Classement thématique série 1848–1945:
V. LE BOLCHEVISME, LE SOCIALISME ET LES MOUVEMENTS RÉVOLUTIONNAIRES
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 7-I, Dok. 3
volume linkBern 1979
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#102* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2300(-)1000/716 55 | |
Dossiertitel | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 19 (1918–1918) | |
Aktenzeichen Archiv | 019 |
dodis.ch/43748
Le Chargé d’Affair es de la Légation de Suisse à Berlin, K. Egger, au Chef du Département politique, F. Calonder1
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Wie ich Ihnen gestern nachmittag telegraphisch melden konnte, hat sich nach langem Hin- und Her-Parlamentarisieren mit den unabhängigen Sozialisten eine Regierung gebildet mit Haase, Dittmann, Barth und Scheidemann, Ebert, Landsberg. Durch diese Neubildung einer sozialistischen Regierung scheidet der staatsrechtliche Begriff eines Reichskanzlers aus der Verfassung aus; die sechs Herren verfügen über die gleichen Machtbefugnisse, ohne dass einer von ihnen eine Sonderstellung einnimmt. Heute Montag abend ist noch nicht bekannt, wie die einzelnen Portefeuilles verteilt werden sollen und deshalb ist es für uns ausserordentlich schwierig, mit irgend jemandem sichere Fühlung zur Durchführung eines bestimmten Geschäftes zu nehmen.
Auf dem Auswärtigen Amte hat sich Staatssekretär Solf anscheinend der neuen Regierung zur Verfügung gestellt. Sämtliche Beamten sind heute früh zu gewohnter Stunde in ihren Kanzleien erschienen, doch konnte ich anlässlich meines Besuches bei Excellenz Solf deutlich bemerken, dass jede sichere Orientierung fehlt. Durch Geheimrat Simons, der auf der Reichskanzlei als Vermittler zwischen Auswärtigem Amte und der neuen Regierung funktioniert, liess ich mich bei Herrn Ebert anmelden, um mit ihm die Angelegenheit der Durchreise der russischen Gesandtschaft in Bern3 zu besprechen. Ich habe Herrn Ebert zuerst im Reichstag aufgesucht, da man mich telephonisch dorthin beschieden hatte. Nach unendlicher Mühe gelang es mir, die verschiedenen Kordons der Roten Garden zu durchschreiten, um endlich ins Reichstagsgebäude selbst zu gelangen. Der Wirrwarr, der dort herrscht, ist ganz unbeschreiblich. Das ganze Haus ist erfüllt von Soldaten, Matrosen, Arbeitern, Frauen und wie mich dünkte, von viel lichtscheuem Gesindel, das sich in den prunkvollen Räumen des Reichstags planlos herumtrieb. Auf den geschnitzten Bänken und Polstermöbeln lagen schlafende Matrosen, die Teppiche und Böden waren beschmutzt durch Konserven, Speisereste, kurz, das Bild einer grenzenlosen Verwirrung und Unordnung. Ich fand schliesslich Herrn Ebert im Reichskanzlerpalais und konnte ihm im Beisein von Herrn Haase und Herrn Geheimrat Simons meine Bitte vortragen.
