Classement thématique série 1848–1945:
XII. MOUVEMENTS SOCIALISTES, RÉVOLUTIONNAIRES ET CONTRE-RÉVOLUTIONNAIRES
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 110
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.56-06#1000/645#5* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.56-06(-)1000/645 1 | |
Dossier title | Faszikel: angeblicher "Bündnisvertrag" zwischen dem Schweizerischen und deutschen Generalstab 1919 (1919–1919) |
dodis.ch/44321 VERTRAULICHE AUFZEICHNUNGEN FÜR HERRN MINISTER ALFRED VON PLANTA, SCHWEIZERISCHEM GESANDTEN IN DEUTSCHLAND, ÜBER EINE UNTERREDUNG MIT KARL MOOR
Gestern hatte ich eine längere Unterredung mit dem bernischen Stadtrat Karl Moor, der, wie Sie wissen, sich seit Monaten in Berlin aufhält.
Zur Aufklärung über die nachstehenden Ausführungen muss ich vorausschicken, dass ich zu Moor in einem gewissen Vertrauensverhältnis stehe, das noch aus meiner Studentenzeit in Bern herrührt. Moor war mir gegenüber von jeher sehr mitteilsam, ihm verdanke ich auch die früheren Mitteilungen über Radek, die wir im Sommer 1919 an die Abteilung für Auswärtiges weitergeleitet haben.2 Schon damals haben wir das politische Departement, auf meine Veranlassung hin, auf das seltsame Treiben Moors aufmerksam gemacht.
Ich fühle das Bedürfnis, Ihnen von der gestrigen, vertraulichen Unterredung Kenntnis zu geben, wobei es mir begreiflich ausserordentlich peinlich wäre, wenn Moor erführe, dass die Rolle, die er hier spielt, durch mich aufgedeckt wurde, und ich bitte Sie, bei der weiteren Behandlung dieser Angelegenheit um schonendste Diskretion.
Bezugnehmend auf die im Sommer d.J. mit der Abteilung für Auswärtiges über Radek ausgetauschte Korrespondenz darf nach Aussage Moors mit Sicherheit angenommen werden, dass Radek, der in seiner Gefängniszelle die weitesten Freiheiten geniesst, auch heute noch das geistige Haupt der bolschewistischen Bewegung in Deutschland ist und dass er trotz seiner angeblichen Weltabgeschlossenheit als Hauptvermittler zwischen Moskau und Berlin in Betracht kommt. Radek hat die Möglichkeit, sämtliche von ihm gewünschten Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, und dem schriftlichen Verkehr mit der Aussenwelt scheinen keine allzugrossen Hindernisse in den Weg gelegt zu werden. Moor ist im Besitze einer Ermächtigung, Radek zweimal in der Woche ohne Gegenwart eines dritten im Gefängnis zu besuchen. Ich habe schon früher darauf hingewiesen, wie vortrefflich Moor es versteht, sich bei den führenden Leuten aller Parteien Eingang zu verschaffen. Die Freundschaft mit Radek beruht auf dem Umstand, dass Radek unseren Landsmann während der russischen Revolution aus einem Gefängnis befreite, in das er angeblich wegen eines Missverständnisses geraten war.
Es steht für mich ausser Zweifel, dass Moor von Radek alle diejenigen Aufträge erhält, die er einer allfälligen Gefängniszensur vorenthalten möchte. Dass verkappte Kuriere von Berlin nach Moskau und von Moskau nach Deutschland fahren, gab Moor unverhohlen zu.
Moor ist in Begleitung einer Frau von Weber und deren beider Kinder im Frühjahr aus Russland hierher gekommen, nachdem er sich längere Zeit in Stockholm aufgehalten hatte. Er wohnt zurzeit im Hotel Esplanade in Berlin.
Frau von Weber ist Russin. Moor gibt an, ihren Mann, der russischer Marineoffizier war, und der zurzeit in Petersburg lebt, aus dem Gefängnis befreit zu haben. Frau von Weber soll mit ihrem Gatten angeblich in den besten Beziehungen stehen, und Moor sagte, er habe erst gestern Korrespondenzen von ihr durch Vermittlung von Lenin nach Petersburg gesandt. Frau von Weber dürfte in gewisser Beziehung die Funktionen einer Privatsekretärin Moors ausüben. Auf jeden Fall besorgt sie Moor seine ganze russische Korrespondenz. Sie ist eine sehr stattliche Erscheinung und verfügt über auffälligen Schmuck. Es ist kaum anzunehmen, dass Moor den sehr kostspieligen, seit Monaten dauernden Aufenthalt im Hotel Esplanade aus eigener Tasche bezahlt, obschon er, den ich in Bern noch als armen Schlucker kannte, heute auch über beträchtliches, persönliches Vermögen, das ihm zum Teil aus Erbschaft von seiner illegitimen Mutter in Nürnberg zufiel, verfügt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang bemerken, dass Frau von Weber für sich und ihre Kinder ein von Herrn Minister Odier seinerzeit ausgestelltes Einreisevisum nach der Schweiz besitzt und, nach Aussage von Moor, demnächst davon Gebrauch machen möchte. Auch Moor will in der nächsten Zeit nach der Schweiz zurückkehren.
Auch mit den übrigen führenden politischen Persönlichkeiten der russischen Sowjetrepublik steht Moor in persönlichem Kontakt. Er wies mir authentische Briefe von Lenin, Karachan und Tschitscherin vor, in deren nächster Umgebung er ja die russische Revolution mitmachte.
Es steht für mich ausser Zweifel, dass Moor ein politischer Agent der russischen Sowjetregierung ist, und dass Radek durch ihn in steter Fühlung mit Moskau lebt, wobei ich es dahingestellt lassen möchte, ob Moor für seine Vermittlerdienste bezahlt wird oder ob er diese Rolle aus politischem Ehrgeiz oder aus politischer Überzeugung spielt.