Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 6, Dok. 252
volume linkBern 1981
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E27#1000/721#13560* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 27(-)1000/721 2807 | |
Dossiertitel | Angriffsgefahren gegen die Schweiz und Kriegsbereitschaft der Armee (1914–1919) | |
Aktenzeichen Archiv | 06.H.3.e.2 |
dodis.ch/43527
Nachdem die Mächte der Entente kurzerhand die Friedensanregungen der Zentralmächte und ebenso auch die Friedensmahnungen der neutralen Staaten zurückgewiesen haben, wird, sobald die neuen Kriegsrüstungen einigermassen vollendet sind, der grosse europäische Krieg mit erneuter Energie fortgesetzt werden. Es ist zweifellos, dass von beiden Gegnern jetzt die letzten und grössten Kraftanstrengungen gemacht werden, um den Krieg mit Waffengewalt baldigst zu ihren Gunsten zur Entscheidung zu bringen. Bei dem, was hier für die Kriegführenden auf dem Spiel steht, darf der billig und nüchtern Denkende es keinem von ihnen und ganz besonders demjenigen, der sich durch den bisherigen Verlauf des Krieges in ungünstigerer Lage befindet, verdenken, wenn er sich durch Verträge und andere Rücksichtnahme auf den kleinen neutralen Nachbar nicht hindern lässt, alles zu tun, was ihm zur Erlangung des Sieges dienlich erscheint.
Dies empfindet bei uns jedermann; allgemein im Lande ist die Überzeugung verbreitet, dass die grösste Gefahr für uns, in den Krieg hineingezogen zu werden, jetzt in der Luft liegt. Dies richtige Empfinden unseres Volkes ist noch gesteigert durch die systematischen Treibereien aus Frankreich, die uns und das französische Volk glauben machen wollen, ein deutscher Einbruch in die Schweiz sei nahe bevorstehend.
Ich persönlich zweifle sehr daran, dass einer unserer drei Nachbarn, die alleine hier in Betracht kommen können: Frankreich, Italien und Deutschland, einen Durchmarsch durch die Schweiz planen. Denn die eigene Vernunft kann und muss der Armeeleitung der Entente sagen, dass die Chancen für Erreichung ihres Zweckes: Wendung des Kriegsglücks zu ihren Gunsten, sehr unsichere sind, und dass, wenn sie den Zweck nicht erreichen, das misslungene Unternehmen ihre Lage dem Gegner gegenüber so verschlimmern wird, dass sie sich davon gar nicht wieder erholen wird. Und da Deutschland noch andere Kriegsschauplätze als nur die Westfront zur Herbeiführung der Entscheidung des Krieges zur Verfügung stehen, hat es gar keinen Grund, das Odium auf sich zu laden, auch noch den zweiten kleinen, neutralen Staat an seiner Grenze für Erreichung seines Kriegszwecks vergewaltigt zu haben.
Aber wenn es mir auch sehr schwer wird, daran zu glauben, dass einer unserer Nachbarn den Durchmarsch durch unser Land, um seinem Gegner in die Flanke zu gelangen, plant, so darf ich doch nicht die Möglichkeit leugnen. Denn wenn die Entente durch Aufnehmen der Offensive einen entscheidenden Schlag gegen Deutschland führen will, so bleibt ihr nach den erfolglosen Versuchen in der Somme schlacht, die Schützengrabenlinie der Deutschen zu durchbrechen, gar nichts anderes übrig als der Versuch, durch Umgehung der feindlichen Front durch Holland oder durch die Schweiz nach Deutschland zu gelangen. Der Umgehung durch die Schweiz stehen aber nicht die gleichen Schwierigkeiten entgegen wie der Umgehung durch Holland. Aber auch bei der deutschen Heeresleitung kann der Gedanke entstehen, dass ein entscheidender Schlag in Frankreich gegen die vereinigten Heere von Frankreich und England den Krieg rascher beendet als Siege auf ändern Kriegsschauplätzen und dass man, sowie man zu dieser Überzeugung gekommen und der Weg durch die Schweiz das geeignetste Mittel ist, sich durch keine Bedenken hindern lassen darf, diesen Weg zu wählen.
Erstes Erfordernis, damit solcher Plan zum Ziel führt, ist, dass der Marsch durch die Schweiz keine Hindernisse findet, die ihn verzögern.
Das hierfür Nächstliegende und auch Zweckmässigste ist, dass man vorher die Schweiz auf seine Seite bringt; dadurch erhält man überdies einen namhaften Kräftezuwachs und braucht seine rückwärtigen Verbindungen nicht besonders zu sichern. Ich hoffe, dass allbereits beide Gegner zur Erkenntnis gekommen sind, dass wir weder durch Liebenswürdigkeiten noch durch Drangsalieren aus unserer unbefangenen Neutralität herauszubringen sind und dass daher gar nicht daran gedacht werden kann, freien Durchpass durch unser Land zu verlangen.
