Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS INTERGOUVERNEMENTALES ET LA VIE DES ETATS
II.2 ALLEMAGNE
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 300
volume linkBern 1984
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#104* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 57 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 21, Teil 1 (1920–1920) |
dodis.ch/44511
Nach Abfassung meines Berichtes vom 9./10. l.Mts.2 war ich zu Herrn Haguenin zu Tisch geladen und habe dort interessante Mitteilungen erhalten über den französischen Standpunkt. Die Art der Einladung und die Zusammensetzung der Gäste zeigte mir sofort, dass es sich darum handle, mich über den französischen Standpunkt und den Eindruck der hiesigen französischen Kreise über die Tagesfrage der Besetzung deutschen Gebietes durch die Franzosen zu orientieren. Ich war der einzige neutrale Diplomat und mit mir waren geladen: Der französische General Walch (ein geb. Elsässer), der französische Botschaftsrat – diese beiden Herren sassen rechts und links von mir –, der französische Konsul, der italienische und der belgische Geschäftsträger. Ich gebe Ihnen diese Einzelheiten, weil sie Ihnen zeigen, wie das Ganze gedacht und geplant war. Die Beiziehung des Grafen Aldrovandi könnte etwas erstaunen, wenn man nicht wüsste, dass dieser Diplomat persönlich ganz im Fahrwasser Frankreichs segelt.
Das Gespräch wurde denn auch sofort auf die zu behandelnde Frage geleitet, und dabei hatte es namentlich der französische General Walch übernommen, mich «aufzuklären». Ich gebe Ihnen nachstehend möglichst genau dasjenige wieder, was mir der General sagte und was die Diplomaten bestätigten, wobei ich bemerke, dass Aldrovandi sich kaum an der Aussprache beteiligte:
Nach Walch hat Frankreich nicht nur nicht die Absicht, weitere Gebiete Deutschlands zu besetzen oder gar zu annektieren, sondern es wünscht aufrichtig, sobald als möglich selbst mit der Abrüstung zu beginnen. «Nous en avons peut-être plus besoin que les Allemands et nous ne demandons pas mieux que de désarmer dans le plus bref délai, mais ce n’est pas à nous de commencer.» Nach der ganz bestimmten Behauptung meiner französischen Gewährsleute hat Deutschland tatsächlich noch lange nicht in dem Masse abgerüstet, in dem es nach dem Friedensvertrag hätte abrüsten müssen. «Ils nous trompent et ne nous disent pas la vérité», tönte es immer wieder aus den Worten der Herren. Als ich einwendete, dass die Mitglieder der Regierung, mit denen ich zu sprechen Gelegenheit hätte, den Eindruck machen, vom besten Willen beseelt zu sein, stimmten die Herren zu, fügten aber bei, dass die Regierung machtlos sei gegenüber der Militärpartei, die tatsächlich noch immer die Macht in Händen habe. In der Zusammensetzung des Generalstabes sei überhaupt noch nichts geändert worden, auch die meisten höheren Kommandos liegen noch in den Händen von Offizieren des alten Regime, und die Offiziere der Reichswehr seien beinahe durchweg Nationalisten, die nichts anderes träumen und hoffen als den Revanchekrieg. Diese Leute suchen die Kontrollkommissionen der Entente auf alle mögliche Weise zu hintergehen, aber es gelinge ihnen nicht, über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen, und diese Wirklichkeit bestehe eben darin, dass in Deutschland noch massenhaft Waffen und Munition versteckt seien und dass viel mehr Truppen unter den Waffen oder auf Pikett gehalten werden, als den Deutschen gestattet sei.
Solange diese Militärs am Ruder bleiben, werde es keine Ruhe geben: Deutschland soll – so meinte der französische General – uns endlich einmal zeigen, dass es wirklich und loyal den Frieden will und dass es sein möglichstes tun wird, um den Friedensvertrag von Versailles auszuführen, dann wird Frankreich viel rascher als man anzunehmen geneigt ist, sein Verhalten ändern. Weiter wurde mir gesagt, dass die Zustände im Ruhrgebiet tendenziös schlimmer geschildert werden, als sie tatsächlich seien, und dass dies nur geschehe, um der Militärpartei den Vorwand zu geben, grössere Truppenmengen dorthin zu verbringen, die ganz anderen Zwecken dienen sollen als der Wiederherstellung der Ordnung. Die Herren meinten weiter, dass die unheilvolle Tätigkeit der Militärpartei dazu führen werde, dass eines schönen Morgens die deutsche Regierung neuerdings vor einem Putsch stehe, der besser vorbereitet sein und seine Spitze sofort gegen Frankreich richten werde.
