Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS INTERGOUVERNEMENTALES ET LA VIE DES ETATS
II.3 Autriche
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 142
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#1245* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 521 | |
Dossier title | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 34 (1919–1919) |
dodis.ch/44353
Beiliegend finden Sie einen kleinen Artikel des «Neuen 8 Uhr Blattes» vom 7. November, welcher, anlässlich der Anerkennung der Republik Österreich durch Schweden und Dänemark, unverhohlen den hier in massgebenden Kreisen darüber herrschenden Missmut zum Ausdruck bringt, dass die Schweiz sich noch nicht bewogen gefühlt hat, ein gleiches zu tun. Die erwähnte Abendzeitung ist keineswegs sozialistisch gesinnt, sondern gehört zur Gruppe des «Neuen Wiener Tageblattes», welches unter dem Einflüsse Sigharts, des früheren Freundes des ermordeten Grafen Stürghk, steht und eine gemässigte opportunistische Politik verfolgt. Der Artikel gibt aber eine Stimmung wieder, die auch in Regierungskreisen ganz entschieden herrscht. Man ist über die Haltung der Schweiz verstimmt, darüber darf man sich keinen Illusionen hingeben; ich habe die Sache auch kommen sehen und Ihnen seit Monaten in diesem Sinne berichtet. Bei Staatskanzler Renner und ändern massgebenden Persönlichkeiten trägt namentlich die Vorarlberger Geschichte dazu bei, eine gewisse Nervosität hervorzurufen. Der Artikel des’8 Uhr Blattes’ hat auch in hiesigen diplomatischen Kreisen Aufsehen erregt. Von meinem niederländischen Kollegen hörte ich, dass seine Regierung demnächst den neuen österreichischen Staat anerkennen werde, da, wenn auch die Möglichkeit einer monarchischen Restauration nicht ganz ausgeschlossen sei, eine solche doch in ziemlicher Ferne liegen möchte.
BaronFlotow, der Leiter des liquidierenden Ministeriums des Äussern, ist einer meiner persönlichen Freunde, im Herzen Monarchist und gar kein Anhänger der jetzigen Regierung, wenn er auch absolut korrekte Beziehungen zu ihr unterhält. Er besuchte mich gestern, und die Rede fiel auch auf den Artikel des’8 Uhr Blattes’. Flotow konnte mir nun aus eigenen Wahrnehmungen bestätigen, dass man im deutsch-österreichischen Staatsamte des Äussern sich der Schweiz gegenüber in etwas gereizter Stimmung befinde. Vor ungefähr einem halben Jahre habe die Schweiz infolge ihrer Hilfsaktion und ihres ganzen Verhaltens Österreich gegenüber in Wien eine Ausnahmsstellung gehabt wie selten ein Staat einem ändern gegenüber; die Lage habe sich aber in der Zwischenzeit etwas verändert, worüber ich mir wahrscheinlich auch schon Rechenschaft gegeben haben werde, was in der Tat stimmt.
Seit meinem letzten Besuche bei Staatskanzler Renner, worüber ich Ihnen ausführlich berichtete,2 kann ich zwar das Bestreben feststellen, den von mir vorgebrachten Klagen bis zu einem gewissen Grade gerecht zu werden. Unsere grossen Forderungen aus dem Zuckerabkommen vom Jahre 1917 sind auf dem Wege, wenigstens gesichert zu werden, und unsere Reklamationen wegen Kriegsschäden, Vermögensabgabe, Steuerflucht, Sperre und ähnl. werden einer eingehenden Prüfung unterworfen, doch, wie gesagt, eine gewisse Gereiztheit ist nicht zu verkennen.
Wollen wir die Anerkennung der österreichischen Republik so lange hinausschieben bis wir nicht mehr anders können, ohne dass unser Verhalten als ein unfreundlicher Akt angesehen werden muss, so müssen wir mit unserer Zurückhaltung bestimmte erreichbare Ziele verfolgen, die das Aufgeben unserer Vorzugsstellung rechtfertigen. Was nun unsere finanziellen und steuerpolitischen Begehren anbetrifft, so liegt deren Erfüllung nicht einzig und allein in der Macht der hiesigen Regierung, sondern sie sind teilweise durch die Verhältnisse im allgemeinen, durch die Folgen des Friedensvertrages und durch die nach allen Seiten hin sich ausbreitende Misere bedingt; bösen Willen hier zu suchen ginge, glaube ich, zu weit. – Bleibt die Vorarlberger Frage. Ich fühle wohl, dass Sie sich davor scheuen, durch die Anerkennung der österreichischen Republik sich auch mit den Grenzen des Landes, wie sie im Friedensvertrag von St. Germain festgelegt sind, einverstanden zu erklären. Es fragt sich nun aber, ob wir durch unsere Zurückhaltung irgend einen Einfluss auf die Gestaltung dieser Grenzen ausüben können, namentlich seitdem die Vorarlberger Vertreter in der Nationalversammlung, teilweise wohl unter dem Drucke des mächtigen Bauernvertreters und Vize-Kanzlers Jodok Fink, sowohl die Unterzeichnung als die Ratifikation des Friedensvertrages gutgeheissen haben. Etwas anderes als das, von Staatskanzler Renner mir gegenüber zugesagte,3 Unterbreiten der Vorarlberger Frage dem Völkerbunde scheint mir kaum erreichbar, es sei denn, dass Ihre Informationen aus dem Vorarlberg selbst irgend ein anderes Vorgehen von Seiten der Einwohner dieses Landes zu erwarten berechtigen. War es Ihre Absicht, dem hiesigen Staate gegenüber eine gewisse Verstimmung zu markieren, so ist der Zweck offenbar schon erreicht; weiter zu insistieren, wäre, meiner Ansicht nach, unvorsichtig und könnte uns nichts nützen.
