Classement thématique série 1848–1945:
XII. LA QUESTION DU VORALBERG
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 464
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001B#1000/1501#3076* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(B)1000/1501 82 | |
Dossier title | Friedenskonferenz (1919–1920) | |
File reference archive | B.56.221.05 |
dodis.ch/44209 Le Chef du Département politique, F. Calonder, au Conseil national1
Die Interpellation Gelpke2 über das Vorarlberg ist schon seit längerer Zeit hängig, infolgedessen konnte ich mich dem von Ihrem Herrn Präsidenten und vom Interpellanten lebhaft geäusserten Wunsch, die Angelegenheit heute zur Sprache zu bringen, nicht widersetzen. Ich habe aber sofort unserm Herrn Präsidenten wie auch dem Herrn Interpellanten erklärt, dass ich leider nicht in der Lage sei, auf die Angelegenheit selbst einzutreten. Die Frage ist nicht spruchreif. Der Bundesrat hat hiezu nicht Stellung genommen. Unter diesen Umständen muss ich mich heute darauf beschränken, Ihnen ganz kurz den bisherigen Verlauf der Angelegenheit zu skizzieren und Ihnen auseinanderzusetzen, wie der Bundesrat weiterhin vorzugehen gedenkt und von welchen Gesichtspunkten er sich dabei hauptsächlich leiten lässt.
Als eine Delegation des Vorarlbergervolkes das erste Mal nach Bern kam, um über diese Angelegenheit mit dem Bundesrate Rücksprache zu nehmen, war der Vorsteher des Politischen Departementes abwesend. Deshalb konnte sie nicht empfangen werden. Der Bundesrat wollte aber auch rein äusserlich nichts in dieser Frage unternehmen, ohne sie vorher einer vorläufigen Besprechung unter Mitwirkung des Vorstehers des Politischen Departementes unterzogen zu haben. Es lag mir daran, dies hier festzustellen, um jedes Missverständnis zu zerstreuen.
Später habe ich im Auftrag des Bundesrates den Delegierten des Vorarlberg, Herrn Landeshauptmann Ender, empfangen. Er setzte mir auseinander, in welcher Lage sich sein Land befinde und wie lebhaft der Wunsch des Vorarlbergervolkes sei, in die schweizerische Familie aufgenommen zu werden. Im Namen des Bundesrates habe ich ihm geantwortet, dass, wenn eine überwiegende Mehrheit des Vorarlbergervolkes sich für den Anschluss an die Schweiz ausspreche, der Bundesrat bereit sei, die Frage einer Prüfung zu unterwerfen. Kurz darauf wurde uns dann von Seite der Regierung des Vorarlbergs mitgeteilt, dass über 80% der stimmfähigen Bürger in einer öffentlichen Abstimmung sich für den Anschluss an die Schweiz ausgesprochen haben.
Selbstverständlich kann der Bundesrat auf eine Prüfung dieser Sache nur unter der Voraussetzung eintreten, dass das Selbstbestimmungsrecht des Vorarlbergervolkes in bestimmter, klarer, vorbehaltloser Weise anerkannt werde seitens Deutsch-Österreichs, zu dem es heute formell gehört, und seitens der Pariser Konferenz. Wir bezweifeln nicht, dass dieses Selbstbestimmungsrecht eines braven, tüchtigen Volkes, das über sein eigenes Schicksal bestimmen will, anerkannt werde. Aber es sind darüber im Anschluss an die Verhandlungen der Pariser Konferenz betr. Deutsch-Österreich in der Presse Zweifel geäussert worden. Das hat uns veranlasst, der Regierung von Vorarlberg mitzuteilen, dass in erster Linie diese Frage des Selbstbestimmungsrechtes abgeklärt werden müsse, bevor der Bundesrat sich weiter mit der Angelegenheit befasse?
Es ist nun Sache des Vorarlbergervolkes selbst, diese Frage an die Hand zu nehmen und sein Recht zu vertreten und zu verteidigen. Es muss schon in diesem Augenblick beweisen, dass es demokratisch veranlagt und imstande ist, sich für seine höchsten Güter zu wehren. Ich nehme, wie gesagt, an, dass sowohl Deutsch-Österreich als auch die Pariser Konferenz das Selbstbestimmungsrecht Vorarlbergs klar und deutlich und vorbehaltlos anerkennen werden. Und das Vorarlbergervolk wird, so nehme ich an, erhobenen Hauptes für dieses sein Recht eintreten. Wenn man ein gutes, unzweifelhaftes Recht vertritt, demütigt man sich unter keinen Umständen; derjenige demütigt sich aber vor sich selbst und in der allgemeinen Achtung, der ein klares, unbestreitbares Recht nicht anerkennt.
