Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 7-I, Dok. 400
volume linkBern 1979
Mehr… |▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2020#1000/130#92* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2020(-)1000/130 8 | |
Dossiertitel | Zurückhaltung der Kriegsgefangenen der Zentralmächte durch die Alliierten nach Friedensschluss (Verwendung zu Zwangsarbeit). Protest der Bewohner der Stadt Dillenburg (Nassau) (540/4) (1919–1920) | |
Aktenzeichen Archiv | 111.0 |
dodis.ch/44145
Das Auswärtige Amt beehrt sich, der Schweizerischen Gesandtschaft in Anschluss an seine Verbalnote vom 14. v.M.2 - IIIb.6294 - nachstehendes mitzuteilen:
Aus den hierher gelangten Berichten über die deutschen Kriegsgefangenen im früheren Operationsgebiet ergibt sich nachstehendes erschütterndes Gesamtbild:
Die Zusammensetzung der Arbeiterkompagnien und ihre Ausrüstung entspricht nur in den allerwenigsten Fällen den selbstverständlichsten Anforderungen.
Ebensogut wie einzelnen Kompagnien haltbare Kleidungsstücke und dauerhaftes Schuhzeug, sowie Decken und Mäntel mitgegeben werden, müsste dies allgemein erfolgen. Die Zuteilung von Handwerkern, wie Schneidern und Schustern, ist ferner unbedingt notwendig. Die Absendung in zerlumpter Ausrüstung führt bei den schlechten Unterkunftsverhältnissen bald zu den schwersten Krankhei
Die Zusammensetzung der Kompagnien in Bezug auf das Menschenmaterial ist eine völlig unzulässige. Der massgebende Gesichtspunkt ist offensichtlich, alle nur irgend Arbeitsfähigen in die zerstörten Gebiete zu bringen. Als Leichtarbeiter werden Verwundete eingestellt, die noch nicht einmal ausgeheilt oder die ganz schwach sind. Sie werden in Küchendienst oder zu Büroarbeiten verwendet. So sind Einäugige, Leute mit eiternden Wunden und Steckschüssen in der Brust, sowie unter anderen ein Mann mit einem Schuss durch das Auge und einem Granatsplitter im Oberschenkel den Kompagnien zugeteilt. Sogar Lungenkranken werden diese Anstrengungen zugemutet. Bei der mangelnden gesundheitlichen Pflege, bei den schlechten Unterkunfts- und Verpflegungsverhältnissen, brechen derartige Menschen naturgemäss bald zusammen. Anstatt sie zu pflegen und ihnen wieder zur Gesundheit zu verhelfen, wie es einfachste Menschenpflicht wäre, werden so bemitleidenswerte Menschen dem sicheren Untergang geweiht.
Die schlechte Unterkunft ist zum Teil in den örtlichen Verhältnissen begründet. Um so mehr wäre es aber erforderlich gewesen, den Leuten Decken und Mäntel mitzugeben, um sie vor dem Erfrieren von Gliedmassen zu bewahren. Die schärfste und nachdrücklichste Klage wird über die Ernährung geführt. Sie steht nicht nur in keinem Verhältnis zu der Schwere der Arbeit, sondern muss auch selbst für einen nichtarbeitenden Menschen als unzureichend angesehen werden. In Mourmelon le Grand arbeitende Mannschaften erhalten täglich 475 g Kartoffeln oder 60 g Reis. Von den Kartoffeln sollen 300 g gänzlich verfault sein, wofür aber Ersatz nicht gegeben wird. Teilweise gibt es nur einmal warmes Essen. Den wässrigen Suppen, die aus schlechten Hülsenfrüchten und Reis bestehen, fehlt jede Nährkraft; es ist eine unausbleibliche Folge, dass die Gefangenen bei der völligen Unterernährung immer schwächer werden, bis sie als abgezehrte Kranke zurückgeschafft werden müssen. Derartige Transporte, denen die Hungersnot auf dem Gesicht geschrieben stand, sind vielfach festgestellt worden, z. B. von Reims kommend, in Bordeaux und in Rochefort (Hospital Latouche Tréville), wo die aus den zerstörten Gebieten zurückgebrachten Erholungsbedürftigen sich nicht aufrecht zu halten vermochten und einfach umfielen. Teilweise blieb die Verpflegung tagelang aus und die Leute sollen bei der Arbeit gestorben sein. Eine derartige, dauernde Unterernährung bei schwerer zehnstündiger Arbeit bedeutet den sicheren Tod.
