Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS INTERGOUVERNEMENTALES ET LA VIE DES ETATS
II.2 ALLEMAGNE
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 183
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#103* | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 20 (1919–1919) |
dodis.ch/44394
[...]2 Aus einer Besprechung mit dem hiesigen Geschäftsträger der österreichischen Republik notiere ich, dass der betreffende Herr sich sehr betrübt äusserte über die «Annexionspolitik» der Schweiz. Das Vorarlbergkönnte ja Österreich noch verschmerzen, aber die Folgen nicht, die sich daraus ergeben würden; denn es unterliege gar keinem Zweifel, dass andere Länder der Republik das Beispiel Vorarlbergs sofort befolgen, d.h. Anschluss an andere Staaten suchen würden. Ich habe natürlich darauf hingewiesen, dass diese Auffassung auf einer vollständigen Verkennung des Standpunktes der Schweiz beruhe, indem offiziell erklärt worden sei, dass die Schweiz nicht daran denke, den Anschluss des Vorarlbergs gegen den Willen von Österreich zu betreiben; es handle sich überall nur um die Lösung einer Frage, die sich erst stellen werde, sofern und sobald die Loslösung von Österreich feststehe.
Auch in deutschen Kreisen besteht der Eindruck weiter, dass die Schweiz auf dem besten Wege sei, «ihren bisherigen peinlich korrekten Standpunkt aufzugeben» und dass die Auslassungen in den offiziellen Erklärungen des Vertreters des Bundesrates eine unfreundliche Spitze gegen Deutschland und die deutsche Auslandspolitik in sich schliesse. Es scheint mir in der Tat klar, dass Deutschland eher Anlass haben kann, unangenehm berührt zu sein als Österreich; denn die Quintessenz der Erklärung geht doch dahin, dass ein Vorarlberg, das bei Österreich bleibt, für die Schweiz nach wie vor lieb Kind bleiben könne, wogegen ein mit Deutschland verbundenes Vorarlberg zu einer nationalen Gefahr für die Schweiz werden müsste. Diese Erklärung, über deren sachliche Berechtigung hier nicht wohl diskutiert werden kann, kann natürlich hier nicht gerne gehört werden. Im übrigen hoffe ich, dass die in den heutigen Morgenblättern veröffentlichte Erklärung des Bundesrates vom 6. Dezember3, die ich nur begrüssen kann, klärend und beruhigend wirken werde.
Ich übergebe Ihnen beiliegend einen Artikel über diese Frage, welchen Dr. Heiterthaler in der Vossischen Zeitung vom 5. l.Mts. veröffentlicht hat und der die Stimmung richtig wiedergibt, wie sie hier in gemässigten Kreisen herrscht.
Über die bisherige Meinung im Auswärtigen Amte orientiert wohl der heutige redaktionelle Bericht in der «Deutschen Allgemeinen Zeitung», No. 600 vom 6. Dezember. Die Tendenz dieses Artikels geht offensichtlich dahin, die Frage auf den Boden der volkswirtschaftlichen Interessenpolitik zurückzuführen und zu zeigen, dass es auch für die Schweiz nicht nur ideale und nationale Gesichtspunkte seien, die in Betracht fallen. Interessant ist an dieser Kundgebung vor allem der Schlussatz, der dahin lautet, dass «Deutschland der Frage nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen könne». Der nicht ausgesprochene Untergedanke geht offenbar dahin, dass dieser Anschluss des Vorarlberges seine natürliche Lösung finden werde mit dem Anschluss von Österreich an Deutschland. Deshalb ist man hier im Grunde genommen sachlich mit dem schweizerischen Standpunkt einig, wenn er dahin geht, dass die Frage nicht entschieden, ja nicht einmal gestellt zu werden brauche, solange die Loslösung von Österreich nicht entschieden sei.
Dass man hier immer noch sehr ernstlich mit einer späteren Angliederung von Österreich an Deutschland rechnet, konnte ich letzter Tage aus einer Unterredung entnehmen, die ich mit dem früheren deutschen Botschafter in Rom, Herrn von Flotow, hatte.
