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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 444
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#23379* | |
Dossier title | Beitritt der Schweiz zum Völkerbund (1919–1919) | |
File reference archive | 12.B.1.b |
dodis.ch/44189 Le Chef du Département politique, F. Calonder, au Conseil des Etats1 INTERPELLATION DER HERREN STÄNDERÄTE WINIGER, BOLLI UND BÖHI2
Die Herren Interpellanten weisen darauf hin, es herrsche in weiten Kreisen unseres Volkes die Empfindung, dass die Frage des Beitrittes zum Völkerbund auf das nachhaltigste zu überlegen und dass der Volksentscheidung nicht vorzugreifen sei.
Der Bundesrat hat immer auf diesem Standpunkt gestanden. Er teilt ebenso die Ansicht der Herren Interpellanten, dass es sich um eine Entscheidung handle, so schwierig und folgenschwer, wie sie vielleicht noch nie von unserem Volke und unseren Behörden hat getroffen werden müssen.
Ich ergreife darum gerne die Gelegenheit, im Namen des Bundesrates über die bisherige Entwicklung und den derzeitigen Stand der Völkerbundsfrage Auskunft zu erteilen. Dies ist um so angezeigter, als es sich wider Erwarten als unmöglich herausstellt, den Räten schon in der gegenwärtigen Session die Botschaft zu unterbreiten. Die Pariser Verhandlungen dauern länger, als ursprünglich angenommen wurde, und die begutachtenden Berichte des Volkswirtschafts- und Militärdepartements, welche der Bundesrat abwartet, bevor er Stellung nimmt, sind noch nicht eingegangen. Die weitschichtige Angelegenheit wird von uns unablässig verfolgt.
Gestatten Sie mir, dass ich zunächst Ihnen die Schritte in Erinnerung rufe, die wir zur Vorbereitung der Völkerbundsfrage getan haben. In der Junisession des letzten Jahres hat der Sprechende die allgemeine Stellungnahme des Bundesrates zu diesem Problem dargelegt. Die Richtlinie, die wir dort gezeichnet, haben wir immer eingehalten: Wir begrüssen aufs lebhafteste die Schaffung einer den Frieden sichernden internationalen Ordnung, aber wir wollen in ihr eine Stellung finden, die unserer berechtigten Eigenart entspricht.
Die vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission, in welcher nebst der Wissenschaft des internationalen Rechts alle Parteien des Landes vertreten waren, hat uns eine wertvolle Abklärung dieser schwierigen Fragen gebracht. Der von der Kommission aufgestellte Entwurf eines Völkerbunds-Vertrages und -Statuts hatte den Zweck, zu den wichtigsten Punkten der internationalen Friedenssicherung wohldurchdachte, praktisch ausführbare Lösungen vorzubereiten. Dieser am 11. Februar3 den Räten und den fremden Staaten übermittelte Entwurf war das erste Dokument dieser Art, das von einer Regierung der Öffentlichkeit übergeben wurde.
Wir glauben sagen zu dürfen, dass diese vom Bundesrat getroffenen Massnahmen unserer internationalen Stellung förderlich waren und es uns wesentlich erleichtert haben, unsere Auffassung in bezug auf verschiedene Bestimmungen des Völkerbundsvertrages zur Anerkennung zu bringen.
Die Aufgabe des Bundesrates war eine gegebene und klare: für den Fall, dass in irgendeiner Form ein Völkerbund zustande und die Schweiz in die Lage kommen sollte, sich über den Beitritt auszusprechen, mussten wir dahin trachten, die Gestaltung dieses Bundes im Sinne unserer politischen Ideale zu beeinflussen und der Schweiz darin eine Stellung zu sichern, die ihren besondern Verhältnissen gerecht wird. Insbesondere musste der Bundesrat, der ihm von der Verfassung vorgezeichneten Richtlinie unserer Aussenpolitik folgend, trachten, auch in einer neuen internationalen Organisation die überlieferte Neutralität unserm Lande zu erhalten.