Bei den unerträglichen Lebensverhältnissen wären gesundheitliche Massnahmen umso notwendiger, die in erster Linie in reichlicher Entsendung von Sanitätspersonal und Arzneimitteln zu bestehen hätten. Durch rechtzeitige ärztliche Hilfe könnten Massenerkrankungen, wie zum Beispiel der Flecktyphus in der Gegend von Arras, verhindert werden. Auch wird das Fehlen der ärztlichen Hilfe bei den leider zahlreichen Unglücksfällen schwer empfunden. Die Ausgabe von Desinfektionsmitteln an die Leute würde diese vielleicht in den Stand setzen, sich in vielen Fällen selbst zu helfen. Dies erscheint umso nötiger, als sie bei den Aufräumungsarbeiten oft auf grosse Leichenfelder stossen, in denen zu arbeiten ohne Desinfektionsmittel fast unmöglich ist. Natürlich werden diese Arbeiten in den Leichenfeldern bei wärmerer Jahreszeit an Gefahr noch zunehmen. Bei jeder Arbeitskompagnie müsste sich mindestens ein Sanitätsunteroffizier befinden, der über Verbandszeug und Arzneimittel verfügt, um bei Unglücksfallen und Erkrankungen die erste Hilfe bringen zu können. Hinter den Arbeitsgebieten müssten an geeigneten Stellen Feldlazarette errichtet werden, wo Schwerkranke und nicht mehr Transportfähige zunächst Aufnahme finden könnten.
Die Nachrichten über Unglücksfalle in den zerstörten Gebieten mehren sich. Die Tageszeitungen bringen häufig derartige Nachrichten, wonach 60 bis 70 Mann in der Woche davon betroffen werden. Anfang März wird von 700 Unglücksfällen berichtet. Nach Meldung des Petit Parisien sollen sich die allgemeinen Verluste bis März auf 800 Mann belaufen. Die Französische Regierung müsste zum mindesten die Todesfälle in den zerstörten Gebieten sofort amtlich mitteilen. In den einzelnen Arbeitskompagnien müssten hierüber Listen aufgestellt werden.
Ferner wäre endlich der Postverkehr zu regeln. Immer erneut erfolgen die Anfragen von Angehörigen der Kriegsgefangenen aus Deutschland. Diese Anfragen beweisen, dass vor allem die Lebenszeichen aus Deutschland nicht ankommen. Die Angehörigen schreiben noch in die Lager, wo die Kriegsgefangenen früher weilten, und von dort scheint eine Weitergabe in die zerstörten Gebiete nicht zu erfolgen.
Damit im zerstörten Gebiet einigermassen erträgliche Lebensbedingungen hergestellt werden, ergeben sich somit die folgenden wichtigsten Forderungen:
1. Richtige Auswahl des Menschenmaterials bei Zusammensetzung der Arbeitskompagnien unter Zuteilung von Sanitätspersonal und Handwerkern.
2. Ausrüstung mit haltbaren Kleidungsstücken, Schuhwerk und Decken.
3. Verbesserung der Unterkunftsverhältnisse.
4. Ordentliche Ernährung.
5. Gesundheitliche Massnahmen, Bereithaltung von Sanitätspersonal, Arzneimitteln, Feldlazaretten, erforderlichen Falls auch von Sanitätskraftwagen.
6. Aufstellung von Listen über Verunglückte.
7. Schaffung besserer Postverbindung.
Alles dies sind Forderungen, die durchaus keine besondere Vergünstigung darstellen, sondern unerlässliche Lebensvoraussetzungen für Menschen bedeuten, die zum Teil schon jahrelang das Los der Gefangenschaft ertragen, dadurch seelisch und körperlich gelitten haben und sich in diesem geschwächten Zustand nunmehr erneut schwerster Arbeit unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen unterziehen müssen.
Das Auswärtige Amt bittet die Schweizerische Gesandtschaft um ihre Vermittelung, damit bei der Französischen Regierung im Sinne dieser Ausführungen nochmals auf das Nachdrücklichste auf gründliche Abhilfe gedrungen wird.