Herr Ebert hat mich mit äusserster Zuvorkommenheit empfangen und gab mir sofort sein Einverständnis zum Durchtransport der russischen Gesandtschaft. Herr Haase bemerkte, er habe seinerseits ein Telegramm von Herrn Bersin empfangen, der ihn gebeten habe, ihm die Durchreise durch Deutschland zu ermöglichen. Ich hoffe, dass ein Telegramm [über die Modalitäten der Durchreise diesen Bericht übereilt haben wird. Staatssekretär Solf, mit dem ich die Angelegenheit gleichfalls besprach, zeigte sich freilich sehr wenig entgegenkommend und bemerkte, er fürchte, die ganze Gesellschaft werde bei diesen ungeordneten Transport- und Bewachungsverhältnissen, auf deutschem Boden angekommen, kurzer Hand befreit werden und dann bringe man die Leute nicht mehr aus Deutschland heraus. Im Vorzimmer von Excellenz Solf traf ich Rechtsanwalt Cohn, einen der Führer der unabhängigen Sozialisten. Ich habe mich längere Zeit mit ihm unterhalten und von diesem erfahren, dass seine Partei es mit allen Mitteln durchsetzen will, dass Herr Joffe unverzüglich wieder nach Berlin zurückkehren kann. Diese Leute scheinen wirklich nicht einzusehen, welche schlechten Dienste sie damit dem deutschen Volke erweisen. Herr Cohn hat mir auch ziemlich unverblümt gesagt, er halte es kaum für wahrscheinlich, dass Herr Bersin wirklich nach Russland abgeschoben werde. Auf jeden Fall werde er seinerseits Schritte tun, damit Herr Bersin mit Herrn Joffe, den er schon in den nächsten Tagen hier zu sehen hofft, Rücksprache nehmen könne.
Herr Ebert bat mich ferner, ich möchte Ihnen mitteilen, dass die gegenwärtige Regierung den bestimmten Glauben habe, die Ruhe und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Mittagsblätter wissen zu berichten, Generalfeldmarschall Hindenburg befinde sich auf der Flucht nach Holland, Herr Ebert erklärte mir aber, sie hätten heute morgen von Hindenburg aus dem Hauptquartier den telegraphischen Bescheid erhalten, er stelle sich mit der Armee zur Verfügung der neuen Regierung. Herr Haase, dem die Vorgänge an unserer österreichischen Grenze bekannt sein dürften, bemerkte, die Schweiz hätte vor einem allfälligen Zurückfluten deutscher Heeresmassen von der Front nichts zu befürchten, da einerseits Eisass-Lothringen von der Entente besetzt werde und da Kriegsminister Scheüch die Demobilisation der Armee bereits kräftig in die Hand genommen habe. Herr Cohn sagte mir freilich, man habe grosse Angst vor den von der Front zurückströmenden Truppenmassen, wobei besonders die Ernährungsfrage eine schwere Sorge sein dürfte. Herr Cohn sagte: «Wir manifestieren uns heute noch leidlich durch, wir wissen aber nicht, wie es in einigen Tagen sein wird.» Nach all den Wahrnehmungen, die ich heute und gestern auf meinen verschiedenen Gängen gemacht habe, komme ich zu der Überzeugung, dass die Lage, ohne pessimistisch zu sein, als ernst geschildert werden darf. Niemand weiss eigentlich genau, welchen Ereignissen wir heute zutreiben.
Ich habe mich selbstverständlich sofort mit den Stellen in Verbindung gesetzt, mit denen wir bis heute die Kohlen-, Eisen- und Stahllieferungen etc. behandelten. Ich verweise dabei auf mein heutiges Telegramm4 an die Handelsabteilung. Auch hier sind die Aussichten recht trübe. Eisen, Stahl und andere Materialien, die bis jetzt für die Heereslieferungen reserviert gewesen waren, werden bestimmt in grössten Mengen befreit werden, doch darf für die Kohle nicht damit gerechnet werden. Ich hielt es für meine Pflicht, Sie unverzüglich über die Situation, wie sie heute besteht, zu unterrichten.
Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, dass sich die Schweizer-Kolonie in Berlin und unsere Landsleute im Reiche verhältnismässig ruhig verhalten haben. Immerhin haben wir eine ganze Menge der verschiedenartigsten Anfragen zu beantworten. Ich hoffe, dass ich morgen genaue Instruktionen über die Ausreise der Schweizer, über die Übermittlung von Bank-Depots und Wertschriften und über ähnliche Fragen ein genaues Zirkular an sämtliche Konsulate erlassen kann. Ich bin immer noch ohne Antwort auf meine Frage, ob die Gesandtschaft und die Konsulate ausnahmsweise berechtigt sind, eventuelle Wertschriften entgegenzunehmen, um sie gegebenenfalls im Kurier nach der Schweiz zu leiten, wie dies mit Russland geschehen ist.
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