Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS INTERGOUVERNEMENTALES ET LA VIE DES ETATS
II.2 ALLEMAGNE
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 406
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#105* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 58 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 21, Teil 2 (1920–1920) |
dodis.ch/44617
Ich bin erst seit wenigen Tagen wieder in Berlin und hatte während dieser Zeit mit der Übernahme der Geschäfte so viel zu tun, dass es mir nicht möglich war, mit politischen und diplomatischen Persönlichkeiten Fühlung zu nehmen und mich dadurch über die allgemeine Situation zu unterrichten, die in einem politischen Bericht zu besprechen wäre. Unter diesen Umständen muss ich mich heute auf die Mitteilung einiger weniger Tatsachen beschränken, die mir Interesse zu bieten scheinen.
Wegen der Schwierigkeiten, die sich für die Durchführung des Kohlenlieferungsvertrages mit der A. G. Stahlwerke Becker ergeben und über welche ich einen besonderen Bericht erstattet habe2, musste ich gestern beim Reichsminister des Auswärtigen, Simons, vorsprechen. Im Laufe des Gesprächs nahm der Minister Veranlassung, erneut darauf hinzuweisen, dass er ein gemeinsames Vorgehen von Deutschland und der Schweiz zur Anknüpfung von Handelsbeziehungen mit Russlandbegrüssen würde. Nach Herrn Simons sind nur die Deutschen und Schweizer, auf Grund der früher bestandenen wirtschaftlichen Beziehungen, in der Lage, erfolgreich mit Russland Handel zu treiben, bezw. sich in Russland wirtschaftlich zu betätigen. Engländer und Franzosen kennen das Land und seine Gepflogenheiten nicht genügend, um etwas Nennenswertes zu erreichen. Italien gebe sich die grösste Mühe, mit Russland «ins Geschäft» zu kommen, weil es sich nur auf diesem Wege aus der wirtschaftlichen Umarmung seiner Verbündeten befreien könne. Dieses Bestreben führe dazu, dass Italien sich intensiv bemühe, in Russland mit Deutschlandgemeinsame Wirtschaftspolitik zu treiben. Deutschland sei bereit, auf eine solch gemeinsame Aktion einzugehen und denke sich die Sache so, dass die Handelsverhältnisse nach Art und Menge zwischen den beteiligten Ländern kontingentiert würden. Der Minister meinte nun, die Schweiz sollte sich auch an einer solchen «Entente» zu gemeinsamer wirtschaftlicher Durchdringung des Ostens beteiligen. Herr Simons behielt sich vor, diese Frage gelegentlich weiter mit mir zu besprechen und ersuchte mich, bis dahin seine Mitteilungen als durchaus vertrauliche und inoffizielle zu behandeln. In diesem Sinne gebe ich das Vorstehende wieder und bitte, keinerlei weiteren Gebrauch davon zu machen. Mein erster Eindruck geht dahin, dass die Schweiz aus einer solchen Verständigung mit Deutschland und Italien nur Vorteile ziehen könnte, indem dadurch die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zum voraus in bestimmte und ruhige Bahnen geleitet werden könnte. Zudem scheint es mir fraglos, dass Deutschland in Zukunft der stärkste Konkurrent sein wird auf dem russischen Markt.
In diesem Zusammenhange teile ich mit, dass der hiesige Vertreter von Sovietrussland mir durch einen Journalisten erklären liess, dass er «empört»3 sei über die Behandlung, die man seinem Freunde und Sendboten Schloufki, alias Schlockowsky4, habe zuteil werden lassen. Er und die Sovietregierung werden Repressalien ergreifen, indem sie die Einreise von Schweizern zur Anknüpfung von Handelsbeziehungen mit Russland schlechthin untersagen. Wenn man sich auch über diesen allerhöchsten Zorn und die daraus resultierende Drohung nicht über Gebühr aufzuregen braucht, so muss man doch anerkennen, dass ein gewisser Grund zur Unzufriedenheit vorliegt. Dem betreffenden Schloufki wurde durch die Gesandtschaft auf ausdrückliche Weisung von Bern der Pass visiert; an der Grenze angekommen, wurde der Mann zurückgesandt und nachträglich hierher Weisung erteilt, den Pass nicht zu visieren5.
Das Ereignis des Tages bildet hier die Kabinettsitzung vom 22.1.Mts., in welcher endlich bestimmte und feste Richtlinien für die Finanzpolitik des Reiches aufgestellt worden sind und gleichzeitig der grundsätzliche Beschluss gefasst wurde, den Reichsminister zu beauftragen, «auf der nun vorliegenden Grundlage des Berichtes der Sozialisierungskommission umgehend den Entwurf eines Gesetzes über die Sozialisierung des Bergbaues vorzulegen». Minister Simons bestätigte mir gestern, dass das Kabinett einstimmig gewesen sei bei diesem Beschluss und dass die Parteien, welche hinter der jetzigen Regierung stehen, mit Einschluss der Mehrheitssozialisten dem Beschlüsse grundsätzlich beipflichten. Demgegenüber wird heute aus Ulm gemeldet, dass der Parteitag der Demokraten grosse Bedenken geäussert habe gegenüber dem Berichte der Sozialisierungskommission. Wortführer dieser Opposition war der demokratische Führer von Siemens. Auch in der Presse kündigt sich schon eine scharfe Opposition gegen die Thesen der Sozialisierungskommission an. Den Bericht dieser Kommission habe ich Ihnen mit letztem Kurier zugehen lassen. Zweifellos wird die Regierung ihre Vorlage in nächster Zeit dem Reichswirtschaftsrat zugehen lassen, der in erster Linie berufen ist, sein Gutachten abzugeben. Es steht aber zu erwarten, dass schon in dieser Instanz die Gegensätze scharf aufeinander platzen werden, und es lässt sich deshalb heute noch gar nicht voraussehen, wie die schliessliche Gesetzesvorlage aussehen und wie lange es gehen wird, bis eine endgültige Lösung gefunden werden kann.