Über die herrschende Kohlen-, Lebensmittel- und Rohstoff-Misere und die Bestrebungen der Entente, derselben abzuhelfen, sind Sie durch die Tagesblätter reichlich informiert; leider beschäftigt sich die Regierung und namentlich deren sozialistischer Flügel allzuviel mit ändern, meist parteipolitischen Fragen, die bei der schrecklichen Lage des Landes ganz in den Hintergrund treten sollten.
Wie ich denn auch von sehr gut unterrichteter Seite höre, ist die Verstimmung gegen die Sozialdemokraten nicht nur in den Ländern, [sondern selbst in Wien stets im Wachsen begriffen, und sie würden, wie mir versichert wird, wenn heute Wahlen stattfinden sollten, einfach weggefegt. Ein Führer der Christlichsozialen erzählte mir, was nicht publik wurde, dass bei den Verhandlungen für die kürzliche Erneuerung des Koalitionspaktes zwischen Sozialisten und Christlichsozialen die Vertreter der letzteren nur mit einer Stimme Mehrheit diese Erneuerung gutgeheissen haben. Die Christlichsozialen, fügte er bei, warten nur auf eine günstige Gelegenheit, um sich, wie sie es schon im Wiener Gemeinderat getan haben, mit Eclat zurückzuziehen und den Sozialisten allein die Verantwortung für die herrschende Misswirtschaft zu überlassen. Die Sozialisten fühlen sich keineswegs wohl und proklamieren daher immer wieder, wie auch Renner kürzlich mir gegenüber, ihre Verdienste an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung; sie sind aber ihrer Macht nicht mehr sicher und wittern namentlich überall monarchistische Intrigen. Was nun die monarchistischen Tendenzen anbetrifft, so sind sie in manchen Kreisen entschieden vorhanden, doch denkt, glaube ich, und wie mir auch in diesen Kreisen ganz bestimmt versichert wird, niemand, am allerwenigsten Kaiser Karl und die Mitglieder der Kaiserlichen Familie, an einen Putsch, der eine Restauration herbeiführen könnte; wie ich es schon oft betont habe, liegt in dieser Richtung die Hauptgefahr in den Folgen einer allfälligen Restauration in Ungarn, welche, namentlich wenn die Abtretung des deutschen Westungarns erzwungen werden wollte, zu einer militärischen Aktion führen könnte. Wie ich höre, sind die Westungarn deutschen Stammes fest entschlossen, ihre deutsche Kultur und Sprache unter allen Umständen zu wahren, aber innerhalb des ungarischen Staates, und soll ihnen gar nicht einfallen, den Anschluss an das verlotterte Österreich und namentlich an das jüdische sozialistische Wien zu suchen. Die Ungarn ihrerseits sollen nicht daran denken, Westungarn freiwillig herzugeben und die, wie mir von einem französischen Offizier versichert wird, militärisch sehr hochstehende weisse Armee des Admirals Horthy würde mit Leichtigkeit die undisziplinierte, kommunistisch angehauchte österreichische Volkswehr überwinden. Renner soll letztere angefragt haben, ob sie eventuell gegen Horthy in Westungarn kämpfen würde und eine zusagende Antwort erhalten haben; aber eine Armee, die man zuerst anfragen muss, ob sie gegebenenfalls an die Front marschieren würde, bietet wohl keine grosse Sicherheit.
Im übrigen höre ich, auch von monarchistischer Seite, dass die Bauern wohl antisozialistisch gesinnt und gegen Wien eingenommen sind, eine Restauration der Monarchie erstreben sie dagegen, vielleicht mit Ausnahme Tirols, nicht. Charakteristisch ist folgender Vorfall: die Leiter der Christlichsozialen Partei hatten als Gesandten beim Vatikan (die Bezeichnung war ihrer Partei zugesagt worden) den Karriere-Diplomaten Baron Kahlenberg bezeichnet. Diese Wahl wurde aber von der Parteiversammlung nicht ratifiziert, sondern es wurde als Vertreter beim Papst Dr. Funder, Chefredaktor der «Reichspost», auserkoren, weil man findet, er vertrete in diesem Hauptorgan der Partei zu stark monarchistisch angehauchte Ansichten. Der unter einem Monarchen wohl kaum zu einem für Österreich so wichtigen Gesandtenposten berufen würde, [! so glaubt man ihn vielleicht zugleich auch auf diese Weise für die Republik, die sein Brotherr würde, zu gewinnen.
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