Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS INTERGOUVERNEMENTALES ET LA VIE DES ETATS
II.2 ALLEMAGNE
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 102
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#103* | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 20 (1919–1919) |
dodis.ch/44313
Wie ich unter dem 5. laufenden Monats telegraphisch2 berichtete, habe ich an jenem Tage mein Beglaubigungsschreiben dem Herrn Reichspräsidenten Ebert übergeben und erlaube mir nachstehend, über den Verlauf dieses Aktes kurz Bericht zu erstatten.
Der Reichspräsident war begleitet vom Minister des Auswärtigen und zwei höheren Beamten des Auswärtigen Amtes (Tenue: Gehrock). Den Wortlaut der kurzen Ansprache, die ich bei diesem Anlass an den Reichspräsidenten richtete, habe ich Ihnen schon zur Kenntnis gebracht.3 Herr Ebert antwortete in sehr einfachen und herzlichen Worten, indem er einleitend bemerkte, dass er und die deutsche Reichsregierung sich ganz besonders darüber freuen, dass der Bundesrat gerade mir den Posten in Berlin anvertraut habe; die Regierung erblicke darin auch ein Zeichen der Achtung und des Vertrauens gegenüber dem Deutschen Reiche, für welches sie sehr empfänglich sei. Ich gebe diese Erklärung hier wieder, weil der Reichspräsident mich ausdrücklich darum gebeten hat und weil ich zu wissen glaube, dass in Kreisen des Bundesrates Zweifel darüber bestanden haben, ob ich auch der jetzigen mehr oder weniger sozialistischen Reichsleitung ganz genehm sein werde.
Im weiteren versicherte Herr Ebert, dass er und die Regierung ganz besonders Gewicht darauf legen, mit der schweizerischen Republik in gutem Einvernehmen zu leben und dass er tun werde, was in seiner Macht liege, um dieser Gesinnung jeweilen Ausdruck zu verleihen. Er erklärte im besonderen, die von mir ausgesprochene Ansicht zu teilen, dass die beiden Länder und Völker sich durch die politische Umwälzung in Deutschland innerlich näher gekommen seien und sprach die Hoffnung aus, dass diese Annäherung sich auch im Verkehr von Regierung zu Regierung erkennen lassen werde.
Als ich im weiteren Verlaufe unseres Gesprächs die Bitte aussprach, in wichtigeren Fragen an den Präsidenten persönlich gelangen zu dürfen, antwortete er: «Ich bitte sogar darum und versichere Sie zum voraus, dass Sie bei mir nie verschlossene Türen finden werden.»
Nach Erledigung dieses offiziellen Teiles der Übergabe meines Beglaubigungsschreibens lud mich Herr Ebert ein, Platz zu nehmen und unterhielt sich im Beisein seiner drei Begleiter längere Zeit mit mir über die politischen Zustände in der Schweiz und in Deutschland. Unter anderem hob er die grossen Dienste hervor, welche die Schweiz der Welt und Deutschland während des Krieges geleistet habe und fügte bei: «Wir werden wohl in naher Zeit neuerdings an die Freundlichkeit der Schweiz appellieren müssen, wenn es sich darum handeln wird, unsere Kriegsgefangenen aus Frankreich zurückzubefördern; diese Transporte werden wohl zu einem guten Teil durch die Schweiz geleitet werden müssen.»
Der Reichspräsident und der Minister des Auswärtigen sprachen mir dann mit grossem Interesse und viel Sachkenntnis von den politischen Zuständen in der Schweiz und den bevorstehenden Wahlen in den Nationalrat, welche für Deutschland besonderes Interesse hätten im Hinblicke auf den Kampf gegen die extremen Elemente.
Auf meine Frage nach den Verhältnissen in Deutschland antwortete Herr Ebert mit der Erklärung, dass nach allen Beobachtungen, welche in der letzten Zeit gemacht worden seien, unter dem grössten Teil der deutschen Arbeiterschaft sich wieder der entschiedene Wille und die körperliche Fähigkeit zeige, zur Arbeit zurückzukehren. Solche Berichte kommen nicht nur aus Kreisen der Arbeiterschaft selbst, sondern sie werden bestätigt durch die Arbeitgeber. So habe sich die Kohlenförderung in den meisten Gruben seit einigen Wochen ganz wesentlich gehoben und erreiche vielenorts beinahe die Friedensproduktion. Dieser wiederkehrende Arbeitswille hänge wesentlich damit zusammen, dass sich die Ernährungsverhältnisse gebessert hätten und die Leute wieder zu normalerem Denken gelangt seien. Freilich sei nicht daran zu denken, die Ausfälle einzudecken, welche die Folgen der vielen Streiks und der ungenügenden Arbeitsleistungen seien. In diesem Manko liege die grosse Gefahr der Lage, welche sich voraussichtlich in der zweiten Hälfte des Winters geltend machen werde. Die Regierung hoffe aber bestimmt, auch diese Schwierigkeiten überwinden zu können.
