Language: German
10.9.1928 (Monday)
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 10.9.1928
Minutes of the Federal Council (PVCF)
Motta berichtet über den derzeitigen Stand der Untersuchungen im Fall Rossi. Der Bundesrat will noch die vollständige Abklärung einiger Punkte abwarten, ist aber der Meinung, dass sich ein energischer Protest unter allen Umständen aufdrängt.
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Printed in

Walter Hofer, Beatrix Mesmer (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 424

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Bern 1980

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dodis.ch/45441
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 10. September 19281

1454. Verhaftung des Cesare Rossi

Der Vorsteher des politischen Departementes berichtet über den derzeitigen Stand des Falles Rossi:

«Die beim politischen Departement durch Vermittlung der tessinischen Polizeidirektion eingelaufenen Berichte des Chefs der kantonalen Gendarmerie deuten darauf hin, dass das Unternehmen, welches zur Entführung des Rossi aus Lugano und dessen Verhaftung in Campione geführt hat, von Personen vorbereitet wurde, die sich seit ungefähr zwei Monaten in Bissone niedergelassen hatten. Am 15. Juli d.Js. wurde von dem Unternehmer Giovanni Praderio in Santa di Viganello die ihm gehörige Villa in Bissone, welche wenige 100 Meter von Campione auf schweizerischem Gebiet gelegen ist, an einen gewissen Giuseppe Cristiani vermietet. Die Villa wurde von diesem Zeitpunkt an bewohnt durch Cristiani selbst, einem ungefähr 40jährigen Italiener, Fräulein Maria Cristiani, 25jährig, und Frau Bianca Traversa, ungefähr 60jährig. Die Genannten waren im Besitze von Pässen und gaben an, zu Kurzwecken nach Bissone gekommen zu sein. Eine Bestätigung der Behauptung, dass Cristiani Agent der fascistischen Polizei sei, liegt bis dahin nicht vor. Während des Aufenthaltes der Betreffenden in Bissone sei ihnen ein einziger Brief durch die Post zugestellt worden. Hingegen habe sich Cristiani häufig nach Lugano und nach Campione begeben und sei am letztem Ort im Restaurant «Lieto Soggiorno» verkehrt. Ebenso sei vor der Villa Praderio in Bissone regelmässig dreimal wöchentlich ein Automobil mit einem Nummernschild, das die Bezeichnung Roma aufwies, vorgefahren.

Anfangs August bewarben sich Cristiani und vier weitere Italiener, darunter der sich in Campione aufhaltende avvocato Luigi Rivoli bei dem Vertreter der S.A. Aval, Enrico Biaggi, in Lugano, um den Ankauf eines gebrauchten Fiatwagens. Der Kauf kam am 6. August d.Js. zustande; in der Folge bestand Cristiani die Fahrprüfung und erhielt auf seinen Namen die kantonale Verkehrsbewilligung für den Wagen, der das Nummernschild 6798 H trug. Cristiani war bereits am 28. Juli d.J. in den Schweizerischen Touring Club, Sektion Chiasso, eingetreten, von welchem ihm das Tryptique für Italien Nr. 82497 verabfolgt wurde.

Über die Persönlichkeit der Begleiter des Cristiani und Rivoli konnte Sicheres nicht festgestellt werden. Biaggi erinnert sich lediglich, dass der Eine als «Ragioniere» und ein anderer als «capitano» angeredet wurde. Die Namen der durch die Presse genannten Maffei und Pisani werden durch die Polizeiberichte nicht bestätigt.

Am 27. August gegen 6 Uhr abends stieg im Hotel Adler in Lugano ein von Frankreich kommendes Paar ab, welches sich unter den Namen:

1) Bozzoli, Probo, possidente, italiano, domiciliato a Parigi, 16, rue Albert,

2) Durant, Marguerite ou Rita, francese, domiciliata a Parigi, 192 A v. Daumesnil, einschrieben. Es wurde den Genannten ein Zimmer mit zwei Betten zugewiesen. Am 28. August gegen 4 Uhr abends empfingen dieselben einen Herrn mit einer ungefähr 60jährigen Dame, mit welchen sie sich kurze Zeit im Hotel unterhielten. Gegen 10 Uhr abends verliess das Paar Bozzoli-Durant das Hotel Adler und erkundigte sich noch beim Hotelpersonal über die Möglichkeit zu später Nachtstunde dahin zurückzukehren, da offenbar eine Ausfahrt geplant war.

