Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 7-I, Dok. 459
volume linkBern 1979
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#103* | |
Dossiertitel | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 20 (1919–1919) |
dodis.ch/44204
Wie ich Ihnen in meinem letzten Berichte mitzuteilen die Ehre hatte, und wie Sie aus meinen Telegrammen ersehen haben, brachte ich einige Tage in Weimar zu, um am Orte der wichtigsten Entscheidungen zu sein und Sie möglichst prompt auf dem Laufenden halten zu können. Ob letzteres gelungen ist, weiss ich nicht, da der Telegraph kolossal überlastet war.
Da Sie sowohl durch meine Telegramme via Berlin oder direkt aus Weimar als auch namentlich durch die Presse über die Vorgänge in Weimar längst ganz genau orientiert sein werden, wenn diese Zeilen Sie erreichen, verzichte ich darauf, Ihnen schriftlich alles und jedes zu wiederholen und beschränke mich auf einige notizenhafte Bemerkungen.
Die schöne Stadt Weimar mit ihren gediegenen alten Gebäuden und prachvollen Parkanlagen, Alleen etc., mit all den vielen bekannten Punkten, welche auf Schritt und Tritt an Goethe, Schiller, Herder etc. erinnern, befindet sich momentan im herrlichsten Frühsommerschmucke. Zu dieser Pracht der Gegend und der Natur stand die politische Situation in einem krassen Widerspruch.
Nach den vorausgegangenen hochtönenden Demonstrationen auf Strassen und Plätzen Berlins in den letzten Wochen und insbesondere nach der feierlichen Maisitzung der Nationalversammlung in der Aula der Universität Berlin, wo ein wuchtiges «Unannehmbar» bezüglich der Friedensbedingungen ausgesprochen wurde, war der Eindruck in Weimar ein ganz betrübender und trauriger.
Als ich Freitag nachmittags in Weimar eintraf, wusste niemand, was die nächsten Stunden bringen würden. Das alte Kabinett führte die Geschäfte nur noch stellvertretungsweise; trotz ununterbrochener Bemühungen gelang es nicht, ein neues Kabinett zu bilden. Auch am Sonnabend dauerte die Ungewissheit und Spannung weiter. Ununterbrochen fanden Sitzungen innerhalb der Fraktionen statt. Die massgebenden politischen Persönlichkeiten fuhren alle paar Augenblikke per Automobil vom Theater (Sitz der Nationalversammlung) zum Schloss (Sitz der Regierung und der Bureaux) und zurück. Gegen Mittag hiess es plötzlich, es sei gelungen, ein Kabinett zu bilden, das unterzeichnen werde. Es war dies auch tatsächlich der Fall. Wenige Minuten nachher wurde aber schon wieder mitgeteilt, das Kabinett sei wieder auseinandergefallen. Erst Samstag abends gelang es endlich, das gegenwärtige amtierende Ministerium zusammenzustellen.
Ich wurde in meiner frühem Überzeugung, dass unser schweizerisches System eines auf drei Jahre fix gewählten Bundesrates dem deutschen System des parlamentarischen Ministeriums vorzuziehen sei, in diesen Tagen noch mehr bestärkt. Angesichts der schwierigsten Situation, in die ein Staat gelangen kann, überhaupt tagelang keine richtige Regierung mehr zu haben, könnte der Schweiz nach unserer Verfassung glücklicherweise nicht begegnen!
Deutschland machte mir während diesen historisch wichtigen Tagen den bedauerlichen Eindruck einer Maus, welche plötzlich bemerkt, dass sie in der Falle eingeschlossen ist und trotz Herumrennens und Absuchens aller Wände keinen Ausweg mehr findet.
Die Sitzung der Nationalversammlung vom Sonntag machte im allgemeinen den Eindruck einer von vornherein genau abgemachten und abgekarteten Vorstellung für das Volk. Nach dem Ministerpräsident sprach von jeder Fraktion nur ein Redner.
Den grössten Eindruck dürfte wohl die Rede des Unabhängigen Haase gemacht haben, der mit logischer Schärfe fast mehr den feindlichen Standpunkt vertrat und der unter anderem mit erhobener Stimme rief: «Die Weltrevolution schreitet vorwärts, sie ist unaufhaltsam, aber es geht nicht so rasch wie wir es wünschen.»
Sehr sympathisch berührte die vom alten patriotischen Geist getragene Rede des rechtsstehenden Professor Kahl. Aus ihr ist besonders hervorzuheben ein Passus, worin er laute Klage darüber führte, dass die Minderheitsparteien der Nationalversammlung während der letzten Tage nie recht über die Situation orientiert worden seien.