Entgegen unsern Wünschen und wohl auch entgegen den ursprünglichen Absichten der Konferenzmächte wurden die Völkerbundsfragen als Bestandteil der eigentlichen Friedensverhandlungen erklärt. Damit war eine unmittelbare Teilnahme der Neutralen ausgeschlossen. Mögen auch taktische Gründe dieses Vorgehen verständlich machen, so können wir doch nicht anerkennen, dass internationale Angelegenheiten, die alle Staaten angehen, von einem Teil dieser - und mögen sie noch so bedeutend sein - allein entschieden oder doch in der Hauptsache präjudiziert werden dürfen.
Am 14. Februar 1919 hatte die Völkerbundskommission der Pariser Friedenskonferenz einen ersten Entwurf einer Völkerbundsorganisation vorgelegt4. Es sollte auch den Neutralen Gelegenheit zur Anbringung von Vorschlägen geboten werden. An einer Konferenz, an der ausser Mexiko alle Neutralen beteiligt waren, vertraten wir eine Reihe von Anträgen, die ausgearbeitet waren auf der Grundlage von Thesen, welche der Bundesrat in seiner Sitzung vom 10. März gutgeheissen hatte. Diese Vorschläge verfolgten namentlich folgende Zwecke: Erleichterung der Aufnahme neuer Staaten; Einführung eines obligatorischen Vergleichsund Gerichtsverfahrens, um die politischen Einflüsse auf die Entscheidung der Staatenstreitigkeiten soweit als immer möglich einzuschränken; Schaffung eines ständigen internationalen Gerichtshofes unter strikter Wahrung der Gleichheit der Staaten; Sicherung gegen Interventionen in die innern Angelegenheiten der Staaten; Ordnung der Revision und der Kündigung des Vertrages.
Eine ganze Reihe der von uns und anderen neutralen Staaten gemachten Vorschläge wurden in irgendeiner Form berücksichtigt. Aber eine Änderung der Grundlagen des Pariser Entwurfes war leider nicht erreichbar. So ist denn das Völkerbundsstatut, wie es in den Friedensvertrag aufgenommen werden soll, von dem ersten Entwürfe nicht grundsätzlich verschieden. Neu hinzugekommen ist u. a. die Bestimmung, wonach jedes Mitglied das Recht hat, zwei Jahre nach erfolgter Kündigung vom Völkerbund zurückzutreten.
Die jetzige Lösung ist weit entfernt, unsere Wünsche zu befriedigen. Manche Mängel mögen unvermeidliche Konzessionen an die politischen Notwendigkeiten darstellen, aber die Ablehnung gewisser leitender Grundsätze unseres Vorentwurfes bedeutet für uns eine schmerzliche Enttäuschung. So hätten wir namentlich die grundsätzliche Ausschliessung der Kriege durch zwangsweise Anwendung friedlicher Schlichtungsmittel und eine mehr demokratische Organisation gewünscht. Anderseits müssen wir anerkennen, dass der Völkerbund gegenüber dem bisherigen Völkerrecht grosse, ja gewaltige Fortschritte bringt: Das absolute Verbot der Überfallskriege; die Verpflichtung, vor Eröffnung jedes Krieges ein friedliches Verfahren einzuhalten, das den Völkern und der öffentlichen Meinung der Welt Gelegenheit gibt, Stellung zu nehmen; wirksame gemeinsame Abwehr gegen Angriffe, die unter Bruch des Völkerbundes erfolgen; Öffentlichkeit künftiger Staatsverträge als Voraussetzung ihrer Gültigkeit. Das sind alles Errungenschaften, die vor dem Kriege ausserhalb des Bereiches der politischen Möglichkeiten lagen. Der Völkerbundsvertrag muss zunächst nach seinen Vorzügen und Nachteilen für sich, als selbständiges Werk, gewürdigt werden, nicht etwa nur als Bestandteil des Friedensvertrages. Unbeirrt durch momentane Strömungen und Stimmungen haben wir die Lücken und Mängel, aber auch die bleibenden Werte und die Entwicklungsaussichten des Völkerbundes mit möglichster Unbefangenheit und Objektivität zu beurteilen.
