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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 6, doc. 381
volume linkBern 1981
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2300#1000/716#102* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2300(-)1000/716 55 | |
Titre du dossier | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 19 (1918–1918) | |
Référence archives | 019 |
dodis.ch/43656
In erster Linie beehre ich mich, auf meine Berichte vom 30. Januar und 2. Februar 19182 betreffend den Streik zu verweisen.
Gestern erhielt ich folgendes Telegramm: «(Veuillez communiquer tous renseignements utiles sur grèves Berlin et Allemagne, sur leurs causes, leur nature, chiffre manifestants, arrestations, morts et votre opinion sur conséquences politiques.» (Nummer 48, Auswärtiges).
Dieses Telegramm enthält zwischen den Zeilen an meine Adresse den Vorwurf, ich hätte am 30. Januar und 2. Februar zuwenig eingehend berichtet.
Ich beehre mich, darauf aufmerksam zu machen, dass momentan verschiedene wichtige und dringliche Geschäfte anhängig sind, so Heimtransport der Schweizer durch die Front aus Russland, Schiffskauf oder Miete, italienische Gefangenenangelegenheiten, Kohlenmonopolfrage, Kauf eines Gesandtschaftsgebäudes, welche in ihrer Totalität durch Besuche auf Ämtern, Antichambrieren, usw. viel Zeitverlust verursachen. Daneben muss ich ein sehr umfangreiches, mit Arbeit überlastetes, mit Personal ungenügend ausgerüstetes Büro persönlich leiten. Es ist somit verständlich, dass für das Einholen von Nachrichten über Begebenheiten leider viel zuwenig Zeit und Bewegungsfreiheit übrigbleibt. (Die grossen Distanzen bilden hiebei naturgemäss ein bedeutendes Hindernis.)
Nach dem Urteil unserer nichtamtlichen, teilweise aber der Presse angehörenden Gewährsmänner sollen die Streiks ihre tiefere Ursache in geheimen Vereinbarungen haben, welche in Stockholm zwischen den Bolschewiki und ganz linksstehenden deutschen Sozialdemokraten getroffen wurden. Auch an der Ostfront sollen die Bolschewiki versucht haben, die deutschen Soldaten zu veranlassen, einen Generalstreik in der deutschen Rüstungsindustrie hervorzurufen. Während diese Versuche an der Ostfront keinen Erfolg gehabt hätten, seien sie via Stockholm geglückt. Die Stockholmer Abmachungen seien aber so geheimgehalten worden, dass die organisierte Sozialdemokratie Deutschlands vom Streik vollkommen überrascht worden sei. (Die Überraschung erfolgte wohl absichtlich, um eine andere Stellungnahme der Partei gegenüber dem Streik zu verunmöglichen.)
Der Streik wurde denn auch fast ausschliesslich von den unabhängigen Sozialdemokraten ins Leben gerufen und hatte einen vollständig improvisierten Charakter. Die Sache war wohl so gedacht, dass der Streik, einmal in Fluss gekommen, die ganze Arbeiterschaft mit sich reissen werde.
Zum Ausbruch des Streiks im jetzigen Zeitpunkte soll - immer nach meinen Gewährsmännern - nicht unwesentlich der Umstand beigetragen haben, dass Graf Hertling in seiner letzten Rede im Hauptausschuss nicht, wie bis kurz vor der Ausschussitzung beabsichtigt war, über das Wahlrecht in Preussen zu sprechen kam. Hinsichtlich dieser Unterlassung soll Scheidemann damals im Hauptausschuss erklärt haben, dass er für die Stellung, die die Sozialdemokratie hiezu einnehmen werde, keine Garantie leisten und keine Verantwortung übernehmen könne. Es hatten denn auch, wie der Streik ausbrach, obwohl sich sogleich grosse Teile der organisierten Sozialisten der Bewegung anschlossen, die Führer der Sozialdemokratie die Leitung nicht in der Hand. Die Organisation erfolgte erst nachträglich. Auch die offiziellen Gründe für den Streik wurden zum Teil erst nachträglich konstruiert und bekanntgegeben.
Diese lauteten: Sofortige Einführung des gleichen Wahlrechts in Preussen; Friede ohne Annexionen; bessere Verteilung der Lebensmittel.
Der Streik war, wie bereits gesagt, kein organisierter, sondern ein sogenannter «wilder» Streik. Die Streikenden bestanden hauptsächlich aus minderjährigen Arbeitern und aus Frauen. Über die Anzahl der Streikenden ist amtlich nichts bekanntgegeben worden. Es dürften aber in ganz Deutschland etwa insgesamt eine Million Arbeiter gestreikt haben. Der Streik war, da die Gewerkschaften sich am Streike nicht beteiligten und da er nicht organisiert war, auch in lokaler Hinsicht nur ein partieller. Es wurde daher sowohl in Ortschaften als in Fabriken zum Teil, wenn nicht zum Grossteil gearbeitet. Auch wurde in verschiedenen Grossbetrieben, so zum Beispiel bei Siemens in Berlin, überhaupt nicht gestreikt.
