick auf Siebenbürgen. Auf alle Fälle müsse Rumänien von der kleinen Entente7 losgelöst werden, zu welchem Zwecke ein besseres Einvernehmen zwischen Ungarn und Rumänien wünschenswert wäre.
In diesem Zusammenhange sei erwähnt, dass in den Beziehungen zwischen Österreich und Frankreich eine gewisse Verschlechterung zu konstatieren ist. Aus Gesprächen, die ich mit dem französischen Geschäftsträger8 bereits vor einiger Zeit zu führen Gelegenheit hatte, erhielt ich den Eindruck, dass der gegenwärtige, österreichische Bundeskanzler9 in der französischen Gesandtschaft keine übertriebenen Sympathien geniesst. Das Abseitsstehen Frankreichs bei der Emission der ersten Tranche der Österreichischen Bundesanleihe von 193010 hat zweifellos nicht dazu beigetragen, das Verhältnis herzlicher zu gestalten. Last but not least soll sich, wie mir versichert wird, bei der französischen Regierung eine gewisse Empfindlichkeit darüber geltend machen, dass Österreich es vorgezogen hat, nicht allein bei Frankreich eine Stütze zu suchen.
Von meinem journalistischen Gewährsmann ist mir vom geheimen Bericht eines italienischen Aristokraten Kenntnis gegeben worden, der verwandtschaftliche Beziehungen zu den sogenannten «Magyaronen» besitzt und im Auftrag eines massgebenden Mitgliedes der donau-föderalistischen Aktion11 im Februar dieses Jahres nach Italien gereist ist, um die Quellen der Restaurations- und Revisionsbestrebungen, als deren Zentrum ihm Rom bezeichnet worden war, zu studieren. Dieser Emissär, dessen Namen meinem Gewährsmann bekannt ist, mir gegenüber jedoch verschwiegen wurde, soll von massgebenden Stellen in Rom empfangen und über die Ziele der italienischen Politik eingehend unterrichtet worden sein. Zur Erörterung habe dabei vorwiegend eine engere Verbindung zwischen gewissen, katholischen Staatengebieten und die Bildung einer antibolschewistischen Front gestanden. Bei dieser Gelegenheit soll der Emissär zur Kenntnis von Material gelangt sein, unter dem sich auch ein Übereinkommen Italiens mit der kroatischen Emigration befindet, und das sich auf politische, finanzielle und wirtschaftliche Fragen beziehen soll. Es wird behauptet, dass der unten noch zu erwähnende Dr. Friedrich Wiesner im Besitze dieses Abkommens ist.... L.J
Wie der Wiener Polizeidirektion bekannt ist, weilt hier der italienische Emissär Enrico Gozzi als offizieller Vertrauensmann der Fascisten. In Journalistenkreisen wird er «das Auge Mussolinis» genannt. Die Polizeidirektion hat auch Kenntnis davon, dass Gozzi unabhängig von der italienischen Gesandtschaft mit der Vermittlung politischer Nachrichten an italienische Dienststellen betraut ist. Ferner führt in Wien der italienische Major Umberto Manfredi, der sich etwa alle 10 Tage nach Italien begeben soll, eine eigene, politische Kanzlei.
Bis zu seiner Verhaftung mit anschliessender Verurteilung erschien, ebenfalls laut Polizeibericht, der ehemalige, slowakische Autonomistenführer und Abgeordnete Prof. Dr. V. Tuka wiederholt in Wien, wo er mit dem unten noch zu nennenden österreichischen Gesandten a. D. Dr. Friedrich Wiesner sowie mit einem ungarischen Vertrauensmann Zusammenkünfte pflog. Es scheint, dass man sich auf einen geeigneten Nachfolger noch nicht hat einigen können.
Über die Tätigkeit der kroatischen Emigranten besagt ein mir zur Einsichtnahme vorgelegter, vertraulicher Bericht einer hiesigen Behörde, dass, als die jugoslawische Regierung, infolge einer Reihe von Anschlägen, die im vergangenen Jahre verübt wurden, zur Verhaftung kroatischer Nationalisten schritt und verschiedene Verfolgte die Flucht ins Ausland ergriffen, von diesen der vom Belgrader Staatsgerichtshof in contumaciam zum Tode verurteilte Dr. Ante Pavelic zunächst nach Österreich kam, von wo er durch Verfügung der Bundespolizeidirektion am 27. Oktober 1929 aus Rücksichten der öffentlichen Ordnung für ständig ausgewiesen wurde. Pavelic, dessen Beziehungen zu der nationalen revolutionären mazedonischen Bewegung offenkundig waren, ist zwei Tage darauf (angeblich in Begleitung eines österreichischen Priesters und Vertrauensmann des Kardinals Piffl) in die Schweiz abgereist. Von der gleichen Stelle wird darauf verwiesen, dass die Familie des Pavelic ständig auf einem Landgute bei Fiume weile, wo dieser sich wiederholt aufgehalten habe. Sie hält es für wahrscheinlich, dass er bei dieser Gelegenheit mit italienischen Politikern Fühlung genommen habe. In der Schweiz sollen noch andere kroatische Emigranten arbeiten und zum Teil mit italienischen Pässen versehen sein. Wie mir von privater Seite versichert wird, sollen die Interessen der kroatischen Emigration in Wien vornehmlich von General Sarkotic vertreten werden.
Es kann unter diesen Umständen nicht verwundern, wenn auch die Regierungen der Kleinen Entente in Wien besondere Büros unterhalten, um sich über die Tätigkeit Italiens und der «Irredenta» in ihren eigenen Ländern informiert zu halten. So soll die jugoslawische Regierung zu diesem Zwecke in ihrem Gesandtschaftsgebäude eine besondere Kanzlei führen lassen, die von dem ehemaligen bulgarischen Abgeordneten Sawow geleitet werde, der für Jugoslawien optiert hat und sich jetzt Sawowic nennt. Dieser soll zugleich Vertrauensmann des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Udrzal sein.