Da wir nur einen sehr beschränkten Einfluss auf die Gestaltung des Entwurfes hatten, mussten wir um so mehr auf die Anerkennung unserer Neutralität in einem solchen Bunde dringen. Durch sein Memorandum vom 8. Februar5 d.J. hat der Bundesrat seinen Standpunkt in bezug auf die Wichtigkeit der Neutralität für unser Land und die Wahrung der Neutralität auch in einem Völkerbunde klar und bestimmt ausgesprochen. Obwohl wir uns die grossen Schwierigkeiten nicht verhehlten, denen unser Standpunkt begegnen musste, wollten wir die Diskussion von vornherein auf den Boden unbedingter Offenheit stellen.
Da der Pariser Entwurf nicht die Kriege schlechthin verbietet, diese vielmehr als Form der Selbsthülfe in gewissen Fällen zulässt, so bleibt in diesen Kriegen auch für die Neutralität in bisherigen Sinne Platz. Die Frage, ob die Neutralität und speziell unsere dauernde Neutralität mit der Zugehörigkeit zum Völkerbund vereinbar ist, stellt sich nur für den Fall, dass der Völkerbund sich gegen einen bundesbrüchigen Angreifer solidarisch zur Wehr setzt. Das ist zwar eine Eventualität, die, wenn der Völkerbund seinen Zweck erfüllt, überhaupt nicht eintreten sollte. Aber wir müssen auch mit diesem schlimmsten Falle rechnen.
Der Art. 16 des Völkerbundsvertrages, der in seiner heutigen Fassung wenig von der ursprünglichen abweicht, sieht ausser wirtschaftlichen Kampfmitteln namentlich vor, dass die Bundesglieder den Durchpass durch ihr Gebiet denjenigen Truppen gestatten, die dem angegriffenen Staate zu Hülfe kommen. Die Gewährung eines solchen Durchzuges ist mit der Neutralität unvereinbar - rechtlich und praktisch. Selbst wenn, wie für die aktive Teilnahme an den militärischen Operationen, auch für den Durchpass die Zustimmung des in Anspruch genommenen Staates jeweils erst hätte eingeholt werden müssen, so hätte uns eine derartige Konzession nie befriedigen können. Wir wollen nach aussen und nach innen eine durchaus klare Situation haben, die allein mit unserer Würde und unserer Sicherheit vereinbar ist.
Zu Zeiten schienen die Aussichten auf Anerkennung der immerwährenden Neutralität im Völkerbund sehr gering. Es wurden vor allem militärische Interessen des Völkerbundes am Durchzug durch schweizerisches Gebiet im Falle militärischer Aktionen gegen den rechtsbrüchigen Staat geltend gemacht. Eine schweizerische Militärmission vermochte indessen diesen Widerstand zu überwinden.6
Aus Unterredungen des Herrn Bundespräsidenten Ador und des Sprechenden mit leitenden Staatsmännern einiger für uns namentlich in Betracht kommender Mächte hatte sich zwar ergeben, dass man Verständnis für die eigenartige Lage der Schweiz besass. Die vollgültige Anerkennung dieser besonderen neutralen Stellung im Völkerbunde bot indessen grosse Schwierigkeiten.
Der Eintritt in den Völkerbund unter Vorbehalten ist ausdrücklich ausgeschlossen. Dagegen erklärt Art. 21, dass Verträge zur Erhaltung des Friedens, wie Schiedsgerichtsverträge und regionale Verständigungen wie die Monroe-Doktrin, mit dem Völkerbund in allen Teilen vereinbar seien. Dass unsere vierhundertjährige Neutralität, die schon im Jahre 1815 als im Interesse von ganz Europa liegend anerkannt wurde, in besonders hohem Mass dieser Bestimmung entspreche, wurde in den von Herrn Bundespräsidenten Ador und unseren Delegierten gepflogenen Unterhandlungen und Besprechungen anerkannt. Der Umstand, dass Frankreich wünschte, über die durch die Übereinkünfte der Mächte von 1815 geschaffene Neutralisierung und die freien Zonen Savoyens mit der Schweiz allein verhandeln zu können, bot den Anlass, im Friedensvertrag ebenfalls die Neutralität der Schweiz, wie sie durch die Verträge von 1815 und namentlich durch die Akte vom 20. November 1815 festgestellt ist, von neuem zur Anerkennung zu bringen und zu konstatieren, dass es sich dabei um Abkommen zur Erhaltung des Friedens handle. Diese die schweizerische Neutralität betreffende Bestimmung bildet einen Teil des Inhalts des von uns veröffentlichten Artikels 435 des Friedensvertrages zwischen den Alliierten und Deutschland. Dabei übernehmen es die vertragschliessenden Mächte, auch entsprechende Erklärungen der am Friedensvertrage von 1919 nicht beteiligten Signatäre von 1815 zu erlangen.