Möge sich nun aber diese Angelegenheit betreffend Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes des Vorarlbergs so oder anders gestalten, der schweizerische Standpunkt ist klar: Wir können unsere internationale Politik unter keinen Umständen mit irgend einer Verwicklung, mit irgend einer ungelösten Frage, mit irgend einem unabgeklärten Punkte belasten, und wäre es auch zugunsten des Vorarlbergs. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass, bevor wir auf diese ganze Angelegenheit eintreten, in internationaler Hinsicht vollständige Klarheit geschaffen werden muss. Wir wollen anlässlich der Lösung dieser Frage unter keinen Umständen irgendwelche internationalen Verwicklungen mit in den Kauf nehmen. Das wird jedermann begreifen, das werden auch die Vorarlberger als selbstverständlich betrachten.
Herr Nationalrat Gelpke hat heute einen sehr wertvollen Beitrag gegeben zum Studium der Vorarlbergfrage. Es ist selbstverständlich, dass der Verkehrspolitiker, der Wirtschafter Gelpke, namentlich die wirtschaftlichen Verhältnisse ins Auge fasst und er hat Ihnen ja dargetan, dass in wirtschaftlicher Hinsicht sehr vieles für den Anschluss spricht. Leider ist Herr Nationalrat Schwendener, der ebenfalls eine Interpellation betr. das Vorarlberg eingereicht hat3, heute nicht anwesend. Er hätte vielleicht einen gegenteiligen Standpunkt auseinandergesetzt. Damit beide Anschauungen, sowohl diejenigen des Herrn Gelpke als diejenige des Herrn Schwendener zur Geltung gelangen, werde ich Herrn Schwendener bitten, seine Ansicht schriftlich dem Politischen Departement zuhanden des Bundesrates einzureichen.
So sehr ich nun anerkenne, dass namentlich auch die wirtschaftlichen Fragen in dieser grossen Angelegenheit von Bedeutung sind, so sehr ich anerkenne, dass alle Faktoren, namentlich auch solche ökonomischer Natur, gründlich studiert werden müssen, bevor der Bundesrat Stellung nimmt, so erlaube ich mir doch schon in diesem Stadium der Angelegenheit meiner Auffassung Ausdruck zu geben, wonach es sich hier vor allem um eine grosse, politische Frage handelt.
Gestatten Sie, dass ich einige Gesichtspunkte politischer Natur zur Diskussion stelle. Es muss vor allem vollständige Klarheit darüber herrschen, dass der Anschluss des Vorarlbergs an die Schweiz für den Fall, dass wir uns dafür entschliessen, nie irgendwie zum Ausgangspunkt von Kompensationsfragen werden darf. Unsere Schweiz verfügt über ein kleines Gebiet. Es ist nach und nach, im Laufe der Geschichte so geworden, wie es heute daliegt. Wir können sagen, dass wir dieses Gebiet gut und gerecht, nach bestem Wissen und Gewissen verwaltet haben. Wir können bestehen vor dem Urteil der Gegenwart und vor dem Urteil künftiger Geschlechter. Deshalb werden wir unter keiner Begründung und in gar keinem Falle irgend etwas von demjenigen Gebiete, das wir von unsern Vätern ererbt haben, abtreten. Ich weiss, dass ich Ihnen allen aus dem Herzen spreche, indem ich dies hier mit der grössten Bestimmtheit feststelle. Sollte es also zum Anschlüsse des Vorarlberges kommen, so können wir niemals zugeben, dass von irgend einer Seite an uns Zumutungen in Bezug auf Gebietsabtretungen, seien es grössere oder kleinere, gestellt werden. Das die eine wichtige Seite der politischen Frage.
