Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 7-I, Dok. 14
volume linkBern 1979
Mehr… |▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#102* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2300(-)1000/716 55 | |
Dossiertitel | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 19 (1918–1918) | |
Aktenzeichen Archiv | 019 |
dodis.ch/43759Le Chargé d Affaires de la Légation de Suisse à Berlin, K. Egger, au Chef du Département politique, F. Calonder1
Freitag, 15. Nov. morgens.
Die Aussicht, morgen vielleicht wieder einen Kurier nach der Schweiz senden zu können, veranlasst mich, Ihnen in Ergänzung meiner telegraphischen Situationsberichte2 folgende allgemeine Bemerkungen zu der politischen Lage von heute zu machen.
Es untersteht keinem Zweifel, dass die deutsche Sozialdemokratie aus diesem gewaltigen Umsturz als Siegerin hervorgegangen ist. Der «Vorwärts» erwähnt die Erfüllung einer Prophezeiung Bülows, der einmal gesagt habe, keine Regierung könne den Krieg wollen, da alle wüssten, dass letzten Endes die Sozialdemokratie Siegerin bleiben würde.
Die vor dem Krieg einige deutsche Sozialdemokratie ist durch den Krieg in drei Gruppen gespalten worden, deren stärkste die Gruppe der Mehrheitssozialisten ist, der die Partei der Unabhängigen in gemessenem Abstande folgt, während die dritte, die Spartakusgruppe, einen geringen Bruchteil der Unabhängigen darstellt. Unter dem Titel «die Strömungen im Sozialismus» ruft der «Vorwärts» die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie der jüngsten Zeit seinen Lesern in Erinnerung. Er erwähnt die vor dem Kriege bestandenen radikalen und reformistischen Strömungen, erinnert an die Spaltung infolge der Bewilligung oder Verweigerung der Kriegskredite und appelliert an die verschiedenen Parteigruppen zum Zusammenarbeiten unter der Devise: «Durch Demokratie zum Sozialismus».
Im schroffsten Gegensatz zu dieser vom «Vorwärts» geäusserten sozialdemokratischen Auffassung steht die revolutionäre Machttheorie der sogenannten Spartakusgruppe. Die Spartakusgruppe, die bisher der unabhängigen sozialdemokratischen Partei angehörte, beabsichtigt, sich zu einer selbständigen Partei zu konstituieren. Sie will die Diktatur des revolutionären Proletariats im bolschewistischen Sinne. Die Mehrheitssozialisten verfolgen heute diese weitere Entwicklung mit der grössten Aufmerksamkeit und sie verlangen von den Liebknechtleuten als Minderheit Unterordnung unter die Mehrheit. Dazu sagt das Parteiorgan der Mehrheitssozialisten, hier aber klafft ihr innerer Widerspruch, [! denn die Spartakusgruppe wollte bisher in scharfer Ablehnung des sozialdemokratischen Programms von einer Unterordnung unter die Mehrheit nichts wissen. Sie proklamierte für sich das Recht der Gewalt. Sie war darin das Widerspiel der gestürzten Junkerherrschaft.
Jetzt, in völlig veränderten Verhältnissen, wird sie eine Umstellung ihrer taktischen Methoden vollziehen müssen. Die Revolution, soweit sie den Umsturz politischer Machtverhältnisse bedeutete, ist vollendet, und ihre weitere Aufgabe ist nicht gewaltsamer Umsturz, sondern organisatorischer Umbau. Die Spartakusgruppe könnte ein nützliches Element sein, wenn sie sich darauf beschränkte, für einen raschen Fortschritt in der Richtung zur Sozialisierung der Gesellschaft einzutreten. Es würde sich dann um wirtschaftspolitische Massnahmen handeln, über die unter Sozialisten geredet werden kann.
Wenn aber die Spartakusgruppe sich als eine antidemokratische Partei konstituieren will, wenn sie das Selbstbestimmungsrecht des Volkes in Frage stellt, so wird sie die Sozialdemokratie zur allerschärfsten Gegnerin haben. Im Kampfe gegen sie wird dann die Sozialdemokratie dieselben Mittel anwenden müssen, die sie selbst anwendet. Sie wird die neuerrungene Freiheit des Volkes, wenn es notwendig ist, nach allen Seiten hin verteidigen, und das Volk, von dem auch noch nicht der hundertste Teil auf dem Boden der Spartakusgruppe steht, wird ihr die Kraft geben, diese Verteidigung erfolgreich durchzuführen.