Dieses Anerkenntnis, das auch unabhängig von unserem Anschluss an den Völkerbund gilt, erlaubt uns, ohne Vorbehalt gegebenenfalls dem letzteren beizutreten. Ohne diese Bestimmung hätte die Schweiz sich möglicherweise vor die peinliche Wahl gestellt gesehen, zwischen dem Völkerbunde und der immerwährenden Neutralität zu wählen.
Es wird nun allerdings noch zu prüfen sein, inwieweit die Neutralität mit den aus dem Völkerbunde sich ergebenden Pflichten vereinbar ist oder ihnen widerspricht. Diese Frage ist von der Expertenkommission eingehend erörtert worden; sie wird auch den Gegenstand einer Begutachtung des Volkswirtschafts- und des Militärdepartements bilden. Es ist Pflicht des Bundesrates, dem Schweizervolke darüber volle Klarheit zu verschaffen. Die Behandlung dieser Frage wird einen Hauptgegenstand der Botschaft bilden.
Ohne der abschliessenden Prüfung und endgültigen Entscheidung vorgreifen zu wollen, glauben wir schon heute auf die massgebenden Faktoren hinweisen zu sollen, die für unsere Stellung in Völkerbundskriegen gegen bundesbrüchige Staaten zu berücksichtigen sein werden: einerseits die Anforderungen an eine ehrliche Neutralität und anderseits die Solidarität mit dem Völkerbund. Dabei ist es klar, dass in militärischer Beziehung nur eine strenge, beiden Parteien Vertrauen einflössende Neutralität in Betracht kommen kann, dass aber der Neutrale in denjenigen Angelegenheiten - namentlich solchen wirtschaftlicher Natur -, hinsichtlich welcher er nicht durch Normen des Völkerrechts, speziell des Neutralitätsrechts, gebunden ist, sich die volle Freiheit wahren muss, seine Haltung nach den höheren Interessen des Völkerbundes zu richten. Auch das ist zu prüfen, ob dem neutralen Glied des Völkerbundes nicht nur seine eigenen Interessen, sondern selbst seine Würde verbieten, in einem Abwehrkampf des Völkerbundes gegen den Friedensbrecher sich der Anerkennung der grundsätzlichen Verschiedenheit der Parteien zu entziehen.
Während des Krieges wurde in der Schweiz wiederholt der Wunsch geäussert, den Friedenskongress bei uns zu empfangen. Viel höher aber ist das Interesse unseres Landes am Sitze der neuen Weltorganisation. Die Schweiz war auch bisher als Sitz internationaler Ämter bevorzugt. Die Expertenkommission hatte das Postulat aufgestellt, dass die Institutionen des Völkerbundes in dauernd neutralen Staaten untergebracht werden sollten, weil diese der Tätigkeit der Bundesorgane eine vom Geiste der Unparteilichkeit beherrschte Atmosphäre bieten. Nach der Auffassung der Expertenkommission sollte gerade die neutrale, mehrsprachige Schweiz der Mittelpunkt des Völkerbundes werden.
Da dem Bundesrat bekannt war, dass einige der einflussreichsten Persönlichkeiten der Pariser Konferenz die Errichtung des Sitzes in der Schweiz, speziell in der Stadt Genf, befürworteten, war es gegeben, dass von schweizerischer Seite diese Lösung begünstigt wurde. Nicht nur bedeutet die Wahl einer Schweizerstadt als Sitz des Völkerbundes eine Kundgebung grossen Vertrauens, sie eröffnet unserem Lande auch die ehrenvolle Aussicht, in besonderem Masse an der Entwicklung der kommenden Weltorganisation teilzunehmen und von dieser selber befruchtet zu werden. Wir glauben auch, dass die immerwährende Neutralität der Schweiz ein wesentliches Argument dafür ist, den Sitz des Völkerbundes der Schweiz zuzuteilen. Der Staat, der den Sitz beherbergt, muss in den Kriegen, denen der Völkerbund selber fern bleibt, notwendigerweise eine konsequente Neutralität beobachten. Er kann dies aber dann mit viel mehr Aussicht auf Erfolg tun, wenn er auch gegenüber den militärischen Unternehmungen des Bundes gegen Friedensbrecher Neutralität bewahrt und die Unverletzlichkeit seines Gebietes nach allen Seiten behauptet.