Es ist anzunehmen, dass Bozzoli, dessen Identität mit Cesare Rossi nicht mehr bezweifelt wird, und seine Begleiterin Marguerite Durant sofort und ohne weitern Halt in Bissone nach Campione gefahren und daselbst in Haft genommen worden sind. Die sämtlichen Telephonanschlüsse in Campione werden durch die schweizerische Station in Bissone bedient und die dortige Telephonistin Regina Piffaretti gibt an, dass bereits um 10 Uhr 30 des gleichen Abends von Nr. 49 in Campione Nr. 2143 in Como verlangt wurde. Die Telephonistin erinnert sich, dass im Verlaufe des Gespräches wörtlich gesagt wurde «è nato il maschietto, la mamma è svenuta, la comare l’assiste e fa tutto». Der angeführte telephonische Anschluss in Como, welcher unmittelbar darauf nochmals verlangt wurde, ist als das Grand Hôtel Plinius festgestellt worden, wo sich offenbar das Zentrum der ganzen Operation befand.

Um 10 Uhr 35 wurde von demselben telephonischen Anschluss in Campione der Carabinieri-Oberst in Como verlangt und ausgeführt, man habe die Carabinieri zurückgezogen (prelevati), weil entgegen der vorher bestehenden Absicht, man nicht wollte, dass sie bei der «operazione» anwesend seien.

Um 10 Uhr 45 wurde sodann die Verbindung mit der Direktion der Carabinieri nachgesucht und um die Entsendung von Carabinieri gebeten, welche sofort zugesichert worden sei.

Um 11 Uhr 04 abends verlangte der Anschluss Nr. 49 in Campione eine Verbindung mit dem Innenministerium in Rom und die Telephonistin erinnert sich, dass versichert worden sei, «l’operazione era riuscita».

Um 11 Uhr 10 abends wurde von Como aus der Anschluss Nr. 49 in Campione verlangt; die Telephonistin glaubt, es sei erklärt worden, dass für die Entsendung von Carabinieri Sorge getragen worden sei. Ein weiterer telephonischer Anruf von Como aus erfolgte noch um 11 Uhr 35 derselben Nacht.

Der Besitzer des Apparates Nr. 49 in Campione wird nicht angegeben; indessen sei in der vorhergehenden Woche mehrmals der bereits genannte avvocato Rivoli an den Apparat Nr. 49 verlangt worden.

Am 29. August, 7 Uhr 40 morgens wurde dem Hotel Adler die telephonische Mitteilung gemacht, dass Bozzoli bei einem Automobilunfall verunglückt sei und dass die Durant bei ihm zu bleiben habe. Ihr Gepäck werde am gleichen Morgen durch eine Vertrauensperson abgeholt werden.

Um 10 Uhr desselben Morgens sei derselbe Herr wie am Vortage erschienen (Cristiani) und habe das Gepäck des Paares Bozzoli-Durant zurückgezogen und als dessen Adresse Hotel Plinius in Como angegeben, an welches seine Korrespondenz nachzusenden sei.

Es ist festgestellt, dass das Gepäck am 29. von Lugano nach Campione verbracht wurde, nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr von dort über Bissone-Maroggia nach Chiasso in demselben Automobil, welches die No 6798 T [sic] trug und um 5 Uhr 30 abends die Grenze passierte.

Der verhaftete Bozzoli sei mit dem Kursschiff, das um 7 Uhr 50 Campione verlässt, am 29. August in Begleitung von vier Carabinieri nach Porto Ceresio und von dort über Varese nach Como verbracht worden. Die Durant habe Campione mit dem Kursschiff um 11 Uhr 05 verlassen. Es ist ebenso bestätigt, dass in der Nacht vom 28. auf den 29. Carabinieri auf einem Motorboot von Porlezza und Porto Ceresio nach Campione gebracht worden sind.

Der Abtransport Rossis wurde auf dem Schiff durch den diensttuenden tessinischen Polizeibeamten Sargenti und ebenso durch den Zollgrenzwächter von Bissone beobachtet. Mit der Durant wurde gleichfalls das Gepäck des Paares transportiert, das am gleichen Vormittag von Lugano nach Campione geschafft wurde.

Rossi soll anlässlich seiner Überführung einen sehr niedergeschlagenen Eindruck gemacht haben, während die Durant in lebhaftem und fröhlichem Gespräche mit den sie begleitenden zwei Carabinieri beobachtet wurde. Wie auch aus den Aussagen des Besitzers des Hotel Adler hervorgeht, sprach Frl. Durant geläufig italienisch.

