Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 441
volume linkBern 1979
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#1245* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 521 | |
Dossier title | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 34 (1919–1919) |
dodis.ch/44186
Die Veröffentlichung der Friedensbedingungen für Deutsch-Österreich hat hier eine katatrophale Wirkung. Die ganze positive Arbeit der letzten Monate, die Versuche D.-Österreich eine selbständige Existenzmöglichkeit oder ein Leben im Rahmen der früheren Staaten der Monarchie zu schaffen, jede Massnahme zur Verhinderung des Anschlusses, all das ist nun durch die Ereignisse völlig hinfällig geworden und die Angliederung an das Reich oder der Untergang im Bolschewismus scheinen heute unvermeidlich.
Merkwürdige Einblicke in die Quertreibereien, die der endgültigen Herausgabe der Bedingungen vorausgingen, bieten die Konversationen mit Mitgliedern der französischen Mission. Allizé und seine ganze Umgebung sind völlig konsterniert. Allizé sagte mir, der Friede sei das Werk hauptsächlich der Italiener, deren Angst vor der Donauföderation jeden anderen Gedanken in den Hintergrund dränge. Eine englisch-französische Wirtschaftskommission, ohne engeren Zusammenhang mit dem französischen Ministerium des Äussern, habe in den letzten Monaten einen Plan für die Donauföderation ausgearbeitet. Die italienische Pressekampagne gegen Allizé habe eingesetzt, wie Crespi, einer der italienischen Delegierten in Paris, von diesem Entwurf erfuhr und in Allizé völlig irrtümlicherweise einen der Hauptmacher des Föderationsplanes vermutete. Allizé habe nie von etwas anderem als von der Lebensmöglichkeit von Deutschösterreich gesprochen. Er habe sich gehütet, das Wort Donauföderation auch nur fallen zu lassen; er sei so weit gegangen, dass er seinem Personal strengstens verboten habe, dieses Wort selbst im Privatgespräch zu gebrauchen.
Den Kommissär der oben erwähnten Wirtschaftskommission, Chevalier, habe er gebeten, überhaupt nicht an diese Möglichkeit zu rühren. Chevalier habe es leider doch getan. Allizé betrachtet den Vertrag als den Tod Deutsch-Österreichs. Er kann nicht glauben, dass man die Bedingungen aufrecht erhalten werde. Sie seien undurchführbar; der Anschluss oder der Bolschewismus seien unbedingt ihre Konsequenz. Morgen fahre sein Botschaftsrat Romieu nach Paris, um genauer zu erfahren, was dort gegangen sei, und ob man noch etwas retten könne. Je nach dessen Bericht, werde er nächste Woche selbst nach Paris fahren und trachten, den Österreichern zu helfen.
Cherisey, der andere Botschaftsrat, sagte mir: «notre mission est coulée.» Als man Allizé hieher sandte, sei dies mit der bestimmten Absicht geschehen, Österreich zu retten und die Gebiete der ehemaligen Monarchie zu einem Zentrum des Friedens und der Sicherheit zu machen. Auch Clemenceau sei damals dafür gewesen, ebenfalls die Engländer, die Italiener natürlich nicht, und nun gebe es allerdings in Frankreich eine starke Partei, die Italien günstig sei und für die Brüder der lateinischen Rasse immer wieder eintrete. Man sehe dem Vertrage an, dass er im letzten Augenblick geändert worden sei, hauptsächlich auf Veranlassung der neuen Nationalstaaten, die sich ihren Raub sichern wollten. Als der Inhalt des Vertrages, zunächst nur grosso modo, den Kleinstaaten mitgeteilt wurde, seien es nicht die Tschechen oder Jugoslaven gewesen, welche die Mitteilung des vollen Textes und eine Frist zur Prüfung verlangten, sondern sie hätten den anscheinend an den österreichischen Fragen nicht interessierten Bratianu vorgeschickt. Dieser habe dies aber um so lieber getan, weil dadurch ein Präzedenzfall für den kommenden Vertrag mit Ungarn, an dem er sehr stark interessiert sei, konnte geschaffen werden.
Romieu (Allizé’s rechte Hand schon in Haag) sagt, Allizé habe alles vorausgesehen und vorausgesagt, wie es gekommen sei: Revolution, Spartacismus etc.