Bezüglich der Abstimmung am Sonntag, ob Unterzeichnung oder Nichtunterzeichnung, ist hervorzuheben, dass der Präsident der Nationalversammlung die Fragen, ob vorbehaltlose Unterzeichnung oder Unterzeichnung unter Vorbehalt der sogenannten Ehrenpunkte, nicht recht klar auseinanderhielt. Angesichts der sonstigen Klarheit und Intelligenz Fehrenbachs fiel mir das auf. Angestellte Sondierungen ergaben, dass das Parlament absichtlich etwas im Unklaren gelassen wurde, da man möglichst viele Stimmen für die Unterzeichnung haben wollte und befürchtete, dass bei absoluter Klarheit aller Deputierten sich ein allzu geringes Mehr für die Unterzeichnung ergeben würde!!
Nach Abgang der Antwort aus [! Versailles schien man sich in weiten Kreisen in der Hoffnung zu wiegen, die Entente werde grossmütig auf die sogenannten Ehrenpunkte (Auslieferung, Schuldeingeständnis) verzichten; um so grösser war daher die Enttäuschung und die Aufregung, welche entstand, als die glatte Ablehnung so rasch eintraf.
Montag vormittags befanden sich alle Amtspersonen und Deputierten in der grössten Aufregung und Ungewissheit. Ununterbrochen wurden Fraktionssitzungen abgehalten. Bis zum letzten Augenblicke wusste niemand recht, wie die Sache enden werde. So war z.B. das Zentrum im Laufe des Montag vormittags während eines Momentes mehrheitlich für Ablehnung der Unterzeichnung, um kurz darauf wieder mehrheitlich direkt in die andere Richtung umzufallen.
Infolge der Unsicherheit bis zum letzten Moment begann die ursprünglich auf 2 Uhr einberufene Sitzung erst ca. 3 Uhr nachmittags. Zwei Minuten vor Sitzungsbeginn sagte mir der badische Gesandte (Mitglied des Staatenausschusses), der rasch aus dem Saal in meine Loge gekommen war, um mich zu begrüssen, er wisse jetzt noch nicht, wie die Sache schliesslich herauskommen werde.
Als seitens eines Mitgliedes der äussersten Rechten Abstimmung unter Namensaufruf verlangt wurde, erhob sich ein kolossaler Sturm dagegen. Die überwiegende Mehrzahl der Abgeordneten wollte anscheinend vermeiden, dass ihre Stellungnahme in der Presse vor dem Volke und auf ewige Zeiten namentlich festgenagelt werde.
Das schöne würdige Schlusswort Fehrenbachs werden Sie aus der Presse entnommen haben, soweit ich Ihnen dasselbe nicht telegraphisch übermittelte. Es war auch für Neutrale ein erschütternder Moment, als mit grossem Mehr die bedingungslose Unterzeichnung des Friedensvertrages beschlossen wurde.
Vorsichtshalber verschob das Präsidium noch einige Traktanden der Montagssitzung auf Dienstag vormittags, um die Nationalversammlung zum Zusammenbleiben zu zwingen. Anscheinend fürchtete man in leitenden Kreisen irgendwelche Ententerepressalien gegen die Schiffsversenkung und die Fahnenverbrennung in Berlin.
Sofort nach dem folgenschweren Beschlüsse am Montag wurde mit der Behandlung gewöhnlicher Traktanden wie in jeder anderen Sitzung fortgefahren und dies in einer Weise, welche für das niedrige Niveau, auf dem viele Abgeordnete stehen, und für die Zerrissenheit und Zerfahrenheit des Parlamentes charakteristisch war. Sofort begannen Streit und Zank, Zwischenrufe und Gegengebrüll. Bei den Zwischenrufen giftigster und gemeinster Art zeichneten sich in gewohnter Weise die Unabhängigen Haase und Frau Zietz besonders aus. Die Unabhängigen konnten nicht genug betonen, wie sie und die hinter ihnen stehenden Arbeitermassen der gegenwärtigen neuen Regierung absolut kein Vertrauen entgegenbringen.
Überhaupt war die ganze Haltung der Unabhängigen während der für Deutschland so hoch wichtigen Periode ausserordentlich unsympathisch. Ich habe mich mit anderen neutralen Leuten verschiedentlich gefragt, ob da nicht Ententegeld im Spiele sei. Es ist denn auch vielfach sehr unangenehm aufgefallen, dass sich der Ihnen bekannte Professor Haguenin in letzter Zeit sehr viel in Gesellschaft der Unabhängigen bewegte und auch zweimal in den allerletzten Tagen sich in Weimar aufhielt.
Überhaupt war es interessant zu sehen, wie nicht nur Neutrale, sondern namentlich auch Ententeleute (besonders Presse), sich frei im Parlamentsgebäude bewegten. Man hörte englisch, französisch und italienisch sprechen. Auch ein bis zwei Japaner traf ich in Weimar. Sie gehören zu einer diplomatischen Mission, die sich seit längerer Zeit in Berlin aufhält. Im Parlamentsgebäude sah ich die Japaner allerdings nicht.