Der Invasor (sic!) muss daher in Aussicht nehmen, dass wir gewillt sind, seiner Absicht Widerstand entgegenzusetzen. Dieser Widerstand wird um so wirkungsvoller, je vollkommener wir dazu bereitstehen.
Es ist daher selbstverständlich, dass der Invasor sich zuerst die Frage vorlegt, ob es möglich ist, durch einen Überfall die Schweiz wehrlos zu machen. Bei den geringen Entfernungen von der Grenze bis ins Herz unseres Landes kann mit Hilfe der zahlreichen Automobile, die unsere Nachbararmeen besitzen, und mit gepanzerten und auch ändern Eisenbahnzügen gleich eine so grosse Truppenzahl in unser Land geworfen werden, dass wir an gar keinen Widerstand denken können, sondern uns auf Gnade und Ungnade ergeben müssen, sofern die fertig mobilisierte Armee nicht schon aufmarschiert ist.
Es muss daher als sicher angenommen werden, dass der Einmarsch in die Schweiz mit einem derartigen Überfall beginnt, dem die übrigen Kolonnen der Einmarsch-Armee auf dem Fuss folgen, so dass jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, sich von dem durch den Überfall herbeigeführten Zustand wieder zu erholen.
Wir sind gegenwärtig gegen einen solchen Überfall vollständig wehrlos. Die wenigen jetzt im Dienst stehenden Truppen, die überdies durch zahlreiche Beurlaubungen und Dispensationen und durch Abkommandierungen in Schulen und Kurse in ihren Beständen sehr reduziert sind, genügen eben noch als Art Polizeitruppe zum Schutz der Grenze gegen Überschreitungen dort, wo sich die Gegner gegenüberstehen. Selbst wenn sie numerisch genügend stark wären, um einem Gegner, der vom Waadt länder Jura aus oder umgekehrt vom Rhein bei Schaffhausen vorgeht, Halt zu gebieten, der die Mobilisierung unserer übrigen Truppen verunmöglichen und sich unserer Hauptwaffenplätze bemächtigen will, so kämen wir mit ihnen zu spät; der uns überfallende Invasor ist mit starken Kräften schon im Land und hat seine Absicht schon ausgeführt, bevor wir diese Truppen gesammelt haben und mit ihnen zur Stelle sein können. Im übrigen dürften wir auch die Grenze nicht von den wenigen Truppen, die wir dort haben, entblössen.
Ebenso wie wir uns ehrlich zugestehen müssen, dass wir gegenwärtig vollständig wehrlos sind, wenn in unser Land einmarschiert wird, und dies, wie als selbstverständlich angenommen werden kann, mit einem Überfall beginnt, dürfen wir uns auch nicht der folgenschweren Illusion hingeben, halbe Massregeln genügten dagegen. Eine solche halbe Massregel wäre, dass wir zu den anderthalb Divisionen, die wir jetzt unter den Waffen haben, nochmals soviel aufbieten, um den einbrechenden Feind aufzuhalten, zur Deckung der Waffenplätze, auf denen wir mobilisieren, und zur Deckung des Abtransportes der Truppen in den Aufmarschraum. Diese Truppenzahl ist dafür absolut ungenügend; dieselbe dem Feind, der den Durchmarsch durch die Schweiz gar nicht unternimmt, wenn er nicht eine Armee von mehreren hunderttausend Mann dafür bestimmen kann, entgegenzuwerfen, um dahinter die Mobilisation der Armee und den Aufmarsch bewerkstelligen zu können, wäre gar nichts anderes als das gänzlich zwecklose Opfern des Lebens vieler Bürger. Auch wenn wir dank dieser Aufopferung eines Teiles unserer Armee den Rest ungehindert mobilisieren und in den Aufmarschraum bringen könnten, würde uns die Aufopferung dieser an und für sich kleinen, aber für unsere Armeestärke sehr beträchtlichen Teiles unserer Kräfte zu einer Quantité négligeable im weiteren Kriegsverlauf machen. Unsere Armee ist zu klein, um auch nur einen bescheidenen Teil opfern zu dürfen.
Zu einer ebenfalls verderblichen, unseren Untergang herbeiführenden halben Massregel würde es führen, wenn wir glauben, wir kämen mit der Mobilisierung der Armee noch früh genug, wenn wir sie erst anordnen, wenn die gewitterschweren Wolken sich unheildrohend zusammenballen. Ganz abgesehen davon, dass man bei solcher Denkweise immer zu lange wartet, kommen wir überhaupt mit der Mobilisierung und dem Aufmarsch zu spät, wenn wir zuwarten, bis die Gefahr vor der Türe steht.