Sehr interessant war mir die Mitteilung, dass die Erfahrungen, welche mit der Rückkehr zum System der Accordarbeit gemacht worden, durchaus «ermutigend» seien. Als ich einwendete, dass doch die Accordarbeit gerade seitens der Arbeiter bisher immer perhorresciert worden sei, bemerkte Ebert lächelnd: «Die Verhältnisse des Lebens schreiten eben oft über die Grundsätze hinweg». Er fügte übrigens bei, dass die Accordarbeit namentlich deshalb verpönt gewesen sei, weil man sie unrichtig gehandhabt habe. In den deutschen Staatswerkstätten gelange nun allgemein ein System zur Anwendung, das sich ausserordentlich bewährt habe. Bei Eingang eines Arbeitsauftrages werde durch eine unparteiische Dreierkommission (ein Vertreter der Staatsverwaltung, einer der Arbeiter und ein unparteiischer Fachmann) die mutmassliche Dauer der Arbeit eingeschätzt und es werde dem Arbeiter oder der Arbeitergruppe der Mindestlohn, der dieser Arbeitszeit entspricht, zugesichert. Die Folge sei die, dass in den allermeisten Fällen die Arbeit in viel kürzerer Zeit geleistet werde und zwar zeige es sich dabei, dass die Arbeiter sich keineswegs an den Achtstundentag halten. Diese Mitteilung im Munde eines Vertreters der Sozialdemokratie ist nicht ohne Interesse.
Von einem Vertreter der Unabhängigen in der Nationalversammlung habe ich heute einige recht interessante Einzelheiten gehört über die Organisation und die Tätigkeit des aus 28 Mitgliedern bestehenden parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die Kriegsursachen.
Der Abgeordnete Dr. Cohn, Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen, berichtete mir, dass diese Kommission sich in vier Unterabteilungen geteilt habe, welchen folgende Fragen zu selbständiger Prüfung gestellt seien:
1. Kriegsursachen, behandelt zunächst nach den Akten aus der Zeit zwischen dem 28. Juni und 3. August 1914.
2. Friedensmöglichkeiten; Prüfung der Frage, ob und wann während des Krieges Gelegenheiten zu einem Friedensschluss Vorgelegen seien und wie diese Möglichkeiten seitens der Regierung behandelt worden seien.
3. Militärische Massnahmen und Fehler, welche gegenüber dem Feind begangen worden seien. Es handelt sich dabei nicht um die Frage der militärischen Führung, sondern um Massnahmen der Militärbehörden gegenüber dem feindlichen Lande und dessen Bewohnern: Verwüstungen, Deportationen und dergleichen.
4. Wirtschaftliche Massnahmen unter gleichem Gesichtspunkt behandelt.
Die Verhandlungen sollen ganz öffentlich und kontradiktorisch sein. Es ist in Aussicht genommen, alle Personen, die bei dem Drama eine Rolle gespielt haben, öffentlich einzuvernehmen und zu konfrontieren.
Dr. Cohn sagte mir, dass die Dokumente, welche den Kommissionen jetzt schon vorliegen und um deren Veröffentlichung es sich handle, gegen 900 Nummern umfassen.
Allem nach besteht die Absicht, diese Untersuchung auf breitester Grundlage durchzuführen und das gesamte Ergebnis der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die Möglichkeiten, welche sich aus dieser Untersuchung ergeben werden, beherrschen natürlich die politische Diskussion. Neutrale Diplomaten, die vor und während des Krieges hier tätig waren, sprachen mir übereinstimmend die Ansicht aus, dass die Leitung der deutschen Politik vor dem Kriege wohl sehr schwach und kurzsichtig gewesen sei, dass aber niemand unter den massgebenden Personen den allgemeinen Krieg gewollt habe. Niemand habe geglaubt, dass Russland sich für Serbien einsetzen werde, und noch weniger habe man angenommen, dass England sich mit Russland solidarisieren werde; deshalb habe man Österreich freie Hand gelassen. Ähnlich urteilt auch Fürst Bülow, der mich letzter Tage aufsuchte, dessen Urteil aber in dieser Frage natürlich nicht als objektiv gelten kann, denn es klingt aus jedem seiner Worte der Unwille darüber, dass man ihn in den kritischen Zeiten nicht einmal um seine Meinung gefragt habe: «Wäre damals ein Kronrat abgehalten worden, an welchem auch nicht aktive Minister zu Wort gekommen wären, so würde die Zustimmung Deutschlands zum Ultimatum an Serbien niemals erteilt worden sein.» Ich erinnerte den Fürsten an die Bemerkung, die mir einmal in Rom ein englischer Diplomat (Graf Salis) gemacht hätte: «Wäre Eduard VII. noch am Leben und Bülow noch im Amte gewesen, so würde der Krieg niemals ausgebrochen sein.» Bülow stimmte natürlich dieser Auffassung bei und zeigte mir an Hand mehrerer praktischer Beispiele, wie sehr Eduard seiner Abneigung gegen Wilhelm freien Lauf gelassen und die Einkreisung Deutschlands betrieben, aber stets ängstlich darüber gewacht habe, den casus belli zu vermeiden.
Sehr interessant waren mir die Äusserungen des Fürsten über die Stellung Italiens bei Kriegsausbruch. Er versicherte, dass Italien nicht nur ahnungslos gelassen worden sei über das Vorgehen gegen Serbien, sondern dass man ihm durchaus bestritten habe, dass etwas beabsichtigt sei. Der Artikel 6 des Dreibundes habe Italien ein Recht gegeben, Kompensationen zu verlangen, und es sei eine der grössten Ungerechtigkeiten der deutschen Politik, dass man die Haltung Italiens als Verrat bezeichnet habe.