Auch der italienische Legationsrat Bordonaro und einige italienische Offiziere hielten sich während zwei bis drei Tagen in Weimar auf. Ein hochstehender Beamter des Auswärtigen Amtes sagte mir in der Eisenbahn bei der Rückfahrt nach Berlin, die Italiener wären nach Weimar gekommen, «geradezu um die Deutschen um Verzeihung zu bitten, dass sie mit der Entente in den Krieg gezogen seien.»
Diejenigen Kreise, die für Ablehnung der Unterschrift waren, scheinen am wütendsten auf Erzberger zu sein. Tatsächlich wurde Erzberger in der Nacht von Montag auf Dienstag von regierungstreuen Militärpersonen in Weimar gesucht, wie es heisst, geleitet von der freundlichen Absicht, ihn aufzuhängen. Der schlaue Erzberger hatte aber vorher Lunte gerochen und Weimar rechtzeitig verlassen.
Als ich Montag abends 7 Uhr mit Erzberger über die Frage Unterschreiben oder Nichtunterschreiben sprach, sagte er mir: «Es gab keine Wahl. Wir mussten aus innerpolitischen Gründen unterschreiben. Andernfalls wäre das allgemeine Chaos eingetreten. Es wäre unmöglich, einem Einmarsch der Entente militärisch zu widerstehen. Dagegen haben uns alle massgebenden Militärs gesagt, dass sie mit den vorhandenen militärischen Kräften in der Lage seien, innere Unruhen niederzuhalten und dass auf Grund der inneren Ruhe ein Wiederaufbau Deutschlands möglich sei.»
Im Auswärtigen Amte gibt es leider in diesen Tagen viel Wechsel. Insbesondere verschwinden infolge der Änderung in der Person des Reichsministers des Äussern verschiedene tüchtige Persönlichkeiten, mit denen die schweizerische Gesandtschaft die wichtigsten Geschäfte in gutem oder bestem Einvernehmen regeln konnte. So hat Unterstaatssekretär Freiherr Langwerth von Simmern seinen Abschied genommen. Der frühere Unterstaatssekretär Freiherr von dem Bussche verlässt in diesen Tagen Berlin, Ministerialdirektor Simons ist zurückgetreten, voraussichtlich wird auch sein Stellvertreter, Geheimrat von Simson, gehen und auch Unter Staatssekretär Toepffer liess durchblicken, er werde zurücktreten, falls bedingungslos unterzeichnet werde.
Auch vom Rücktritt des Gesandten Müller in Bern wurde gesprochen; was daran wahr ist, weiss ich aber nicht.
Währenddem mir ein höherer Beamter des Auswärtigen Amtes von einem sicheren Aufschnellen der deutschen Valuta in den nächsten Tagen sprach, äusserte sich der demokratische Abgeordnete Naumann dahin, dass sich die Situation in Deutschland trotz Friedensschluss nicht ändern und verbessern werde. Naumann meinte, die Valuta werde weiter tief bleiben und es dem armen deutschen Volke verunmöglichen, die wichtigsten Lebensmittel und Rohstoffe - weil zu teuer - zu kaufen.
Als kleines Streiflicht auf die Preise melde ich Ihnen, dass ich in Weimar für zwei dünne kleine Scheiben rohen Schinken M. 10.- bezahlen musste.
Unmittelbar vor Kurierschluss:
Im allgemeinen müssen die Aussichten für die nächsten Monate Deutschlands wohl als sehr düster bezeichnet werden. Unabhängige, Kommunisten und Spartakisten scheinen unentwegt an der Störung der so nötigen Ruhe zu arbeiten. Die Stellung der Regierung scheint mir keineswegs gesichert zu sein. Hiezu tritt infolge der vorbehaltlosen Unterzeichnung des Friedens die Verärgerung und infolgedessen Unzuverlässigkeit der sogenannten Regierungstruppen. (In den Ostprovinzen sollen Zivil und Militär es absolut auf Kämpfe mit den Polen ankommen lassen wollen).
Kurz, die Situation ist derart, dass angesichts der internationalen Zusammenhänge aller kommunistisch-bolschewistischen Bewegungen die Schweiz ununterbrochen auf der Hut sein muss. Eine ständige Reserve an mobilen Truppen dürfte für die nächste Zeit wohl unerlässlich sein, um gegebenenfalls augenblicklich scharf und energisch zugreifen und entstehenden Aufruhr im Keime ersticken zu können. An Versuchen, Unordnung und Aufruhr von Deutschland auch nach der Schweiz zu verpflanzen, wird es meines Erachtens in nächster Zeit gewiss nicht fehlen.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Berlin, Archiv.-Nr. 20/1.↩
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