Allizé hat auf meine Veranlassung hin den Passus in die Friedensbedingungen aufnehmen lassen, wonach die Vermögensabgabe und andere neue seit November entstandene Steuern, von den Angehörigen der alliierten und assozierten Staaten nicht erhoben werden dürfen. Ich hatte ihm dies suggeriert, in der Meinung, wir könnten dann die Meistbegünstigungsklausel anrufen. Allizé meinte, wir seien dazu befugt. Es wird aber gut sein, diese Ansicht einstweilen für uns zu behalten, die Aufmerksamkeit Deutschösterreichs nicht darauf zu lenken, denn der Vertrag ist noch nicht unterschrieben und die Alliierten würden gewiss nicht zögern, als eine Art Konzession, die sie nichts kostet, irgend einen Satz beizufügen, dass sich Dritte nicht auf Grund der Meistbegünstigungsklausel auf diese Begünstigung berufen können. Eine solche Bestimmung wäre für diesen Dritten, d. h. für uns, juristisch natürlich nicht bindend, könnte aber für Österreich doch ein Argument bei Diskussionen abgeben. Im Zusammenhang mit diesen Erörterungen finanzpolitischer Natur, mag es interessieren, dass Schumpeter zu demissionieren beabsichtigt, Allizé ihm aber davon noch abrät.
In der gestrigen Ausschusssitzung hat Präsident Dinghofer vorgeschlagen, man solle sofort den Anschluss neuerdings proklamieren und sofort durchführen; es sei Bauer (der jetzt triumphiert) gewesen, der gegen den Plan aufgetreten sei und sich gegen Überstürzungen gewendet habe, da er jetzt, in seinem Triumphe, den Gemässigten spielen könne. Bauer habe dem Ausschüsse mitgeteilt, die Frage von Südtirol sei noch nicht endgültig erledigt; die Italiener benützen sie als Druckmittel um Konzessionen in Klein-Asien zu erlangen. (Ich frage mich, ob die Nachricht der heutigen Abendblätter, nach der Berliner «Börsenzeitung», die Italiener würden auf Süd-Deutsch-Tirol verzichten, unter der Bedingung, dass der Anschluss Deutschösterreichs an Deutschland gemacht werde, nicht eine Kombination Bauers ist, oder vielmehr ein Techtel-Metchtel zwischen ihm und den Italienern; es wäre ein Trumpf zu Gunsten des Anschlusses und die Italiener wollen diesen absolut; zugleich bleibt Süd-Tirol ein Tauschobjekt für Gebiete in Klein-Asien).
Über die allgemeine Lage, die deutsche Frage, sagte mir Romieu: der deutsche wirkliche Zusammenbruch, die eigentliche Débâcle - die faktisch dagewesen sei - habe ganze 11 Tage gedauert; «au bout de ce très court laps de temps, les Allemands se sont repris, ont réorganisé tous leurs services, leur espionnage politique en pays neutre, nous en avons eu la preuve en Hollande». R. glaubt nicht, dass die Niederlande Kaiser Wilhelm ausliefern würden; ob sie ihn aber verhindern könnten nach Deutschland zu gehen, wenn er es selbst verlangen würde, ist fraglich, da Wilhelm nicht als flüchtiger General, sondern als abgedankter Monarch, also als Privatmann, zu ihnen kam; dies könnte der Entente aber sehr unangenehm sein, denn R. hält eine Restauration in Deutschland für keineswegs ausgeschlossen; wohl nicht eine Restauration Wilhelms selbst, aber seines Enkels unter einer Regentschaft.
Wedel hat mir letzthin auf meine Anfrage hin, ob, wie Zeitungen berichteten, Hindenburg mit 200.000 Mann an der polnischen Grenze stehe, geantwortet, Hindenburg sei wirklich im Osten, aber er sei ein alter Mann geworden und nicht mehr leistungsfähig; hingegen sei es richtig, dass bedeutende Truppenmassen im Osten, gegen Polen und Tschechien, stünden. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass, falls die Entente den Krieg wieder beginnen sollte, die deutschen Schläge sich gegen die neuen kleinen Staaten richten würden, eventuell in Verbindung mit den russischen Bolschewisten.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Wien, Archiv Nr. 34. Ce document est signé du Ministre Bourcart, mais il porte des corrections manuscrites de C.J. Burckhardt.↩
Tags