Die halbtagsweise in der Villa Praderio in Bissone beschäftigte Erwina Paltenghi fand dieselbe am Morgen des 29. August verschlossen vor. Cristiani und Frau Traversa seien bereits abgereist gewesen, hingegen war Frl. Cristiani noch anwesend und dafür besorgt, dass das Gepäck noch am selben Tage weggeschafft wurde. Die von der Polizei an Ort und Stelle angeordnete Untersuchung über allenfalls von Cristiani oder Frau Traversa zurückgelassene Effekten haben nichts Wichtiges zu Tage gefördert. Frau Traversa habe einmal der Paltenghi gegenüber erklärt, die Zusammenkünfte des Cristiani im Restaurant «Lieto Soggiorno» in Campione seien darauf zurückzuführen, dass er mit italienischen Mechanikern zusammenkomme, welche beabsichtigten das Casino in Campione anzukaufen, um daraus eine Teigwarenfabrik zu machen. Der Leiter des Hotel Adler in Lugano ist polizeilich angewiesen worden, allfällige an das Paar Bozzoli-Durant gerichtete Korrespondenz der kantonalen Gendarmerie abzugeben. Es sind bis dahin zwei Briefe der Mme Durant in Paris eingetroffen; in einem derselben führt sie aus, dass sie mit Ungeduld einen Brief über das Ergebnis der Zusammenkunft mit «F.» erwarte. Es ist noch nicht festgestellt, ob «F.» mit Cristiani zu identifizieren sei, oder ob letzterer lediglich eine Zusammenkunft zwischen Bozzoli und «F.» zu vermitteln gehabt habe. Aus den Bemerkungen eines Einwohners von Campione an den Gendarmerie-Beamten LuigiCrivelli in Lugano geht hervor, dass die italienische Polizei seit ungefähr zwei Monaten bemüht sei, eine sehr wichtige Persönlichkeit zu ergreifen.

Hingegen steht noch nicht sicher fest, ob den genannten Cristiani, seinen Begleiterinnen und Rivoli irgendwelche amtliche Eigenschaft zugekommen sei, noch ob diese letztem überhaupt bei der Entführung Rossis am 28. August abends 10 Uhr im Automobil anwesend waren. Auch über die Rolle der Frl. Marguerite Durant steht nichts weiteres fest. Die Untersuchung wird insbesondere in dieser Richtung fortzusetzen sein. Es konnte auch nicht festgestellt werden, durch wen am Telephonanschluss Nr. 49 in Campione erklärt worden ist, «er habe keinen Widerstand geleistet; sobald ich den Rock aufgeknöpft und die Schärpe gezeigt hatte, wurde er sprachlos». Die kantonale Gendarmerie schliesst aus dieser Erklärung, dass die Verhaftung durch höhere Beamte der Sicherheitspolizei vorgenommen wurde; es ist aber nicht festgestellt, ob diese auch bei den auf Schweizerboden vor sich gehenden Vorbereitungshandlungen betätigt gewesen waren.

Der Podesta von CampioneVitalini soll einem Freunde gegenüber erklärt haben, dass er von dem Unternehmen keine Kenntnis hatte; in Campione hätten sich verschiedene italienische Polizeibeamte in Zivil aufgehalten. Er sei zwecks Legalisierung der stattgefundenen Verhaftung am Abend des 28. August herbeigezogen worden. Rossi habe sich geäussert: «Mi sono lasciato prendere come un imbecile». Er habe wohl geahnt, dass etwas mit ihm geplant sei, jedoch sei die Sache so unvoraussehbar und rasch durchgeführt worden, dass er nicht Zeit gefunden habe, seinem Schicksal zu entgehen.

In der Beratung wird namentlich die Frage aufgeworfen, ob von Italien die Herausgabe Rossis verlangt werden solle. Da kaum zu erwarten ist, dass Italien einem solchen Begehren freiwillig entsprechen würde, so muss die Frage genau überlegt und jedenfalls noch die vollständige Abklärung einiger Punkte abgewartet werden. Ein energischer Protest drängt sich aber unter allen Umständen auf.

Der Bundesrat wird daher nächste Woche über die diplomatischen Folgen Beschluss fassen2.

1
E 1004 1/312.
2
Vgl. Nr. 427.