Von viel unmittelbarerer Wirkung sind die Ausführungen des Finanzministers über die Finanzlage des Reiches. Es gehört zu den Spezialitäten aller Finanzminister, die Finanzlage etwas schwarz zu malen und man macht diesen Vorwurf Herrn Wirth in ganz besonderem Masse. Aber die nackten Zahlen, die er dem letzten Ministerrat vorgelegt hat, erscheinen auch ohne jeden Kommentar entsetzlich genug, und sie rechtfertigen gewiss das Wort des Ministers, dass die finanzielle Lage Deutschlands «mehrals ernst» sei. Es genügt, sich vor Augen zu halten, dass nach den Erklärungen des Ministers die Gesamtschuld des Reiches zur Zeit über 280 Milliarden beträgt und dass in dieser Ziffer noch kein Pfennig eingesetzt ist für die Leistungen des Reiches, die als Wiedergutmachung im Sinne des Friedensvertrages an die einzelnen Ententestaaten bestimmt worden sind.
Nicht minder erschreckend lauten die Ziffern des Voranschlages für das laufende Jahr, welcher einen gesamten Fehlbetrag\on 55,7 Milliarden aufweist.
Ich erlaube mir, Ihnen beiliegend die amtliche Meldung über die Kabinettssitzung vom 22.1.Mts. zu überreichen und möchte Ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Tatsache lenken, dass die Forderung für Entschädigung an Reichsangehörige infolge des Krieges sich auf 131 Milliarden beläuft. In dieser Summe sind enthalten: 17 Milliarden für die Abtretung der deutschen Handelsflotte, 90 Milliarden für die Ablösung des konfiszierten deutschen Eigentums in früherem Feindesland und 10 1/2 Milliarden für das abgelieferte Kriegsgerät. Die hier genannten Ziffern bedeuten eine direkte Leistung Deutschlands an die bisherigen Feinde, die im Grunde genommen nichts anderes ist, als eine Kriegsentschädigung, welcher man den Charakter der Wiedergutmachung bewirkter Schäden verliehen hat und die man viel zu wenig in Betracht zieht, wenn man sich Rechenschaft geben will über die Höhe der Leistungen an seine Kriegsgegner, welche Deutschland durch den Vertrag von Versailles auferlegt worden sind.
Wenn man sich die Zahlen, welche der Finanzminister nunmehr enthüllt hat, vor Augen hält und sich die Frage vorlegt, ob die vorgesehenen Massnahmen genügen können, um das auf abschüssiger Ebene gleitende Staatsschiff noch zu retten, wird man zum mindesten ernste Zweifel hegen müssen.
Der Staatskommissar für die öffentliche Ordnung hat mich kurz nach meiner Ankunft besucht und bei diesem Anlasse die Meinung ausgesprochen, dass im Laufe dieses Winters zweifellos Putschversuche der Linksradikalen zu gewärtigen seien, die ihren Nährboden haben werden in der schlechten Ernährung und in der Kälte, aber er ist überzeugt, dass es nicht zu einem geschlossenen und namentlich nicht zu einem erfolgreichen Aufstand kommen werde.
Von anderer Seite höre ich, dass in den Kreisen der kommunistischen und unabhängigen Arbeiterschaft eine starke Revolutionsmüdigkeit Platz ergriffen habe. Diese Depression wird natürlich ganz wesentlich gefördert durch die immer deutlicher zutage tretenden Gegensätze unter den linksradikalen Parteien wegen der Frage des Beitrittes zur dritten Internationale. Dass sich aus diesen Gegensätzen eine Spaltung ergeben wird, die dazu führen muss, dass ein guter Teil der Unabhängigen zu den Kommunisten übergehen wird, scheint zweifellos. Weniger klar ist das Schicksal des rechten Flügels, der naturgemäss Anschluss suchen wird bei den Mehrheitssozialisten. Da fragt man sich, ob dieser Anschluss eine Rechtsmauserung der übertretenden Unabhängigen zur Voraussetzung haben müsste, oder ob diese Verbindung den linken Flügel der Mehrheitssozialisten derart stärken wird, dass die Gesamtpartei mehr nach links abschwenkt. Ich habe den Eindruck, dass letztere Evolution die wahrscheinlichere sei und ziehe daraus den Schluss, dass vorderhand von einem Eintritt der Mehrheitssozialisten in die Regierung nicht die Rede sein werde. [...]