Es ist eine Binsenwahrheit, dass in allen Teilen fertig mobilisiert und aufmarschiert das erste Erfordernis ist, um zuversichtlich dem Feinde entgegentreten zu können. Wenn wir mit unserer Miliz einen kriegsgewohnten Feind bekämpfen sollen, so bedarf es fester männlicher Entschlossenheit beim obersten Führer wie beim letzten Füsilier; diese Entschlossenheit steht auf einem schlechten Fundament, wenn jedermann weiss oder auch nur empfindet, dass es noch überall fehlt an dem Fertigsein für den Krieg.
Wenn wir jetzt mit dem Gedanken, dass es diesmal ernst gelten kann, mobilisieren, so verlangt das Fertigsein für den Krieg noch viel mehr Arbeit und Zeit, als wir 1914 auf die Mobilisierung verwendeten. Damals mussten wir in vielen Teilen sehr unfertig ins Aufmarschgebiet abmarschieren, weil uns der Kriegsausbruch mitten in der Umgestaltung der Armee überraschte und wir daher nicht in allen Teilen fertig sein konnten. Jetzt hat man das meiste, was damals fehlte, nachgeholt, und viele Neuerungen und Verbesserungen sind hinzugekommen, die den Kriegswert der Armee in hohem Grade vermehren. Jetzt können wir fertig mobilisiert ins Feld ziehen; aber damit wir wirklich kriegsfertig einem Feind entgegentreten, brauchen wir heute mehr Zeit zur Mobilisierung und zur Fertigstellung, wenn sichergestellt werden soll, dass die Neuerungen und Verbesserungen ihren Nutzen haben.
Auch die während des Ablösungsdienstes genommenen Rücksichten auf das wirtschaftliche Leben unseres Volkes werden die diesmalige Mobilisierung für den Krieg komplizieren, erschweren und verlangsamen.
Aus dem hier Dargelegten ergibt sich, dass wir, wenn die Möglichkeit nicht geleugnet werden kann, einer feindlichen Invasion vielleicht im Frühling schon entgegentreten zu müssen, auf diese Eventualität hin unsere ganze Armee, und zwar jetzt gleich, aufbieten müssen.
Das jetzt gleich ist auch noch geboten durch das Interniertenwesen. Dasselbe beansprucht eine sehr grosse Anzahl Offiziere und auch Unteroffiziere und Mannschaften, die zum grössten Teil der Armee entnommen sind. Diese müssen, sowie die Armee für Landesgefahr mobilisiert wird, sofort auf ihre Posten in der Armee zurückkehren und im Interniertenwesen durch Offiziere und Mannschaft des Territorialdienstes ersetzt werden. Man kann gar nicht an die furchtbaren Folgen denken, die es haben müsste, wenn der Wechsel erst vorgenommen wird, wenn der Feind schon vor der Türe steht und vielleicht sogar schon die Türe eingedrückt hat.
Die Entscheidung über Krieg und Frieden ist nicht Sache des Generals, sondern des Bundesrats; deswegen steht ihm auch die Entscheidung darüber zu, ob wir uns für die Möglichkeit einrichten müssen, dass der eine oder andere unserer kriegführenden Nachbarn den Weg durch unser Land wählt, um um dessen unbezwingliche Front herum in die Flanke seines Feindes zu gelangen, oder ob das nicht befürchtet zu werden braucht.
Ist der Bundesrat der Ansicht, dass man sich auf diese Möglichkeit einrichten muss, so bitte ich unter Verweisung auf das im Vorstehenden Dargelegte und unter Hinweis auf Artikel 208 und 210 M.O.um das beförderliche Aufbieten der ganzen Armee.
Im weitern erlaube ich mir vorzuschlagen, dass beiden Parteien gleichlautend hiervon Mitteilung gemacht und ihnen erklärt wird, dass wir uns als im Kriegszustand mit demjenigen betrachten werden, der unsere Grenze überschreitet, und dass, wenn beide Gegner unaufgefordert von uns in unser Land einmarschieren, wir uns die freie Wahl Vorbehalten, welchen wir als Feind betrachten und welchen wir als Freund und Alliierten annehmen wollen.
Die Aufbietung der ganzen Armee ist in Verbindung mit der angeregten Erklärung an die kriegführenden Nachbarn das geeignetste Mittel, um der Kriegsgefahr vorzubeugen, deren Möglichkeit sonst von mir nicht geleugnet werden kann und die einen gewaltigen Anreiz findet in unserer gegenwärtigen gänzlich ungenügenden Kriegsbereitschaft und in unserer Unmöglichkeit, diese Kriegsbereitschaft noch rechtzeitig herzustellen, wenn der Einmarsch in unser Land mit einem Überfall eingeleitet wird.