Den Kern der ganzen Sache berührt wohl die Frage: Hat der alte Stamm der Eidgenossen noch Kraft und Saft genug, um einen frischen und blühenden Zweig darauf aufpfropfen zu können? Können wir aus unserer Geschichte, können wir aus unsern politischen Idealen, können wir aus den tiefen Schachten der Volksseele so energische Werbekraft schöpfen, um das Vorarlbergervolk nach und nach so innig mit dem Schweizervolk zu verbinden, dass es mit der Zeit Blut von unserm Blut, Fleisch von unserem Fleisch, Geist von unserem Geiste werde? Das ist die grosse Frage, die sich stellt. Diese Frage müssen wir gewissenhaft prüfen, prüfen ohne Überstürzung, aber mit dem Herzen und mit dem Verstand. Wir müssen sie prüfen in weiser Selbstkritik, aber auch ohne Kleinmut. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass jedes Volk seine Mission und seine künftige Entwicklung beeinträchtigt, wenn es nicht in grossen historischen Momenten den frischen Mut aufbringt, um denjenigen Fragen gerecht zu werden, welche das Schicksal an es stellt.
Wenn wir uns davon überzeugen, dass uns die nötige Assimilierungskraft innewohnt, dann stellt sich die andere, nicht minder wichtige Frage: Gehören die Vorarlberger nach ihrer Eigenart, nach ihrer ganzen Denkweise zu uns, oder wären sie in unserem nationalen Leben ein Fremdkörper? Wenn die Vorarlberger nur aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen wollten, wenn sie zu uns kommen wollten nur aus materieller Berechnung, um es bei uns besser zu haben, nur um einen Ausweg zu suchen aus einer verworrenen unglücklichen momentanen Situation, dann würde ich von vorneherein sagen: nein. Wer in das Schweizerhaus einzieht, der muss zu uns kommen aus wirklicher Liebe zur Schweiz, aus Begeisterung für unsere republikanischen Ideale und Grundsätze und im Bewusstsein, dass es sich dabei um die höchsten moralischen Güter handelt.
Wir müssen also untersuchen, ob nach Massgabe der Verhältnisse angenommen werden darf, dass die demokratische Idee der Schweiz in die Herzen der Vorarlberger eingezogen ist. Wir müssen prüfen, ob die Überzeugung sich rechtfertigt, dass sie aus wirklicher Liebe zu unseren demokratischen Institutionen zu uns kommen, ob sie aus Herzensbedürfnis entschlossen sind, mit uns sich zu verbinden auf Glück und Verderb.
Das nur einzelne wenige Gesichtspunkte, die ich, ohne irgendwie den Entscheid des Bundesrates zu präjudizieren, hier Vorbringen wollte. Ich betone nochmals, die ganze Frage ist eine offene. Der Bundesrat wird dazu Stellung nehmen erst, nachdem die Prüfung nach allen Richtungen durchgeführt sein wird. Das Vorarlbergervolk wird dieses vorsichtige Vorgehen sehr wohl begreifen. Denn es ist für beide Teile ein ernster, hochbedeutsamer Schritt, der hier in Frage steht. Ich betone übrigens, dass der endgültige Entscheid selbstverständlich beim Volk und bei den Ständen liegt. Nur die Mehrheit des Schweizervolkes und unserer Kantone kann die Anschlussfrage bejahen. Die Behörden können selbstverständlich darüber nur Anträge stellen. Und schon heute lege ich Wert darauf zu erklären, dass Volk und Stände in voller Freiheit gegebenenfalls darüber entscheiden sollen.
Möge aber die weitere Entwicklung der wichtigen Frage zu einem bejahenden oder zu einem verneinenden Schluss führen, das eine möchte ich heute schon hervorheben, dass das Vorarlbergervolk uns ein ausserordentlich weitgehendes Vertrauen entgegengebracht hat, indem es erklärte, es wolle seine Zukunft der Führung und dem Schicksal der schweizerischen Eidgenossenschaft unterstellen. Dafür wollen wir ihm unsern Dank sagen. Wir empfinden diesen Schritt des tüchtigen, arbeitsamen, gesunden Vorarlbergervolkes als eine grosse Ehre für uns. Und in diesem Sinne entbieten wir ihm heute unsern Gruss. (Bravo).
- 1
- E 2001(B) 1/82.↩
- 2
- Cf. no 296 note 6.↩
- 3
- Cette interpellation Schwendener du 3 avril 1919 était ainsi libellée: 1. Hat der Bundesrat Kenntnis von den Vorgängen im Vorarlberg, welche auf den Anschluss dieses Landes an die Schweiz abzielen? 2. Wie stellt sich derselbe zu diesen die nationalen und neutralen Interessen der Schweiz nahe berührenden Vorkommnissen. (E 1001 (C) d 1/184). Schwendener a retiré son interpellation le 30 septembre 1919.↩