Es versteht sich von selbst, dass meine Mitarbeiter und ich bemüht sind, den hier herrschenden, zum Teil recht schiefen Ansichten entgegenzutreten. Übrigens habe ich nicht den Eindruck, dass die augenblickliche Verstimmung tief gehe und von Dauer sein werde: Der Deutsche hat jetzt ganz andere Sorgen! Und zudem hat, wie ich schon im letzten Berichte hervorhob, die Intervention des Bundesrates für die Kriegsgefangenen so viel Dank und Anerkennung ausgelöst, dass daneben die Missstimmung über die Vorarlberger Auslassungen nicht ernstlich in Betracht fällt.
Über die Bedrohlichkeit der internationalen Lage sind Sie wohl besser unterrichtet als ich. Hier scheint man auf alles gefasst und damit zu rechnen, dass im Falle eines Bruches die Franzosen und Engländer weiter einmarschieren und wirtschaftliche Zwangsmassnahmen ergreifen werden. Man sieht auch mehr und mehr ein, dass die Vereinigten Staaten sich desinteressieren werden, sodass von jener Seite keine Hilfe für Deutschland zu erwarten ist. Nichtsdestoweniger geht, so viel ich beobachten kann, hier die Stimmung noch überwiegend dahin, dass Deutschland die zweite, wesentlich verschlimmerte Auflage des Friedensvertrages, die ihr jetzt zugemutet wird, nicht unterzeichnen könne. Die Regierung bemüht sich redlich, Öl aufs Wasser zu giessen, um die Stimmung zu beruhigen, aber bisher scheint mir der Erfolg ausgeblieben zu sein. Ich nehme an, dass im Falle der Unmöglichkeit, eine Formel der Verständigung mit Herrn Clemenceau zu finden, die Regierung die Nationalversammlung zu Rate ziehen wird. Dort wird der Entscheid wiederum vom Zentrum abhängen, dessen Presse bisher nicht im Sinne des Nachgebens geschrieben hat. Lehnt die Nationalversammlung ab, dann wird eine Regierungskrise eintreten und es kann kein Sterblicher voraussehen, was dann werden wird: Eine Diktatur des Proletariats oder eine solche der Reaktion – unter allen Umständen ein grosses Beben!
Und das Ende vom Liede wird eine weitere Demütigung und Entkräftung des deutschen Volkes und wohl auch ein Umsichgreifen des Bolschewismus sein. Dass man dies in Paris nicht einsieht, wird mir je länger je bedauerlicher und wäre mir ganz unverständlich, wenn ich nicht aus Kreisen der hiesigen französischen Militärmission wüsste, wie verkehrt man dort die Lage in Deutschland beurteilt und wie unrichtig man dieselbe in Paris schildert. Ein Offizier dieser Mission hat sich dahin ausgesprochen, die Monarchie und Reaktion stehen in Deutschland unmittelbar vor der Türe, die Sozialdemokratie liege am Boden, die Unabhängigen seien zur Ohnmacht gebracht und der Militarismus blühe mehr denn je. Bis zum 1. April werde Deutschland über eine «kampfbereite» (!) Armee von mindestens anderthalb Millionen Kriegern verfügen! Man denke: Eine kampfbereite Armee in einem wirtschaftlich bankrotten Lande, das keine Kanonen, keine Munition und keine disziplinierten Truppen mehr hat und dessen Lebenshaltung von Tag zu Tag schwieriger wird!
In Paris scheint man aber an diese Mär zu glauben oder besser gesagt, glauben zu wollen, um den Vorwand zu erhalten für weiteres Eingreifen.
Die Meldungen der hiesigen französischen Mission lassen sich – abgesehen von ihrer Tendenz – nur dadurch erklären, dass diese Herren ihr Wissen und Urteil wesentlich aus der Lektüre der unabhängigen Presse schöpfen. Dort wird natürlich die Reaktion als unmittelbar bevorstehend geschildert, um den Leuten das Gruseln beizubringen, und dort wird auch die Behauptung von dem wiederkehrenden Militarismus Tag für Tag den Lesern serviert, weil es den Unabhängigen vor allem darum zu tun ist, die Reichswehr und die Polizeitruppen unmöglich zu machen. Solange diese Truppen bestehen und sich weiter im Sinne der Ordnung und Disziplin entwickeln, ist an ein Aufkommen des Bolschewismus nicht zu denken. Deshalb gilt der Kampf der Unabhängigen den sog. militärischen Organisationen und als Mittel zu diesem Zwecke bedienen sich jene skrupellosen Politiker der hiesigen französischen Mission! [...]4
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The Vorarlberg question (1919)