Die Schweiz hat sich mit ihrer Bewerbung keineswegs aufgedrängt. Erst als von der Konferenz aus uns nahegelegt wurde, in amtlicher Form unsere Bereitwilligkeit zu erklären, den Sitz gegebenenfalls aufzunehmen, ist eine Note in diesem Sinne an die Präsidenten der Konferenz und der Völkerbundskommission gerichtet worden.7 Es ist selbstverständlich, dass durch diese Erklärung die Entscheidung über den Beitritt zum Völkerbunde und damit auch über die Übernahme der aus diesem Vertrage für den Sitzstaat sich ergebenden Pflichten in keiner Weise präjudiziert ist. Übrigens haben die Vertreter der Schweiz wiederholt betont, dass hinsichtlich aller Verhandlungen über den Völkerbund die freie Entscheidung der verfassungsmässigen Organe Vorbehalten bleibe.
Mit Rücksicht darauf, dass die Sitzfrage, die auch für die ganze Entwicklung des Völkerbundes wichtig ist, im Bundesvertrage selber ihre Regelung finden sollte, und weil noch andere Staaten, die ebenfalls moralische Ansprüche auf den Sitz des Bundes erheben konnten, sich angelegentlich um diese Ehre bewarben, konnte keine Rede davon sein, uns von der Bewerbung zurückzuhalten, bis das Schweizervolk über den Beitritt entschieden haben würde. Eine grosse Gelegenheit wäre uns unfehlbar entgangen.
Die Motive, welche schliesslich dazu geführt haben, Genf, die Heimat grosser Ideen und idealer Bestrebungen, zum Sitz zu wählen, sind geeignet, uns gerade vom Standpunkte unserer Neutralitätspolitik und internationalen Mission mit Genugtuung zu erfüllen. Wir würden aber auch ohne Missgunst einen ändern Entscheid entgegengenommen haben. Wir möchten nicht unterlassen, Belgien, das sich für seine Neutralität und damit für die Heiligkeit der Verträge geopfert hat, zu danken, dass es durch seinen Vertreter in der Plenarsitzung vom 28. April in hochherziger Weise auf seine wohlbegründeten Ansprüche im Interesse der internationalen Solidarität verzichtet hat.
Um als ursprüngliches Mitglied aufgenommen werden zu können und um die Nachteile eines nachträglichen Anschlusses zu vermeiden, sollte die Schweiz gemäss Abs. 2 des Art. 1 des Bundesvertrages innert zwei Monaten nach dessen Inkrafttreten ihre Beitrittserklärung abgeben. Wir sind nicht im Falle, heute schon genau festzustellen, wann diese Frist zu laufen beginnen wird. Der Bundesrat muss es sich deshalb Vorbehalten, speziell in bezug auf das zur Einhaltung dieser Frist geeignete Verfahren, der Bundesversammlung zu gegebener Zeit Antrag zu stellen.
Der Bundesrat hat sich bereits dahin erklärt, dass unter allen Umständen Volk und Stände sich über den Beitritt zum Völkerbunde aussprechen sollen. Es erscheint in der Tat unerlässlich, dass das Volk selbst diese Schicksalsfrage entscheide, deren Bedeutung weit über den Rahmen aller sonstigen von den Räten zu entscheidenden politischen Angelegenheiten hinausreicht. Denn nach menschlichem Ermessen handelt es sich um einen Entscheid, der geeignet ist, unserer internationalen Politik auf Generationen hinaus die Richtung zu geben.