Die Fäden der legitimistischen Aktion münden angeblich bei dem österreichischen Gesandten a. D. Dr. Friedrich Wiesner, der in jüngster Zeit eine ausserordentliche Aktivität an den Tag legt. Er ist Herausgeber der ungarnfreundlich eingestellten «Donauländischen Korrespondenz» und erfreut sich grossen Ansehens im Bundeskanzleramt. Wiesner wurde schon mehrfach als Kandidat für die Leitung des Bundespressedienstes genannt. Er soll Beziehungen nach fünf Richtungen hin pflegen, nämlich nach Ungarn, Kroatien, der Slowakei, Italien und Brüssel (Zita). Er soll ferner ausgezeichnete Verbindungen zur englischen Hocharistokratie besitzen, sowie zur dortigen konservativen Presse und dem Kreis um Rothermere12. Obwohl Altbundeskanzler Seipel zu vorsichtig sei, um mit Wiesner direkt zu verkehren, bestehe doch zwischen den beiden eine Verbindung, die durch den Chefredakteur der christlich-sozialen «Reichspost», Funder, vermittelt werde. In der Wohnung Wiesners sollen sehr häufige Konferenzen stattfinden, an denen jeweils 10 bis 15 Personen teilnehmen13.[...]14 In jüngster Zeit habe der Vatikan die Initiative ergriffen, zwischen Zita15 und Horthy16 zu vermitteln. Der Reichsverweser verlange für seinen Rücktritt gewisse Kompensationen, worunter den Herzogstitel und eine materielle Entschädigung. Im übrigen habe Mussolini dem ungarischen Ministerpräsidenten Bethlen auf die Frage, wie sich Italien zur Ausrufung Ottos zum ungarischen König verhalten würde, geantwortet, dass Otto seinen Segen hätte. Zita habe in Paris erklären lassen, dass das Haus Habsburg im Falle einer Thronbesteigung Ottos auf alle revisionistischen Pläne verzichten und den Status quo anerkennen werde. Als letzteres der Kleinen Entente bekannt geworden sei, habe diese ihrerseits in Paris die Versicherung abgeben lassen, dass eine Restauration der Habsburger unter allen Umständen den Krieg bedeute.
Erwähnen will ich noch an dieser Stelle, dass der englische Geschäftsträger mir gegenüber der Meinung Ausdruck gab, ein ernsthafter Einspruch Frankreichs gegen eine Thronbesteigung Ottos in Ungarn wäre kaum zu gewärtigen. Der italienische Geschäftsträger17, mit dem ich von Washington her in einem freundschaftlichen Verhältnis stehe und mit dem ich dieser Tage längere Zeit zusammen war, gebraucht über den Gegenstand nur die vorsichtigsten Wendungen18. Ich möchte diesen Bericht nicht schliessen ohne nochmals zu betonen, dass die Regierung Schober die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes wünscht, wobei sie bereit ist, Flüchtlingen aus anderen Staaten Asyl zu gewähren, solange sie durch ihr Verhalten den Gaststaat nicht gefährden und das Gastrecht nicht missbrauchen. Dass der österreichische Bundeskanzler von der Loyalität Italiens Österreich gegenüber völlig überzeugt ist, steht ausser Zweifel.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Wien, Archiv-Nr. 45.↩
- 2
- Dans la première partie de son rapport, C. C. Jenny fait état d'un article du journaliste viennois Otto Deutsch paru à Prague sur le refroidissement des relations germano-autrichiennes et il conclut à la non-actualité de la question de l’Anschluss. Sur la base d’informations que lui ont fournies le correspondant à Vienne d’un important journal suisse et un journaliste hollandais, très confidentiellement, il dresse ensuite un tableau des mouvements révisionnistes à l’œuvre dans la capitale autrichienne.↩
- 3
- Note au document: Nach dem Inhalt des in Beilagen 1 (non reproduit) wiedergegebenen Aktenstücke würde in den bezüglichen Besprechungen auch von Bayern und Polen die Rede sein.↩
- 4
- Dino Grandi, Ministre italien des Affaires étrangères depuis 1929.↩
- 6
- Fils du dernier empereur d’Autriche et roi de Hongrie, Charles, décédé en 1922, et de son épouse Zita.↩
- 7
- Roumanie, Tchécoslovaquie, Yougoslavie.↩
- 8
- Bertrand, comte Clauzel.↩
- 9
- J. Schober.↩
- 10
- Il s’agit de l’emprunt dit d’investissement. L’accord en vue de l’émission de sa première tranche est signé à Londres, le 14 juillet 1930.↩
- 11
- Note au document: einer Persönlichkeit, die gleichzeitig geheime Beziehungen zur Gegenseite unterhält.↩
- 12
- Frère de lord Northcliffe. Dirige depuis 1922 le Daily Mail.↩
- 13
- Jusqu’ici toute la partie citée du rapport est accompagnée d’une note marginale de C. C. Jenny: streng vertraulich; nicht für Wiedergabe geeignet!↩
- 14
- 13.Le rapport traite ensuite de la question royale en Hongrie.↩
- 15
- Femme du dernier empereur d’Autriche, roi de Hongrie, Charles.↩
- 16
- Régent du Royaume de Hongrie depuis le 1er mars 1920.↩
- 17
- G. Auriti.↩
- 18
- Jusqu’ici la partie citée du rapport est accompagnée d’une note marginale de C.C. Jenny: streng vertraulich; nicht für Wiedergabe geeignet!↩
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