Das alles ist ja nicht neu und wird von der deutschen Regierung in allen Tonarten bestritten, aber ich habe doch geglaubt, darüber berichten zu sollen, weil mir Walch den Eindruck eines ruhigen und vernünftigen Mannes gemacht hat, von dem mir Haguenin übrigens zum voraus gesagt hatte: «C’est de beaucoup le plus raisonnable de nos militaires.» Walch versicherte mich übrigens wiederholt: Was ich Ihnen hier mitteile, entspricht meiner festen Überzeugung, die ich Ihnen unter Einsetzung meiner Offiziersehre aufrichtig geschildert habe, und diese meine Überzeugung stützt sich auf Beobachtungen und Feststellungen, die ich mit eigenen Augen gemacht habe. Zur Unterstützung seiner Ansicht zitierte er die Tatsache, dass in Ostpreussen allein mindestens drei Divisionen in voller Kriegsstärke und Ausrüstung liegen, während das zulässige Maximum des ganzen Bestandes der deutschen Armee kaum auf 6 Divisionen angenommen werden dürfe.
Der Gesamteindruck, den ich aus dieser Besprechung gewonnen habe und den ich Ihnen weitergebe, weil ich weiss, dass ich damit den Absichten entspreche, um deretwillen ich zur Besprechung geladen wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die in Berlin wirkenden französischen Offiziere und Diplomaten anerkennen den guten Willen der jetzigen Regierung, den Friedensvertrag nach Möglichkeit zu erfüllen und zu diesem Zwecke nach Massgabe der Vorschriften des Vertrages abzurüsten. Dieser gleiche ehrliche Wille besteht aber nach Ansicht der Genannten nicht bei den militärischen Stellen, von welchen die Abrüstung heute tatsächlich noch abhängt. Frankreich muss mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Stellen über kurz oder lang zu einem Schlage gegen Frankreich ausholen, und solange diese Gefahr besteht, darf keine französische Regierung um Haarbreite von den Bestimmungen des Friedensvertrages abweichen, ja, sie darf den Deutschen keinerlei Erleichterung gewähren. Deshalb war es notwendig, durch die Besetzung von Frankfurt und anderer Städte zu beweisen, dass Frankreich nicht gesonnen sei, sich die Früchte des Friedens, die hauptsächlich in einer Sicherung vor neuen Angriffen bestehen sollen, aus der Hand winden zu lassen. Das alles werde anders werden, sobald Deutschland ehrlich und ernstlich die Konsequenzen aus dem Geiste des Versailler Friedens ziehe.
Dieses Raisonnement ist ja gewiss verständlich und sogar verständig, aber es hilft nicht über den Zweifel hinweg, ob nicht der Fehler in den Prämissen stecke: Ist es wirklich wahr, dass in Deutschland noch eine Partei besteht, welche jetzt schon auf die Revanche hinarbeitet, und wenn ja, entsteht aus der Existenz einer solchen Partei eine ernsthafte Gefahr für Frankreich, welche die schwerwiegenden Massnahmen rechtfertigen konnte, die Frankreich ergriffen hat? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Franzosen, die mit mir sprachen, wirklich an diese Gefahr glauben und dass sie in gutem Glauben in diesem Sinne nach Paris berichtet haben, aber ich kann mich nicht davon überzeugen, dass diese Gefahr wirklich bestehe. Wenn man sich vor Augen hält, wie gross die Erschöpfung des deutschen Volkes und wie intensiv der Wunsch nach Ruhe und Erholung ist, so muss man sich sagen, dass die Übergrosse Mehrheit dieses Volkes schlechterdings nichts wissen will von neuen kriegerischen Abenteuern und dass namentlich die gesamte Arbeiterschaft, welche ja jetzt tatsächlich die Regierung in Deutschland führt, sich mit allen Mitteln gegen jeden Versuch einer Revanche wenden würde. Abgesehen von allem anderen fehlt es den Deutschen an Geld, Waffen und namentlich an Menschen, mit denen sie einen neuen Krieg führen könnten. Ich habe versucht, diese Zweifel in meinem Gespräche wenigstens anzudeuten; selbstredend durfte ich diesen Versuch nur in der allerschüchternsten Form unternehmen und musste vor allem die Meinung hinterlassen, dass ich keinen Zweifel setze in die Richtigkeit der mir dargelegten Tatsachen. Die Franzosen sind jetzt, was übrigens mehr als begreiflich ist, überaus empfindlich und bestrebt, sich aus der Isolierung herauszubringen, in welche sie mehr und mehr getrieben worden sind.