Der Streik war lediglich demonstrativer Natur und bestand in Arbeitseinstellung. In Berlin demonstrierten einige Tausend jugendlicher Arbeiter und Frauen hauptsächlich in Alt-Moabit, wo es auch zu Zusammmenstössen mit der Polizei kam. Dabei wurden ein Schutzmann getötet und mehrere Zivilisten schwer verletzt. In anderen Teilen Berlins war vom Streik nichts zu bemerken.
Der Streik selbst kann vorderhand als beendet betrachtet werden, da überall die Arbeit wieder voll aufgenommen worden ist. Die Betriebe der Kriegsrüstung stehen nun unter staatlicher (militärischer) Aufsicht.
Anlässlich einer Besprechung, die ich heute mit dem Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes, Freiherrn von dem Bussche, hatte, brachte ich das Gespräch auch auf den Streik.
Freiherr von dem Bussche bezeichnet als Ursache des Streiks in Deutschland den Streik, der kurz vorher in Österreich stattfand, und die Schlappheit der dortigen Regierung gegenüber den Streikenden. Ferner sei als auslösendes Moment in Deutschland, insbesondere Preussen, noch die durchaus falsche Meinung dazugekommen, dass man die preussische Wahlrechtsreform verschleppen oder verhindern wolle. Allerdings gibt auch Freiherr von dem Bussche zu, dass gewisse sozialistisch-anarchistische Fäden von Stockholm in verschiedene Länder und namentlich auch zwischen den Bolschewiki einerseits und Österreich andererseits gesponnen wurden. Ferner betonte er, dass Entente-Geld zur Revolutionierung Deutschlands via Schweden nach Deutschland gekommen sei. Ferner behauptete er, Deutschland habe Nachrichten erhalten, wonach sich in der Schweiz amerikanische Büros befänden, um von dort aus mit amerikanischem Geld Revolutionspropaganda in Deutschland zu treiben, was ich hiemit als dienstliche Meldung weiterleite und besonders hervorhebe. (Anschliessend daran melde ich weiter, dass ich auch von anderem Seiten gehört habe, dass man hierorts einer angeblich unter der Ägide Amerikas einsetzenden Propaganda in den neutralen Staaten, die den Zweck verfolge, die innerpolitischen Verhältnisse Deutschlands zu stören, grosse Aufmerksamkeit schenke. Man bringe damit in Zusammenhang, dass an der Schweizer Grenze von Deutschland kommende Reisende in ganz auffälliger Weise über die zur Zeit in Deutschland herrschenden Verhältnisse ausgefragt werden.)
Was nun die politischen Folgen des zu Ende gegangenen Streikes anbelangt, so bestehen dieselben meines Erachtens, wie schon in meinem Berichte vom 2. Februar angedeutet, in folgendem: Dank der Kraft, Entschlossenheit und Ruhe, mit der die Staats- und Militärgewalt den Streik unterdrückt hat, ohne Konzessionen machen zu müssen, geht die Regierung, an Ansehen gestärkt, aus der Situation hervor, während die extremen Sozialisten eher eine Blamage erlitten haben.
Aus der Besprechung mit dem Herrn Unterstaatssekretär hebe ich noch hervor, dass derselbe mir gegenüber ausdrücklich betont hat: a) Deutschland wolle in Russland keine Gebiete annektieren, b) die preussische Wahlrechtsreform werde unbedingt durchgeführt werden, da man dieses Versprechen dem Volke gegeben habe.
Nachtrag unmittelbar vor Kurierschluss:
a) Friedensschluss mit Ukraine soll in den nächsten Tagen perfekt werden, voraussichtlich auch mit Rumänien.
b) Frieden zwischen Bulgarien und Grass-Russland soll schon geschlossen sein.
c) Es soll ein Abkommen zwischen Österreich und Deutschland dahin getroffen worden sein, dass Deutschland Korn (oder Kohle?) nach Österreich liefert, letzterer dagegen, ausser der bereits im Westen stehenden österreichischen Artillerie, Truppen an die Ostfront sendet. (Daher neue Aufgebote in Österreich.)
d) Es sollen deutsch-österreichischerseits die Polen mit selbständiger Vertretung zu den Verhandlungen in Brest-Litowsk zugelassen (und ihre Sache zu der eigenen gemacht) werden.
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