Das sind Dinge, die unsere Nachbarn ganz genau wissen; es wäre eine Selbsttäuschung mehr, wenn wir annehmen und unsere Pläne darauf bauen wollten, dass sie nur unklare Vorstellungen davon haben. Deswegen liegt auch in der jetzigen Verfassung unserer Landesverteidigung ein gewünschter Vorwand dazu für denjenigen, der in unser Land einmarschieren will.
Wenn man die Möglichkeit vor Augen hat, dass jemand, um sich aus schwieriger Situation zu retten, etwas Böses tun möchte, vor dem ihn sein eigener Verstand warnt, so darf man ihm weder Anreiz dazu noch Vorwand gewähren.
Bei der Entscheidung der vorgelegten Frage darf nur massgebend sein, wie man über die militärpolitische Lage denkt und wie weit man glaubt, dass sich die Mächte durch die uns wiederholt so überaus warm ausgesprochenen Freundschaftsversicherungen etc. gebunden erachten. Je grösser das Zutrauen berechtigt ist, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, während im gleichen Mass, wie man immer mehr zu Zweifeln berechtigt wird, die Wahrscheinlichkeit zunimmt.
Bei der Entscheidung darf aber auch nicht ausser Augen gelassen werden, dass, wenn jetzt endlich die Landesgefahr kommt, für die wir uns seit 2 Vi Jahren bereithalten, für die wir Befestigungen bauen, Millionen über Millionen für Ergänzung und Vervollkommnung des Kriegsmaterials ausgeben und unser Volk durch längere Präsenzzeit, als ihm zusagt, unter den Fahnen behalten und durch das Fordern einer ernsteren Dienstauffassung und Erfüllung als sonst gebräuchlich war, in schlechte Laune versetzen, und wenn diese Landesgefahr jetzt unser Land wehrlos findet, dann gar nichts zu unserer Entschuldigung gesagt werden kann. Unser souveränes Volk wird den Hinweis auf die Tatsache, dass ihm die Präsenzzeit unter Fanne wirtschaftliche Schäden bringt und dem Land schwer zu tragende finanzielle Lasten auferlegt, und dass man daher glaubte, man müsse darauf Rücksicht nehmen, solange keine Sicherheit der Gefahr vorhanden, niemals als Entschuldigung annehmen, und ganz gleich werden wir vor der Nachwelt gerichtet sein.
Obgleich ich die Wahrscheinlichkeit, dass der eine oder andere unserer kriegführenden Nachbarn durch unser Land durchmarschieren will, wie gesagt für sehr gering achte, kann ich doch die Möglichkeit nicht leugnen und bin daher der Ansicht, dass wir auf diese Eventualität hin unsere ganze Armee sofort mobilisieren müssen, ganz gleich wie dies bei Kriegsbeginn 1914 geschah, obgleich damals alle kriegführenden Staaten uns die Respektierung unserer Neutralität zusicherten. Die Gefahr erachte ich jetzt grösser als damals, denn die jetzige Furcht vor einer feindlichen Durchmarschabsicht durch unser Land ist nicht in unsern Köpfen entstanden, sondern ist aus jenen Ländern, gegen deren böse Absicht wir uns wappnen müssen, durch Beschuldigung ihres Feindes hervorgerufen worden und wird aus denselben beständig weitergeschürt, und dabei hat sich auch die Militärleitung beteiligt. Solche einstweilen noch gänzlich aus der Luft gegriffene Anschuldigungen gegen den Gegner spricht keiner aus, der wenigstens nicht schon darüber nachgedacht hat, ob ihm nicht gleiches Handeln Vorteil bringt, und dem seine Warnungen, wenn sie gänzlich unbeachtet bleiben, einen berechtigten Vorwand liefern, zu seiner eigenen Sicherheit in unser Land einzumarschieren.
Wie weit die bisherigen Versicherungen unserer Nachbarn oder erneut verlangte Versicherungen genügen, um fernerhin in unserem gegenwärtigen Zustand der Wehrlosigkeit gegen einen Überfall zu verharren, hat der Hohe Bundesrat zu entscheiden: nach meiner Meinung genügen sie nicht.
Sollte der Entscheid aber dahin lauten, dass wir uns auf die Eventualität nicht zu rüsten brauchen, dann sind auch all die Materialanschaffungen und alles andere, das wir beständig für Vermehrung unsere Wehrkraft tun, für diesen Krieg unnütz.
Indem ich das Vorstehende dem Hohen Bundesrat unterbreite, erkläre ich meine Bereitwilligkeit zu weiterer mündlicher Auskunft und Besprechung2.