Seit gestern abend ist dem Reichsjustizamt als Beigeordneter der unabhängige Sozialdemokrat Dr. Oskar Cohn beigetreten. Aus meinen früheren Berichten ist es Ihnen bekannt, dass Cohn auf dem äussersten linken Flügel der Unabhängigen steht und dass er der vertraute Freund Joffes ist, für dessen unbedingte Rückkehr sich Cohn mir gegenüber noch vor wenigen Tagen in unzweideutiger Weise aussprach3. Dass dieser einflussreiche und kluge Parlamentarier heute die erwähnte Schwenkung vollzog, deute ich als ein beruhigendes Symptom, und es ist zu hoffen, dass die Spartakusleute dasselbe Schicksal trifft wie den römischen Sklaven, dessen Namen sie für ihre revolutionäre Bewegung entlehnten.
Auf dem Kriegswirtschaftsamt vernehme ich, dass die Demobilisation nicht in der Weise vor sich gehe, wie sie in Anbetracht der inneren Verhältnisse wünschbar wäre. Die bereitstehenden Eisenbahnzüge würden von Soldaten gestürmt, Zivilisten seien von der Beförderung gänzlich ausgeschlossen, und es sei mit Bestimmtheit für die nächste Zeit mit einem unheilvollen Wirrwarr im deutschen Eisenbahnbetriebe zu rechnen. Die Reichsregierung wird alles aufwenden müssen, um diese zurückflutenden Massen in Ordnung zu halten, wenn sie nicht mit bedenklichen Störungen im Innern des Landes rechnen will.
Bezüglich der handelspolitischen Besprechungen (Kohle, Eisen etc.) die zum Teil die brennendsten Fragen des schweizerischen Wirtschaftslebens berühren, möchte ich in diesem Zusammenhang nur auf die telegraphische und schriftliche Berichterstattung an die Handelsabteilung verweisen4. Die Umgestaltung der Verhältnisse in Deutschland wird auch für die gegenseitigen wirtschaftlichen Verhältnisse eine tiefgreifende Änderung bedeuten.Die in der schweizerischen Presse aufgeworfene Frage der Revision des Gotthardvertrages hat auch in der deutschen Presse ihr Echo gefunden. Die Vossische Zeitung schreibt gestern darüber: Es ist zutreffend, dass die Angelegenheit in nichtamtlicher Weise im Jahre 1915 in Berlin besprochen und deutscherseits eine entgegenkommende Behandlung in Aussicht gestellt worden ist. Schon im März 1913 hatte die deutsche Regierung der Schweiz ihre Bereitwilligkeit zugesichert, gewisse Bestimmungen des Vertrages einer Revision zu unterziehen, falls sie sich wider Erwarten als den schweizerischen Interessen zuwiderlaufend heraussteilen sollten. Es muss anerkannt werden, dass gewisse dem Vertrage zugrundeliegenden Voraussetzungen infolge der durch den Krieg geschaffenen Lage nicht mehr den heutigen tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. Sobald wieder normale Verhältnisse eingetreten sein werden, wird man daher deutscherseits gerne bereit sein, berechtigte schweizerische Wünsche entgegenkommend zu prüfen.Samstag, 16. Nov. morgens.[...]Die rasche Beilegung des Generalstreiks in der Schweiz ist hier von weiten Kreisen mit grosser Befriedigung aufgenommen worden. Auftragsgemäss habe ich mit verschiedenen mir bekannten Journalisten der hiesigen Tagespresse Fühlung genommen, und schon heute morgen bringt die Vossische Zeitung das Resultat meiner Besprechung mit ihrem Mitarbeiter:
[...]5
- 1
- Schreiben: E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 19/2. Paraphe: II.↩
- 2
- Non reproduits.↩
- 3
- Cf. no 3.↩
- 4
- Cf. no 4.↩
- 5
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/43759. Pour le tableau, cf. dodis.ch/43759. For the table, cf. dodis.ch/43759. Per la tabella, cf. dodis.ch/43759.↩
Tags
Landesstreik (1918) Gotthardbahn, Gotthardvertrag (1903–1913)