Ich muss übrigens beifügen, dass mir von italienischer Seite bestätigt worden ist, dass die deutschen Militärbehörden vor keinen Mitteln zurückschrecken, um die Ententekommissionen hinters Licht zu führen und dadurch die Abgabe des Kriegsmateriales zu hintertreiben.
Reichskanzler Müller, dem ich schon vor der Besprechung bei Haguenin von dem Verdachte gesprochen hatte, dass Waffen und Munition beiseite geschafft worden seien, bestritt diese Möglichkeit gar nicht, versicherte aber, dass die Regierung schon lange dabei sei, solche Verstecke ausfindig zu machen, weil sie selbst das allergrösste Interesse habe an der Aufhebung solcher Waffenlager, die gegebenenfalls den Bolschewisten dienen würden. Die Durchführung dieser Erforschung sei aber ausserordentlich schwer. Übrigens, meinte der Reichskanzler, ist es geradezu lächerlich, aus der Möglichkeit der Existenz solcher Lager auf eine Gefahr für Frankreich schliessen zu wollen: Was wollten wir auch in der Verfassung, in welcher sich unser Volk befindet, mit diesen Waffen in einem Kampfe gegen Frankreich und seine Verbündeten erreichen?
Mit der besonderen Bitte um streng vertrauliche Behandlung glaube ich angesichts des immer offenkundiger werdenden Gegensatzes zwischen Frankreich und England mitteilen zu sollen, dass nach meinen persönlichen Feststellungen dieser Gegensatz zwischen den hiesigen Vertretern der beiden Länder, insbesondere zwischen den zahlreichen militärischen Kommissionen, schon seit Wochen in sehr auffälliger Weise besteht und sich zusehends verschärft. Die Franzosen und Italiener beschweren sich in der bittersten Weise über den «brutalen Egoismus», mit welchem die Engländer die Interessen ihrer Verbündeten behandeln, sobald Englands Interesse befriedigt sei. Ein Offizier, der diesen Kommissionen angehört, hat sich einem meiner Freunde gegenüber dahin geäussert, dass der Hass der Franzosen und Italiener gegen die Engländer einen Grad erreicht habe, der ein Zusammenarbeiten beinahe nicht mehr möglich mache. Ein mir befreundeter italienischer Offizier versicherte mich gestern, dass in dem Verhalten der hiesigen Engländer gegen die Deutschen seit ungefähr drei bis vier Wochen eine vollständige Änderung eingetreten sei, welche nur durch entsprechende Weisungen aus London erklärt werden könne: Während es früher die Engländer gewesen seien, die immer mit der grössten Härte und Rücksichtslosigkeit gegen die Deutschen vorgegangen seien, sei nunmehr ein vollständiger Umschwung eingetreten, indem die Engländer bei den Beratungen in den Kommissionen immer die Partei der Deutschen ergreifen.
Da diese Erscheinung sich deckt mit den neuesten Meldungen über die Haltung der englischen Regierung gegenüber der französischen Politik im Verhältnis zu Deutschland, scheint mir darin ein Beweis dafür zu liegen, dass es sich dabei nicht um eine lokale Erscheinung, sondern um ein politisches System handelt, welches grösste Beobachtung verdient.
Tags