Der Völkerbund ist seiner Natur nach eine universelle Organisation, die grundsätzlich allen Staaten offen stehen soll, welche die Völkerbundspflichten erfüllen. Für die Schweiz ist insbesondere die Frage, ob der Völkerbund mit der Zeit alle ihre Nachbarstaaten umschliessen werde, von der grössten Bedeutung. Es liegt ganz in der Linie der vom Schweizervolk seit Jahrhunderten verfolgten Politik des Friedens, der Neutralität und der internationalen Solidarität, wenn es den lebhaften Wunsch hegt, dass schon anlässlich des Friedensschlusses alle unsere Nachbarstaaten in den Völkerbund aufgenommen werden möchten.
Sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen, so ist deshalb die Frage des Beitrittes der Schweiz durchaus nicht ohne weiteres zu verneinen, aber wenn sich die Schweiz bei einer solchen Sachlage entschliesst, als ursprüngliches Mitglied innert der angesetzten Frist dem Völkerbunde beizutreten, so wird dies wohl nur in der bestimmten Erwartung und Voraussetzung erfolgen, dass der nachträgliche Anschluss aller unserer Nachbarstaaten in nicht zu ferner Zeit verwirklicht werde. Denn ein Völkerbund, der auf längere Zeit einen oder mehrere unserer Nachbarstaaten ausschlösse, würde nicht nur besondere Gefahren für uns mit sich bringen, sondern auch ausserstande sein, dem vielgeprüften Europa den Frieden zu sichern.
Nach wie vor ist der Bundesrat der Überzeugung, dass die Menschheit und insbesondere das schon jetzt am Rande des Ruins befindliche Europa nur durch einen Völkerbund von den schrecklichen Folgen künftiger Kriege bewahrt werden könne. Im Interesse aller Staaten muss eine auf wirkliche Solidarität gegründete neue internationale Organisation aufgerichtet werden. Ob der Völkerbund auch in seiner heutigen mangelhaften Form eine erste Etappe auf dem Wege zu einer solchen Rechtsordnung darstellt, das ist im Grunde die grosse Frage, die wir zu beantworten haben werden. Wenn wir sie bejahen können, so dürfen wir auch die mit der Zugehörigkeit zum Völkerbund für unsern Staat wie für alle ändern Gliedstaaten verbundene Einschränkung der nationalen Souveränität verantworten. Denn, wie die Freiheit des Menschen, so ist auch die Unabhängigkeit der Staaten eine gesicherte und eine sittlich gerechtfertigte nur im Rahmen einer auf Recht und Gerechtigkeit beruhenden Ordnung.
Die Entscheidung ist für unser Volk, vermöge seiner eigentümlichen Stellung in Europa, eine besonders schwierige. Wir wollen mit der grössten Unbefangenheit alles erwägen. Wir dürfen aber über den durch die Zeitlage bedingten und erklärlichen Unvollkommenheiten des Völkerbundes in seiner heutigen Form nicht vergessen, dass es sich trotz aller Zweifel und Bedenken doch um den ersten mit realen politischen Mitteln in der Geschichte unternommenen Versuch handelt, der Gewalt in der Gestaltung der Völkerbeziehungen eine Schranke zu setzen. Das möge jeder bedenken, bevor er urteilt und verurteilt. Die Möglichkeit, die Grundlagen einer wirksamen Friedensorganisation der Völker zu schaffen, kehrt vielleicht nicht so bald wieder. Die Not unserer Tage bietet sie.
- 1
- E 27, Archiv-Nr. 23379.↩
- 2
- Cette interpellation du 20 mai 1919 était ainsi libellée: Der Unterzeichnete wünscht, dass der Bundesrat Auskunft erteile über die von ihm unternommenen Schritte betreffend den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund und den derzeitigen Stand dieser Frage. (E 1001 (D) d 1/176). Pour l'exposé des motifs du conseiller aux Etats Winiger, cf. son discours du 11 juin au Conseil des Etats in Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, Ständerat, XXIX. Jahrgang, \9\9, p.241 s.↩
- 3
- Cf. no 178 annexe.↩
- 4
- Cf. no 183 annexe.↩
- 5
- Cf. no 177.↩
- 6
- Cf. no 334 avec annexes; voir aussi nos 314, 348.↩
- 7
- Cf. no 273.↩